Im Rausch der Zahlen: Grundlegende Entscheidung des BFH zum Zeitreihenvergleich
(1) Einer [i]BFH, Urteil vom 25. 3. 2015 - X R 20/13 NWB GAAAE-96112 aktuellen Entwicklungstendenz folgend, sehen sich bargeldgebundene Unternehmen häufig steuerlichen Betriebsprüfern gegenüber, die in einem Zirkelschluss zunächst betriebliche Ergebnisrechnungen mittels komplizierter statistischer Berechnungen in Zweifel ziehen, um nachfolgend die gleichen Berechnungsverfahren für schmerzhafte Hinzuschätzungen einzusetzen. Die Folgen sind evident! Ist der Verdacht einer unrichtigen Rechnungslegung auf der Grundlage dieser methodischen Offensive der Finanzverwaltung erst einmal geboren, obliegt es dem Steuerpflichtigen, sich zu rechtfertigen, obwohl weder die Ergebnisse der Mehrerlös-Schätzung noch der Weg dorthin für ihn nachvollziehbar sind.
In [i]Vom Kopf auf die Füße einer Aufsehen erregenden, detailliert und fundiert begründeten Entscheidung formuliert der BFH nun konkrete Rahmenbedingungen für die Anwendung innovativer steuerlicher Prüf- und Schätzverfahren durch die Steuerbehörden. Er stellt das Thema vom Kopf auf die Füße und vermittelt ihm eine Richtung, die gleichermaßen die Sicht der Finanzverwaltung und die der Betriebe angemessen berücksichtigt.
(2) In [i]Unrichtigkeitsnachweis versus Wahrscheinlichkeitder BFH-Entscheidung wird der Finanzverwaltung durchaus zugestanden, Besteuerungsgrundlagen mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen zu ermitteln, wenn eine sichere Tatsachenfeststellung zu betrieblichen Besteuerungsgrundlagen trotz des sorgfältigen Bemühens um Aufklärung nicht möglich ist. Hierbei ist es erlaubt, moderne Prüfungsmethoden einzusetzen – zu denen in geeigneten Fällen auch mathematisch-statistische Methoden gehören können. Allerdings müssen die hierbei angewandten Verfahren einschlägigen methodischen Anforderungen gerecht werden und darüber hinaus die Rechtsschutzgesichtspunkte des hiervon betroffenen Steuerpflichtigen ausreichend berücksichtigen. Prinzipiell darf sich die Finanzbehörde durch die Anwendung solcher mathematisch-statistischer Methoden nicht in eine technisch-rechnerische Überlegenheit gegenüber dem Steuerpflichtigen setzen. Dieser muss die Prüfungstechnik und die hiermit verbundenen Annahmen ebenso nachvollziehen können wie die statistischen Grundlagen der zur Schätzung eingesetzten Kalkulationsverfahren. Hierbei sind durchaus differenzierte Gesichtspunkte zu beachten.
Steuerliche [i]Gefragt: Gutes PrüferhandwerkHinzuschätzungen sollen sich nach den Ausführungen des BFH auf eine weitgehend sichere Grundlage stützen, die nicht alleine auf statistischen Wahrscheinlichkeiten basiert: Gefragt ist vielmehr gutes Prüferhandwerk. Hierzu zählen in erster Linie analytische Prüfungshandlungen, wie der (digitale) Abgleich von Beleg- und Buchungsverkehr, Kontenabstimmungen oder Kassenverkehrskontrollen. Zeigen sich dabei über eine Bagatellschwelle hinausreichende materielle Unrichtigkeiten, so sind bereits alleine auf der Grundlage dieser klaren Nachweise steuerliche Hinzuschätzungen geboten. S. 674
Die [i]Fehlende Programmierprotokolle sind gravierende MängelErgebnisse statistischer Plausibilitätsrechnungen können nach Auffassung des BFH ebenfalls Hinzuschätzungen begründen, wenn sie von einem nicht nur trivialen formalen Ordnungsmäßigkeitsmangel des Buchhaltungsverfahrens begleitet werden. In diesem Zusammenhang werden bereits fehlende Aufzeichnungen zur Programmidentität oder -änderung als „gravierend“ bezeichnet. Gleiches gilt bei unzureichenden technischen Nachweisen zur Vollständigkeit des Buchungsstoffes. In ihrer Kombination entkräften die Ergebnisse der statistischen Plausibilitätsrechnung gemeinsam mit dem formellen Buchhaltungsmangel die Richtigkeitsvermutung des Buchführungsverfahrens und öffnen so eine (Hinter-) Tür für Hinzuschätzungen.
Unternehmen, die formelle Aspekte eines ordnungsgemäßen computergestützten Buchführungsverfahrens (Verfahrensdokumentation, Nachweisführung, Zugriffsschutz, Vollständigkeit- und Abstimmvorgänge) bisher als lästige Nebenpflicht behandeln, sollten sich den aufgeführten Sachverhalt vor Augen führen. Sie setzen sich bewusst der Gefahr einer nachteiligen Steuerschätzung aus. Andererseits können bargeldorientierte Betriebe die Richtigkeitsvermutung ihrer Buchführung wirkungsvoll dadurch unterstützen, dass sie mit Blick auf deren Manipulationspotential technisch besonders abgesicherte Registrierkassen einsetzen. Hierzu befinden sich bereits Lösungen auf dem Markt.
(3) Über [i]Darf es ein bisschen mehr sein?seine Ausführungen zu den einsetzbaren Prüfungsmethoden hinaus, hat sich der BFH in seinem Urteil sehr akribisch sowie unter Hinzuziehung von Beispielrechnungen mit Hinzuschätzungs-Methoden der Finanzverwaltung auseinandergesetzt und hierfür ebenfalls Grundsätze entwickelt, die gleichermaßen Steuerbehörden wie Steuerpflichtige in die Verantwortung nehmen.
Im Regelfall sollen sich steuerliche Betriebsprüfer bei Buchführungsmängeln einfach überblickbarer Schätzmethoden bedienen, die seitens der Steuerpflichtigen ohne größeren mathematischen Sachverstand nachvollzogen werden können. Hierzu gehören z. B. die Geldverkehrsrechnung oder Zuschlagskalkulationen, die sich aus dem betrieblichen Datenbestand ermitteln lassen.
Bieten die Buchhaltungsdaten wegen materieller Buchhaltungsmängel keine gesicherte Basis für solche analytischen Schätzungen, so kann zum Nachteil des Steuerpflichtigen auch auf statistische Verfahren zurückgegriffen werden, z. B. in Form eines Zeitreihenvergleichs oder auf sonstige Explorationsrechnungen. Zwar sind auch hierbei die einer Hochrechnung zugrunde liegenden Ausgangsparameter besonders sorgfältig zu ermitteln, jedoch treffen die damit verbundenen Unsicherheiten, die sich nachhaltig auf das Schätzergebnis auswerten können, aus der Sicht des BFH den Steuerpflichtigen zurecht: Denn er ist wesentlichen Buchführungs- oder Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen.
Liegen [i]Besondere Sorgfalt bei der Auswahl der Schätzverfahren notwendig hingegen lediglich formelle Buchführungsmängel begleitet von statistischen Auffälligkeiten vor, ohne dass weitere nachweisbare Anzeichen auf materielle Unrichtigkeiten hindeuten, treffen die Finanzbehörden besondere Sorgfaltspflichten bei der Auswahl ihrer Schätzmethoden. In erster Linie sind die bereits dargelegten, einfachen analytischen Kalkulationen heranzuziehen, während statistische Zuschlagsverfahren nur in seltenen Ausnahmefällen zum Einsatz kommen dürfen, z. B. bei fehlender Mitwirkung des Steuerpflichtigen.
Roger Odenthal
Fundstelle(n):
BBK 2015 Seite 673 - 674
NWB WAAAE-96873