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WP Praxis Nr. 10 vom Seite 298

Mehr als ein Sehtest?

Abschlussprüfung am Pranger

Roger Odenthal

Die Wirecard-Insolvenz offenbart ein desaströses Versagen namhafter Abschlussprüfer, weiterer Kontrollstellen und der staatlichen Finanzaufsicht. Trotz aller Regularien hat offenbar keine der hier involvierten Prüfungsorgane ihre Tätigkeit an bewährten Grundsätzen guter und wirkungsvoller Revisionspraxis ausgerichtet. Was, so fragen sich die geschädigten Anleger, sind uneingeschränkte Testate von Wirtschaftsprüfern oder begleitende Audits der BaFin tatsächlich wert, wenn sie Bilanzfälschungen eines Dax-Konzerns in einem unfassbaren Ausmaß trotz zahlreicher Hinweise in der Presse keine gebührende Aufmerksamkeit zuwenden?

Weber/Lentfert, Unregelmäßigkeiten im Rahmen der Abschussprüfung, infoCenter NWB RAAAE-14264

Kernaussagen
  • Der Hinweis auf „kriminelle Energie“ dient Revisionsstellen oft nur als Feigenblatt, welches unzureichende Prüfungsleistungen verbergen soll.

  • Großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften dient die marginalisierte Abschlussprüfung lediglich als Türöffner für renditeträchtigere Beratungsaufträge.

  • Das Bewusstsein für anspruchsvolle Prüfungsleistungen schwindet stetig und begünstigt den Einsatz wenig prüfungserfahrener Assistenten bei komplexen Bilanzierungssachverhalten.

I. Hinter dem Ereignishorizont

Die Tätigkeit prüfender Berufe ist regelmäßig mit außerordentlichen Freiheiten verbunden. Sowohl die Auswahl der Prüffelder als auch die Bestimmung hierfür geeigneter Prüfungstechniken und die Intensität von deren Anwendung obliegen weitgehend prüferischem Ermessen. Gleiches gilt für die Einordnung und Beurteilung resultierender Prüfungsergebnisse. Die hiermit verbundenen Prinzipien der Handlungs- und Urteilsautonomie, wie sie in vergleichbarer Form wahrscheinlich nur noch dem Richteramt zu eigen sind, sollten sich im Gegenzug auf eine wirkungsvolle Verantwortungsethik stützen, welche die aufgeführten Privilegien rechtfertigt.

Wer hingegen in den letzten Tagen mit Blick auf die Prüfung von Wirecard-Bilanzen nach Parallelen sucht, dürfte eher im Umfeld der Astrophysik fündig werden. Schließlich expandieren sowohl bei den Naturwissenschaftlern als auch EY-Abschlussprüfern die jeweiligen Beobachtungsobjekte Universum respektive Bilanz auf der Grundlage „dunkler“ Materie, zu deren Herkunft und Substanz lediglich sehr vage Vermutungen existieren. Das Expansionsgeschehen wird dabei wahlweise von „dunkler“ oder „krimineller“ Energie gesteuert, über die ebenfalls nur spekuliert werden kann. Möglicherweise enden hier aber bereits die Gemeinsamkeiten. Schließlich entdeckt die Physik (wenn auch mit großem Aufwand) hin und wieder ein neues Teilchen, während aus dem Zahlungsmittelbestand der testierten Wirecard-Bilanz annähernd 2 Mrd. € weitgehend ohne Substanz in einem schwarzen Loch verschwanden, welches für die hiervon betroffenen Aktionäre lediglich noch ein wenig Hintergrundstrahlung emittiert.

Letztere reiben sich verwundert die Augen. Schließlich haben sie im Vertrauen auf Testate und Aktivitäten der Abschlussprüfer, steuerlicher Betriebsprüfer, der BaFin sowie der als Bilanzpolizei titulierten Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) teure Unternehmensanteile erworben, die sich nun als völlig wertlos erweisen. Die berechtigten Fragen nach einer hiermit verbundenen Verantwortung bleiben allerdings ebenso unbeantwortet wie die nach konkreten Prüfungsinhalten, -ergebnissen und -einschätzungen. Kaum eine Reaktion, weder von den zuständigen EY-Abschlussprüfern noch von den staatlichen Aufsichtsorganen, die über ein beredetes Schweigen hinausreicht.

Da sich aktuell weder die Presse noch ein Cicero mit den moralischen Aspekten dieses bemerkenswerten Missbrauchs von Geduld auseinandersetzen, beschränken sich unsere folgenden Betrachtungen ebenfalls auf einige praktische Gesichtspunkte der Prüfungsdurchführung.