Grundsatz der steuerlichen Neutralität – Recht auf Vorsteuerabzug – In den nationalen Rechtsvorschriften zur Ausübung dieses Rechts vorgesehene Frist – Abzug einer zusätzlichen Mehrwertsteuer, die infolge einer Nacherhebung an den Staat gezahlt und in Dokumenten zur Berichtigung der ursprünglichen Rechnungen ausgewiesen wurde – Zeitpunkt des Fristbeginns
Leitsatz
Die Art. 63, 167, 168, 178 bis 180, 182 und 219 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und der Grundsatz der steuerlichen Neutralität sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, aufgrund deren unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen infolge einer steuerlichen Nacherhebung eine zusätzliche Mehrwertsteuer an den Staat gezahlt und mehrere Jahre nach der Lieferung der betreffenden Gegenstände in Dokumenten zur Berichtigung der ursprünglichen Rechnungen ausgewiesen wurde, das Recht auf Vorsteuerabzug mit der Begründung verweigert wird, dass die in dieser Regelung vorgesehene Frist für die Ausübung dieses Rechts zum Zeitpunkt der Ausstellung der ursprünglichen Rechnungen zu laufen begonnen habe und abgelaufen sei.
Instanzenzug:
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 63, 167, 168, 178 bis 180, 182 und 219 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) und des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Biosafe – Indústria de Reciclagens SA (im Folgenden: Biosafe) und der Flexipiso – Pavimentos SA (im Folgenden: Flexipiso) wegen der Weigerung von Flexipiso, Biosafe eine zusätzliche Mehrwertsteuer zu erstatten, die diese infolge einer Nacherhebung entrichtet hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.“
4 Titel X dieser Richtlinie betrifft den Vorsteuerabzug und enthält ein Kapitel 1 („Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug“), das die Art. 167 bis 172 umfasst. Art. 167 bestimmt:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“
5 Art. 168 der Richtlinie lautet:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;
…“
6 Titel X Kapitel 4 („Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug“) umfasst die Art. 178 bis 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie. In Art. 178 dieser Richtlinie heißt es:
„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:
a) für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferungen von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß den Artikeln 220 bis 236 sowie 238, 239 und 240 ausgestellte Rechnung besitzen;
…“
7 Art. 179 der Richtlinie sieht vor:
„Der Vorsteuerabzug wird vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Steuerzeitraum schuldet, den Betrag der Mehrwertsteuer absetzt, für die während des gleichen Steuerzeitraums das Abzugsrecht entstanden ist und gemäß Artikel 178 ausgeübt wird.
…“
8 Art. 180 der Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können einem Steuerpflichtigen gestatten, einen Vorsteuerabzug vorzunehmen, der nicht gemäß den Artikeln 178 und 179 vorgenommen wurde.“
9 Gemäß Art. 182 der Richtlinie „[legen d]ie Mitgliedstaaten … die Bedingungen und Einzelheiten für die Anwendung der Artikel 180 und 181 fest“.
10 Art. 219 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Einer Rechnung gleichgestellt ist jedes Dokument und jede Mitteilung, das/die die ursprüngliche Rechnung ändert und spezifisch und eindeutig auf diese bezogen ist.“
Portugiesisches Recht
11 Der Código do Imposto sobre o Valor Acrescentado (Mehrwertsteuergesetzbuch) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: CIVA) bestimmt in Art. 7 („Steuertatbestand und Steueranspruch“):
„1. Unbeschadet der nachstehenden Absätze entstehen die Steuer und der Steueranspruch:
a) bei Übertragungen von Gegenständen zu dem Zeitpunkt, zu dem die Gegenstände dem Erwerber zur Verfügung gestellt werden.
…“
12 Art. 8 des CIVA sieht vor:
„1. Ungeachtet des vorstehenden Artikels entsteht der Steueranspruch, wenn bei einer Übertragung von Gegenständen oder Erbringung von Dienstleistungen gemäß Art. 29 die Ausstellung einer Rechnung oder eines gleichwertigen Dokuments vorgeschrieben ist:
a) wenn die für die Ausstellung der Rechnung oder des gleichwertigen Dokuments vorgesehene Frist eingehalten wurde, zum Zeitpunkt ihrer bzw. seiner Ausstellung.
…“
13 Art. 19 („Recht auf Vorsteuerabzug“) des CIVA sieht in Abs. 2 vor:
„Nur die in folgenden auf den Namen des Steuerpflichtigen ausgestellten und in seinem Besitz befindlichen Dokumenten ausgewiesene Steuer berechtigt zum Vorsteuerabzug:
a) auf Rechnungen oder gleichwertigen Dokumenten, die die gesetzlich vorgesehene Form aufweisen;
…“
14 Art. 22 Abs. 1 des CIVA lautet:
„Das Abzugsrecht entsteht zu dem Zeitpunkt, zu dem nach den Art. 7 und 8 der Anspruch auf die abzugsfähige Steuer entsteht, und wird durch Abzug der während eines Erklärungszeitraums abzugsfähigen Steuer vom Gesamtbetrag der für die steuerpflichtigen Umsätze des Steuerpflichtigen während dieses Erklärungszeitraums geschuldeten Steuer ausgeübt.“
15 Art. 29 Abs. 7 des CIVA bestimmt:
„Eine Rechnung oder ein gleichwertiges Dokument ist ferner auszustellen, wenn sich die Steuerbemessungsgrundlage eines Umsatzes oder die entsprechende Steuer aus irgendeinem Grund, einschließlich wegen Unrichtigkeit, ändert.“
16 Art. 36 Abs. 1 des CIVA sieht vor, dass die Rechnung oder das gleichwertige Dokument im Sinne von Art. 29 des CIVA spätestens am fünften Werktag nach dem Werktag, an dem die Steuer gemäß Art. 7 des CIVA entsteht, auszustellen ist. Im Fall von Zahlungen für eine noch nicht erfolgte Übertragung von Gegenständen oder Erbringung von Dienstleistungen entspricht das Datum der Ausstellung des als Nachweis dienenden Dokuments jedoch stets dem Datum des Empfangs des betreffenden Betrags.
17 Art. 37 Abs. 1 des CIVA lautet:
„Der Betrag der in Rechnung gestellten Steuer ist für die Zwecke ihrer Einforderung von den Erwerbern der Waren oder Nutzern der Dienstleistungen dem Betrag der Rechnung oder des gleichwertigen Dokuments hinzuzurechnen.“
18 Art. 79 Abs. 1 des CIVA bestimmt:
„Der Erwerber der steuerbaren Gegenstände oder Dienstleistungen, der ein Steuerpflichtiger im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a ist, als solcher handelt und nicht von der Steuer befreit ist, haftet gesamtschuldnerisch mit dem Lieferer oder Dienstleistungserbringer für die Zahlung der Steuer, wenn die Rechnung oder das gleichwertige Dokument, deren bzw. dessen Ausstellung nach Art. 29 vorgeschrieben ist, nicht erstellt wurde oder eine unrichtige Angabe hinsichtlich des Namens oder der Anschrift der beteiligten Parteien, der Art oder Menge der übertragenen Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen, des Preises oder des zu zahlenden Steuerbetrags enthält.“
19 Art. 98 Abs. 2 des CIVA lautet:
„Unbeschadet von Sondervorschriften kann das Recht auf Abzug oder Erstattung der zu viel gezahlten Steuer nur bis zum Ablauf von vier Jahren ab der Entstehung des Abzugsrechts bzw. der Zahlung der überschüssigen Steuer ausgeübt werden.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
20 Im Zeitraum von Februar 2008 bis Mai 2010 verkaufte Biosafe aus recycelten Reifen hergestelltes Gummigranulat im Gesamtwert von 664 538,77 Euro an das mehrwertsteuerpflichtige Unternehmen Flexipiso, wobei Biosafe einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 5 % anwandte.
21 Im Anschluss an eine Steuerprüfung im Jahr 2011 für die Steuerjahre 2008 bis 2010 stellte die portugiesische Steuerverwaltung fest, dass der normale Mehrwertsteuersatz von 21 % hätte angewandt werden müssen, und nahm Mehrwertsteuernacherhebungen in Höhe von insgesamt 100 906,50 Euro vor.
22 Biosafe entrichtete diesen Betrag und forderte seine Erstattung von Flexipiso im Wege von an diese gerichteten Zahlungsaufforderungen. Flexipiso verweigerte die Zahlung dieser zusätzlichen Mehrwertsteuer u. a. mit der Begründung, dass sie diesen Betrag nicht zum Abzug bringen könne, da die in Art. 98 Abs. 2 des CIVA vorgesehene Frist von vier Jahren für die bis zum bewirkten Umsätze vor Erhalt der Zahlungsaufforderungen am abgelaufen sei, und dass sie nicht die Folgen eines Fehlers zu tragen habe, für den nur Biosafe verantwortlich sei.
23 Im Anschluss an diese Weigerung erhob Biosafe gegen Flexipiso Klage auf Erstattung des Betrags, den Biosafe entrichtet hatte, zuzüglich Verzugszinsen. Diese Klage wurde vom erstinstanzlichen Gericht sowie vom Rechtsmittelgericht abgewiesen. Beide stellten fest, dass zwar eine Pflicht zur Überwälzung der Mehrwertsteuer bestehe, dass der Erwerber der Gegenstände diese Steuer aber nur zu zahlen habe, wenn die Rechnungen oder gleichwertigen Dokumente rechtzeitig genug ausgestellt worden seien, um ihm den Abzug dieser Steuer zu ermöglichen. Was die Zahlungsaufforderungen angehe, die Flexipiso mehr als vier Jahre nach Ausstellung der ursprünglichen Rechnungen erhalten habe, so könne Biosafe die damit verbundene Mehrwertsteuer nicht auf Flexipiso überwälzen, da Flexipiso die Vorsteuer nicht mehr abziehen könne und da feststehe, dass der Fehler bezüglich des anwendbaren Steuersatzes bei Biosafe liege.
24 Biosafe legte daher beim Rechtmittelgericht, dem Supremo Tribunal de Justiça (Oberstes Gericht, Portugal), Kassationsbeschwerde ein. Dieses Gericht hat Zweifel, ob die Art. 63, 167, 168, 178 bis 180 und 182 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie der Grundsatz der steuerlichen Neutralität nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, aus denen sich ergibt, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die Frist, innerhalb deren der Erwerber die zusätzliche Mehrwertsteuer zum Abzug bringen kann, ab der Ausstellung der ursprünglichen Rechnungen und nicht ab der Ausstellung oder dem Erhalt der berichtigenden Dokumente läuft. Außerdem stellt sich dem Gericht die Frage, ob der Erwerber unter solchen Umständen die Zahlung der zusätzlichen Mehrwertsteuer aufgrund der fehlenden Abzugsmöglichkeit verweigern kann.
25 Unter diesen Umständen hat das Supremo Tribunal de Justiça (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Stehen die Mehrwertsteuerrichtlinie und insbesondere ihre Art. 63, 167, 168, 178 bis 180, 182 und 219 sowie der Neutralitätsgrundsatz nationalen Rechtsvorschriften entgegen, nach denen in einem Fall, in dem eine beim mehrwertsteuerpflichtigen Veräußerer der Waren durchgeführte Steuerprüfung ergab, dass der Mehrwertsteuersatz, den er zum betreffenden Zeitpunkt angewandt hatte, niedriger war als der, den er hätte anwenden müssen, woraufhin er die zusätzliche Steuer an den Staat gezahlt hat und nun vom ebenfalls mehrwertsteuerpflichtigen Erwerber eine entsprechende Zahlung erhalten möchte, für diesen Erwerber die Frist für den Abzug der zusätzlichen Steuer ab der Ausstellung der ursprünglichen Rechnungen läuft und nicht ab der Ausstellung oder dem Erhalt der berichtigenden Dokumente?
Wird dies verneint, stehen dann diese Richtlinie und insbesondere diese Artikel sowie der Neutralitätsgrundsatz Rechtsvorschriften entgegen, aus denen sich ergibt, dass der Erwerber, wenn er im Anschluss an die Steuerprüfung und die Zahlung der zusätzlichen Steuer an den Staat erstellte Dokumente zur Berichtigung der ursprünglichen Rechnungen, mit denen die Zahlung dieser zusätzlichen Steuer begehrt wird, zu einem Zeitpunkt erhalten hat, zu dem die genannte Frist für die Ausübung des Abzugsrechts bereits abgelaufen war, die Zahlung verweigern kann, wobei davon ausgegangen wird, dass die Unmöglichkeit des Abzugs der zusätzlichen Steuer die Ablehnung der Überwälzung rechtfertigt?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
26 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 63, 167, 168, 178 bis 180, 182 und 219 der Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, aufgrund deren unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen infolge einer steuerlichen Nacherhebung eine zusätzliche Mehrwertsteuer an den Staat gezahlt und mehrere Jahre nach der Lieferung der betreffenden Gegenstände in Dokumenten zur Berichtigung der ursprünglichen Rechnungen ausgewiesen wurde, das Recht auf Vorsteuerabzug mit der Begründung verweigert wird, dass die in dieser Regelung vorgesehene Frist für die Ausübung dieses Rechts zum Zeitpunkt der Ausstellung der ursprünglichen Rechnungen zu laufen begonnen habe und abgelaufen sei.
27 Es ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die von ihnen auf einer vorausgehenden Umsatzstufe erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen als Vorsteuer geschuldet wird oder entrichtet wurde, ein Grundprinzip des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist (Urteil vom , Volkswagen, C-533/16, EU:C:2018:204, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Durch die Regelung des Vorsteuerabzugs soll der Unternehmer vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet auf diese Weise die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten selbst grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteil vom , Volkswagen, C-533/16, EU:C:2018:204, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Wie der Gerichtshof wiederholt hervorgehoben hat, ist das in den Art. 167 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie geregelte Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Insbesondere kann dieses Recht für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (Urteil vom , Volkswagen, C-533/16, EU:C:2018:204, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Das Recht auf Vorsteuerabzug unterliegt jedoch der Einhaltung sowohl materieller als auch formeller Anforderungen und Bedingungen (Urteil vom , Volkswagen, C-533/16, EU:C:2018:204, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Hinsichtlich der materiellen Anforderungen und Bedingungen ist es für das Recht auf Vorsteuerabzug nach Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie von Bedeutung, dass der Betreffende „Steuerpflichtiger“ im Sinne dieser Richtlinie ist und dass die zur Begründung dieses Rechts angeführten Gegenstände oder Dienstleistungen von ihm auf einer nachfolgenden Umsatzstufe für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden und auf einer vorausgehenden Umsatzstufe von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert oder erbracht worden sind (Urteil vom , Volkswagen, C-533/16, EU:C:2018:204, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Zu den Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug, die den formellen Anforderungen und Bedingungen gleichstehen, legt Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie fest, dass der Steuerpflichtige eine gemäß deren Art. 220 bis 236 und 238 bis 240 ausgestellte Rechnung besitzen muss (Urteil vom , Volkswagen, C-533/16, EU:C:2018:204, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Aus dem Vorstehenden folgt, dass nach Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie das Recht auf Vorsteuerabzug zwar gleichzeitig mit dem Steueranspruch entsteht, dessen Ausübung jedoch nach Art. 178 dieser Richtlinie erst möglich ist, sobald der Steuerpflichtige im Besitz einer Rechnung ist (Urteil vom , Volkswagen, C-533/16, EU:C:2018:204, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Nach Art. 167 und Art. 179 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie wird das Recht auf Vorsteuerabzug grundsätzlich während des gleichen Zeitraums ausgeübt, in dem es entstanden ist, d. h., wenn der Anspruch auf die Steuer entsteht.
35 Gleichwohl kann einem Steuerpflichtigen nach den Art. 180 und 182 dieser Richtlinie das Abzugsrecht auch gewährt werden, wenn er es nicht während des Zeitraums, in dem es entstanden ist, ausgeübt hat. Voraussetzung ist jedoch, dass bestimmte in den nationalen Regelungen festgelegte Bedingungen und Einzelheiten befolgt werden (Urteil vom , Volkswagen, C-533/16, EU:C:2018:204, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Allerdings liefe die Möglichkeit, das Abzugsrecht ohne zeitliche Beschränkung auszuüben, dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwider, der verlangt, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung nicht unbegrenzt lange offenbleiben kann (Urteil vom , Volkswagen, C-533/16, EU:C:2018:204, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine Ausschlussfrist, deren Ablauf als Sanktion für den nicht hinreichend sorgfältigen Steuerpflichtigen, der den Vorsteuerabzug nicht geltend gemacht hat, den Verlust des Abzugsrechts zur Folge hat, nicht als mit der von der Mehrwertsteuerrichtlinie errichteten Regelung unvereinbar angesehen werden kann, sofern diese Frist zum einen gleichermaßen für die entsprechenden auf dem innerstaatlichen Recht beruhenden steuerlichen Rechte wie für die auf dem Unionsrecht beruhenden Rechte gilt (Äquivalenzgrundsatz) und sie zum anderen die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom , Volkswagen, C-533/16, EU:C:2018:204, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Zudem können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden. Die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ist nämlich ein Ziel, das von dieser Richtlinie anerkannt und gefördert wird. Die Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten nach ihrem Art. 273 zu erlassen befugt sind, dürfen jedoch nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung solcher Ziele erforderlich ist. Sie dürfen daher nicht so eingesetzt werden, dass dadurch das Recht auf Vorsteuerabzug und damit die Neutralität der Mehrwertsteuer systematisch in Frage gestellt würden (Urteil vom , Volkswagen, C-533/16, EU:C:2018:204, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Da die Versagung des Vorsteuerabzugsrechts eine Ausnahme von dem Grundprinzip ist, das dieses Recht darstellt, obliegt es den zuständigen Steuerbehörden, rechtlich hinreichend nachzuweisen, dass die objektiven Umstände, die einen Betrug oder Missbrauch begründen, vorliegen. Anschließend müssen die nationalen Gerichte prüfen, ob die betreffenden Steuerbehörden das Vorliegen solcher objektiven Umstände nachgewiesen haben (Urteil vom , Astone, C-332/15, EU:C:2016:614, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Vorliegend geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die portugiesische Steuerverwaltung infolge einer Steuerprüfung im Jahr 2011 Mehrwertsteuernacherhebungen in Bezug auf Lieferungen von Gegenständen im Zeitraum von Februar 2008 bis Mai 2010 vorgenommen hat, für die Biosafe zu Unrecht den ermäßigten anstelle des normalen Mehrwertsteuersatzes angewandt hatte. Biosafe hat daher eine Umsatzsteuerberichtigung vorgenommen, indem sie die zusätzliche Mehrwertsteuer entrichtet und Zahlungsaufforderungen ausgestellt hat, bei denen es sich dem vorlegenden Gericht zufolge um Dokumente zur Berichtigung der ursprünglichen Rechnungen handelt.
41 Die portugiesische Regierung ist der Ansicht, dass Biosafe und Flexipiso über mindestens zweieinhalb Jahren vorsätzlich und wiederholt systematische Steuerhinterziehungen und -umgehungen begangen hätten. Das Vorliegen solcher Handlungen kann bei einer derartigen Sachlage tatsächlich nicht ausgeschlossen werden. Jedoch fällt in dem Verfahren nach Art. 267 AEUV, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, die Würdigung des Sachverhalts in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts. Der Gerichtshof ist insbesondere nur befugt, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Unionsvorschrift zu äußern (Urteil vom , Danske Svineproducenter, C-491/06, EU:C:2008:263, Rn. 23, sowie Beschluss vom , Krejci Lager & Umschlagbetrieb, C-469/12, EU:C:2013:788, Rn. 28). Im vorliegenden Fall steht nach den Angaben des vorlegenden Gerichts fest, dass der Fehler bei der Wahl des Mehrwertsteuersatzes Biosafe zurechenbar ist.
42 Unter diesen Umständen war es für Flexipiso offensichtlich objektiv unmöglich, ihr Abzugsrecht vor der von Biosafe vorgenommenen Umsatzsteuerberichtigung auszuüben, denn Flexipiso verfügte zuvor weder über die Dokumente zur Berichtigung der ursprünglichen Rechnungen, noch wusste sie, dass eine zusätzliche Mehrwertsteuer geschuldet war.
43 Erst nach dieser Berichtigung lagen nämlich die materiellen und formellen Voraussetzungen des Rechts auf Vorsteuerabzug vor, so dass Flexipiso beantragen konnte, gemäß der Mehrwertsteuerrichtlinie und dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität von der geschuldeten und entrichteten Steuerbelastung entlastet zu werden. Da Flexipiso vor dem Erhalt der Zahlungsaufforderungen keinen Mangel an Sorgfalt an den Tag legte und weder ein Missbrauch noch ein kollusives Zusammenwirken mit Biosafe vorliegen, konnte eine Frist, die ab dem Zeitpunkt der Ausstellung der ursprünglichen Rechnungen zu laufen begonnen hätte und für bestimmte Umsätze vor der besagten Berichtigung abgelaufen gewesen wäre, somit nicht wirksam gegen die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug eingewandt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Volkswagen, C-533/16, EU:C:2018:204, Rn. 50).
44 Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Art. 63, 167, 168, 178 bis 180, 182 und 219 der Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, aufgrund deren unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen infolge einer steuerlichen Nacherhebung eine zusätzliche Mehrwertsteuer an den Staat gezahlt und mehrere Jahre nach der Lieferung der betreffenden Gegenstände in Dokumenten zur Berichtigung der ursprünglichen Rechnungen ausgewiesen wurde, das Recht auf Vorsteuerabzug mit der Begründung verweigert wird, dass die in dieser Regelung vorgesehene Frist für die Ausübung dieses Rechts zum Zeitpunkt der Ausstellung der ursprünglichen Rechnungen zu laufen begonnen habe und abgelaufen sei.
Zur zweiten Frage
45 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich der Erwerber bei Verneinung der ersten Frage unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens weigern kann, dem Lieferanten die zusätzliche Mehrwertsteuer zu zahlen, die dieser entrichtet hat, weil der Abzug dieser zusätzlichen Steuer wegen des Ablaufs der zur Ausübung des Abzugsrechts im nationalen Recht vorgesehenen Frist nicht mehr möglich sei.
46 Aus der Beantwortung der ersten Frage ergibt sich, dass einem Steuerpflichtigen unter solchen Umständen das Recht auf Abzug der zusätzlichen Mehrwertsteuer nicht mit der Begründung verweigert werden kann, dass die im nationalen Recht für die Ausübung dieses Rechts vorgesehene Frist abgelaufen sei. In Anbetracht dieser Antwort braucht die zweite Vorlagefrage nicht beantwortet zu werden.
Kosten
47 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
Die Art. 63, 167, 168, 178 bis 180, 182 und 219 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und der Grundsatz der steuerlichen Neutralität sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, aufgrund deren unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen infolge einer steuerlichen Nacherhebung eine zusätzliche Mehrwertsteuer an den Staat gezahlt und mehrere Jahre nach der Lieferung der betreffenden Gegenstände in Dokumenten zur Berichtigung der ursprünglichen Rechnungen ausgewiesen wurde, das Recht auf Vorsteuerabzug mit der Begründung verweigert wird, dass die in dieser Regelung vorgesehene Frist für die Ausübung dieses Rechts zum Zeitpunkt der Ausstellung der ursprünglichen Rechnungen zu laufen begonnen habe und abgelaufen sei.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2018:249
Fundstelle(n):
IAAAG-81349