BBK Nr. 17 vom Seite 801

Der Fiskus kommt mit einem blauen Auge davon ? Das Bundesverfassungsgericht kippt § 238 AO

Bernd Rätke | VRiFG Berlin-Brandenburg, BBK-Herausgeber

Das [i]BVerfG, Beschluss v. 8.7.2021 - 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17 NWB TAAAH-87096 Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat endlich die lang erwartete Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes von 6 % auf Steuernachzahlungen und Steuererstattungen gefällt. Das Ergebnis klingt zunächst danach, als sei es im Interesse der Steuerpflichtigen, tatsächlich fällt es aber weitgehend zugunsten des Fiskus aus:

  • Der Zinssatz von 6 % ist für Verzinsungszeiträume bis (noch) verfassungsgemäß.

  • Für [i]Entscheidung des BVerfG begünstigt eher den FiskusVerzinsungszeiträume vom bis ist der Zinssatz zwar verfassungswidrig, er ist aber aus Gründen des Bundeshaushalts weiterhin anzuwenden.

  • Für Verzinsungszeiträume ab dem darf der Zinssatz von 6 % nicht mehr angewendet werden, sondern der Gesetzgeber muss bis zum einen neuen Zinssatz beschließen.

Ein [i]Zinsfestsetzungen sind verfahrensrechtlich komplexSieg für die Steuerzahler kann also allenfalls für Verzinsungszeiträume ab eintreten. Allerdings setzt dies im konkreten Fall voraus, dass die Zinsfestsetzung entweder noch nicht erfolgt ist oder aber nicht bestandskräftig ist, weil sie mit einem Vorläufigkeitsvermerk versehen worden ist oder der Steuerpflichtige Einspruch eingelegt hat.

In [i]Tiede, Einspruch gegen Zinsfestsetzungen in einem Sammelbescheid – Praxistypische Fallkonstellationen mit Formulierungsbeispielen, BBK 10/2019 S. 459 NWB OAAAH-13044 den letzten Jahren haben die Steuerberater viel Zeit in das Studium der zahlreichen BFH-Entscheidungen und BMF-Schreiben zur Zinsproblematik sowie in die Einlegung eines fristgerechten Einspruchs gegen die Zinsfestsetzung investieren müssen. Dabei waren die Berater nicht nur gegenüber den Finanzämtern gefordert, sondern auch gegenüber den Gemeinden, die in den Flächenstaaten die Gewerbesteuer- und die Zinsbescheide dazu erlassen.

Dieser erhebliche Aufwand hätte reduziert werden können, wenn das BVerfG schneller entschieden hätte – eines der beiden Verfahren war immerhin sieben Jahre lang anhängig – oder wenn der Gesetzgeber zwischenzeitlich reagiert und den Zinssatz herabgesetzt hätte. Denn angesichts der Entstehung von Negativ- oder Strafzinsen im Bankbereich war zu erwarten, dass der Zinssatz von 6 % nicht zu halten sein würde.

Natürlich [i]Anwendung verfassungswidrigen Rechtsist mit dem Beschluss des BVerfG das Zinsthema nicht abgeschlossen: Denn zunächst einmal muss den Mandanten nun klargemacht werden, dass der Zinssatz für die Verzinsungszeiträume 2014 bis 2018 zwar „offiziell“ verfassungswidrig ist, aber dennoch angewendet werden kann, um den Bundeshaushalt nicht zu sehr zu belasten. Hier sind die rhetorischen, aber auch dialektischen Fähigkeiten des Steuerberaters gefragt, und zwar spätestens dann, wenn er seine Leistungen abrechnet, z. B. die Einspruchseinlegung. S. 802

Weiterhin [i]L´habitant, Vertrauensschutz bei vorläufiger Festsetzung von Erstattungszinsen? – Finanzverwaltung hält Änderung zulasten des Steuerpflichtigen für möglich, NWB 31/2019 S. 2283 NWB SAAAH-23062 bleibt unklar, was mit den Erstattungszinsen geschehen wird: Auch diese sind – ab – verfassungswidrig, da sie zu hoch sind. Wird die Finanzverwaltung versuchen, die Zinsfestsetzungen zuungunsten der Steuerpflichtigen zu ändern, in denen für Verzinsungszeiträume ab dem Erstattungszinsen festgesetzt worden sind? Falls ja, sind die Steuerberater wieder gefordert und werden gegen eine Änderung die „Vertrauensschutzkarte“ des § 176 Abs. 1 Nr. 1 AO ziehen müssen, die an sich vor einer nachteiligen Änderung schützt. Streit und Aufwand wären vorprogrammiert.

Schließlich sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass die Verfassungswidrigkeit des Zinssatzes im § 238 AO nur der erste Schritt in einer Reihe weiterer Rechtsfragen gewesen sein dürfte, in denen es um Zinssätze geht. Beispielhaft erwähnt seien neben den Stundungs-, Aussetzungs- und Hinterziehungszinsen der §§ 234, 235 und 237 AO die bilanziellen Abzinsungszinssätze für unverzinsliche Verbindlichkeiten (§ 6 Abs. 1 Nr. 3 EStG: 5,5 %), Rückstellungen (§ 6 Abs. 1 Nr. 3a Buchst. e EStG: 5,5 %) oder Pensionsrückstellungen (§ 6a Abs. 3 Satz 3 EStG: 6 %) sowie die bewertungsrechtlichen Zinssätze (§ 12 Abs. 3 BewG: 5,5 %).

Der [i]Umfassende dynamische Zinssatzregelung wäre zu begrüßenGesetzgeber hat das Thema „Zinssatz“ nun jahrelang ausgesessen und auch Anträge von Bundestagsfraktionen auf Anpassung des Zinssatzes abgelehnt, so etwa den Antrag der FDP-Fraktion vom , nachzulesen in BT-Drucks. 19/10158. Nun ist es aber an der Zeit für einen gesetzgeberischen Rundumschlag, Zinssätze auch über die AO-Regelungen hinaus verfassungskonform anzupassen.

Im Hinblick auf die Ungewissheit der künftigen Zinsentwicklung und insbesondere einer möglichen Inflation dürfte die Einführung eines dynamischen Marktzinssatzes wie in § 253 Abs. 2 Satz 4 HGB sinnvoll sein, der von der Deutschen Bundesbank nach Maßgabe einer Rechtsverordnung ermittelt und jährlich (statt monatlich wie in § 253 Abs. 2 Satz 4 HGB) bekannt gegeben wird. Dies ließe den Steuerpflichtigen, ihren Beratern und der Finanzverwaltung mehr Zeit für ein wichtiges Thema, das auch nicht gerade einfach ist: das materielle Steuerrecht.

Mit besten Grüßen

Bernd Rätke

Fundstelle(n):
BBK 2021 Seite 801 - 802
TAAAH-87793