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NWB Nr. 35 vom Seite 2580

Vollverzinsung mit Zinssatz von 6 % verfassungswidrig

Konsequenzen für den Gesetzgeber und die Praxis

Michael Baum

[i]BVerfG, Beschluss v. 8.7.2021 - 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17, NWB TAAAH-87096 Das BVerfG hat mit seinem am veröffentlichen Beschluss v.  - 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17 ( NWB TAAAH-87096) die sog. Vollverzinsung nach § 233a AO dem Grunde nach als verfassungsgemäß bestätigt. Es hat aber zugleich beanstandet, dass der Gesetzgeber den dabei angewendeten festen Zinssatz nach § 238 Abs. 1 Satz 1 AO von 0,5 % je vollem Zinsmonat jedenfalls seit 2014 hätte anpassen müssen. Allerdings darf dieser Zinssatz für Verzinsungszeiträume bis weiter angewandt werden. Der Gesetzgeber muss nun für Verzinsungszeiträume [i]Kanzler, NWB 34/2021 S. 2500, NWB KAAAH-87488 ab zeitnah eine verfassungsgemäße Neuregelung treffen. Bis dahin dürfen insoweit keine Zinsen nach § 233a AO mehr festgesetzt oder erhoben werden.

I. Bisherige Rechtslage

[i]Ronig, Zinsen auf Steuern, infoCenter, NWB JAAAA-88464 Der mit dem Steuerreformgesetz 1990 v.  (BGBl 1988 I S. 1093) eingeführte § 233a AO regelt die Verzinsung bestimmter Steuernachforderungen und Steuererstattungen (sog. Vollverzinsung). Sie gilt nur für die (Jahres-)Festsetzung der Einkommen-, Körperschaft-, Vermögen-, Umsatz- und Gewerbesteuer (§ 233a Abs. 1 Satz 1 AO), das sind die sog. Veranlagungssteuern.

[i]Zinslauf der VollverzinsungDie Vollverzinsung betrifft zwar den Zeitraum zwischen der Entstehung der Steuer und ihrer Festsetzung. Der Zinslauf beginnt aber nicht bereits mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, sondern erst nach einer zinsfreien Karenzzeit von mindestens 15 Monaten (§ 233a Abs. 2 Satz 1 und 2 AO).

[i]Unterschiedsbetrag als BemessungsgrundlageMaßgebend für die Zinsberechnung ist nach § 233a Abs. 3 Satz 1 AO die festgesetzte Steuer, vermindert um die gesetzlich bestimmten Abzugsbeträge (sog. Unterschiedsbetrag). Bei Unterschiedsbeträgen zuungunsten des Steuerpflichtigen gilt das Prinzip der Soll-Verzinsung, bei Unterschiedsbeträgen zugunsten des Steuerpflichtigen dagegen das Prinzip der Ist-Verzinsung (§ 233a Abs. 3 Satz 3 AO). In Änderungsfällen ist keine Gesamtaufrollung der Zinsfestsetzung vorzunehmen, sondern das besondere Verfahren nach § 233a Abs. 5 AO zu beachten.

[i]Andere ZinsartenDaneben kennt die AO noch (und schon lange vor Einführung der Vollverzinsung) Stundungszinsen (§ 234 AO), Hinterziehungszinsen (§ 235 AO), Prozesszinsen (§ 236 AO) und Aussetzungszinsen (§ 237 AO). Außerdem enthalten die Einzelsteuergesetze und andere Normen Verzinsungstatbestände, bei denen die Regelungen der §§ 238 und 239 AO unmittelbar oder zumindest entsprechend gelten.

[i]Fester ZinssatzAlle vorgenannten Zinsen betragen nach § 238 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO 0,5 % für jeden vollen Monat (Zinsmonat) des Zinslaufs. Die in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO geregelte Zinshöhe ist seit der Einführung der Vorgängerregelung (§ 5 Steuersäumnisgesetz) durch das S. 2581Steueränderungsgesetz 1961 (BGBl 1961 I S. 981) unverändert geblieben. Der Gesetzgeber hat bei Ablösung der RAO durch die AO 1977 und auch bei Einführung der Vollverzinsung, letztlich aber bis heute an diesem festen Zinssatz festgehalten.

II. Verwaltungsregelungen vor der BVerfG-Entscheidung

[i]AdV von Zinsbescheiden für Verzinsungszeiträume ab 1.1.2012Mit (BStBl 2018 I S. 1393), geändert durch das (BStBl 2019 I S. 1266), war angewiesen worden, im Einspruchsverfahren auf Antrag die Vollziehung aller Zinsen, in denen § 238 Abs. 1 Satz 1 AO angewendet wurde, für Verzinsungszeiträume ab auszusetzen.

[i]Vorläufige Festsetzung von Zinsen seit Mai 2019Mit (BStBl 2019 I S. 448) war zudem angeordnet worden, alle seitdem ergehenden Zinsfestsetzungen, in denen § 238 Abs. 1 Satz 1 AO angewendet wurde, im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO („anhängiges Musterverfahren“) vorläufig zu erlassen (s. dazu Lindwurm, NWB 3/2019 S. 80; Bergan/Martin, NWB 30/2019 S. 2230).

[i]Aufkommen der Vollverzinsung stark rückläufigVor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass das kassenmäßige Aufkommen der Vollverzinsung bei Bund und Ländern seit 2018 dramatisch eingebrochen ist (vgl. BT-Drucks. 19/18372, Antwort zu Frage 1 [= Zinsaufkommen 2010 bis 2017] und BT-Drucks. 19/29195, Anlage zur Antwort zu Frage 23 [= Zinsaufkommen 2017 bis 2020]).