Berichtigung nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht bei geänderter rechtlichen Beurteilung eines bestehenden Sachverhalts (hier: Umsätze aus Geldspielautomaten)
Gesetze: AO § 175 Abs. 1 Nr. 2
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erbrachte in den Jahren 1979 bis 1986 (Streitjahre) u.a. Umsätze aus dem Betrieb von Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) ermittelte die Bemessungsgrundlage für die Umsatzsteuer entsprechend den Schreiben des Bundesfinanzministeriums vom bzw. IV A 2 -S 7200- 45/91 (BStBl I 1991, 538) unter Anwendung eines Vervielfältigers von 1,5 bzw. 2,0 auf den Kasseninhalt der Geldspielautomaten. Sämtliche Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 1979 bis 1986 (Streitjahre) sind bestandskräftig. Mit Ablauf des trat für die Umsatzsteuer 1986 als letzten der streitbefangenen Steueransprüche Festsetzungsverjährung ein.
Im Jahr 1994 entschied der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), dass bei Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit der gesetzlich zwingend festgelegte Teil der Gesamtheit der Spieleinsätze, der den an die Spieler ausgezahlten Gewinnen entspreche, nicht zur Besteuerungsgrundlage gehöre (vgl. —Glawe—, Slg. 1994, I-1679, BStBl II 1994, 548).
Mit Schreiben vom legte der Kläger gegen die Umsatzsteuerfestsetzungen für die Jahre 1979 bis 1986 Einspruch ein, wobei er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist beantragte. Er wollte erreichen, dass seine Umsätze aus dem Betrieb von Geldspielautomaten nach den Grundsätzen des EuGH-Urteils Glawe in Slg. 1994, I 1679, BStBl II 1994, 548 bemessen werden, was eine Umsatzsteuererstattung von ... DM zur Folge gehabt hätte.
Mit Einspruchsentscheidung vom verwarf das FA den Einspruch als unzulässig (verspätet) und lehnte die beantragte Wiedereinsetzung ab.
Das Finanzgericht (FG) wies die daraufhin vom Kläger erhobene Klage als unbegründet ab, weil die eingetretene Festsetzungsverjährung die Änderung der angefochtenen Bescheide verhindere. Das Urteil ist in „Entscheidungen der Finanzgerichte” (EFG) 2005, 910 veröffentlicht.
Gegen das ihm am zugestellte Urteil hat der Kläger am die vom FG zugelassene Revision eingelegt. Nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist () begründete der Kläger mit Telefax vom die Revision und beantragte wegen unverschuldeter Versäumung der Revisionsbegründungsfrist unter Vorlage zweier ärztlicher Atteste sowie einer eidesstattlichen Versicherung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Zur Revisionsbegründung macht der Kläger im Wesentlichen geltend:
Der EuGH habe mit Urteil vom Rs. C-453/02 und C-462/02 —Linneweber und Akritidis— (Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94, Umsatzsteuer-Rundschau —UR— 2005, 194) entschieden, dass Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) dahin auszulegen sei, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehe, wonach die Veranstaltung oder der Betrieb von Glücksspielen und Glücksspielgeräten aller Art in zugelassenen öffentlichen Spielbanken steuerfrei sei, während diese Steuerbefreiung für die Ausübung der gleichen Tätigkeit durch Wirtschaftsteilnehmer, die nicht Spielbankbetreiber seien, nicht gelte. Ferner habe der EuGH in diesem Urteil entschieden, dass Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG unmittelbare Wirkung in dem Sinne habe, dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten darauf berufen könne, um die Anwendung mit dieser Bestimmung unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern.
Denn nach § 4 Nr. 9 Buchst. b des Umsatzsteuergesetzes (UStG) sei nur der Betrieb von Geldspielautomaten in öffentlichen Spielbanken umsatzsteuerfrei. Nach dem bezeichneten EuGH-Urteil Linneweber und Akritidis müsse nunmehr auch der Betrieb von Geldspielautomaten außerhalb von öffentlichen Spielbanken als steuerfrei behandelt werden.
Im Gegensatz zum angefochtenen Urteil stehe einer Änderung der Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre die Festsetzungsverjährung nicht entgegen. Das ergebe sich aus dem —Emmott— (Slg. 1991, I-4269, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung —HFR— 1993, 137, UR 1993, 315) sowie aus Art. 10 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG).
Jedenfalls stelle das EuGH-Urteil Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94, UR 2005, 194 ein rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) dar. Anders als nationale Gerichtsurteile hätten EuGH-Urteile, die —wie hier— aufgrund von Vorabentscheidungsersuchen ergangen seien, nicht nur Wirkung „inter partes”.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil des FG aufzuheben und die Umsatzsteuerbescheide für 1979 bis 1986 dahin zu ändern, dass die Umsätze aus dem Betrieb von Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit sowie die damit zusammenhängenden Vorsteuerbeträge mit 0 DM angesetzt werden.
Hilfsweise regt der Kläger an,
„1. das Verfahren auszusetzen und
2. folgende Fragen dem EuGH zur Vorabentscheidung nach Art. 234 EG vorzulegen:
a) Hindert das Gemeinschaftsrecht, insbesondere der in Art. 10 des EG-Vertrages aufgestellte Grundsatz der Gemeinschaftstreue bzw. der Zusammenarbeit sowie Art. 249 Abs. 3 des EG-Vertrages, eine Behörde, unter den Umständen, wie sie oben geschildert wurden, sich auf die nationalen Verfahrensvorschriften über Einspruchsfristen gegenüber einem Einspruch zu berufen, den ein Einzelner gegen sie zum Schutz der durch Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG unmittelbar verliehenen Rechte erhoben hat?
b) Hindert das Gemeinschaftsrecht, insbesondere der in Art. 10 des EG-Vertrages aufgestellte Grundsatz der Gemeinschaftstreue bzw. der Zusammenarbeit sowie Art. 249 Abs. 3 des EG-Vertrages, eine Behörde, unter den Umständen, wie sie oben geschildert wurden, sich auf die natürlichen Verfahrensvorschriften über die Festsetzungsverjährung gegenüber einem Änderungsbegehren zu berufen, das ein Einzelner gegen sie zum Schutz der durch Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG unmittelbar verliehenen Rechte erhoben hat?
c) Verpflichtet das Gemeinschaftsrecht, insbesondere der in Art. 10 des EG-Vertrages aufgestellte Grundsatz der Gemeinschaftstreue bzw. der Zusammenarbeit, eine Behörde, unter den Umständen, wie sie oben geschildert wurden, einen bestandskräftigen Bescheid zurückzunehmen, um die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, so wie es aufgrund der Antwort auf ein späteres Vorabentscheidungsersuchen ausgelegt werden muss, sicherzustellen?”
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg.
1. Die Revision ist zulässig. Dem Kläger ist wegen unverschuldeter Versäumung der Revisionsbegründungsfrist (§ 120 Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—) gemäß § 56 FGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
2. Die Revision ist unbegründet.
a) Das FG hat zu Recht entschieden, dass die angefochtenen Umsatzsteuerbescheide für 1979 bis 1986 nach Ablauf der vierjährigen Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977) nicht mehr geändert werden können.
aa) Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ist die Änderung einer Steuerfestsetzung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist.
Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor, was das FG festgestellt hat und unter den Beteiligten nicht umstritten ist.
bb) Entgegen der Ansicht des Klägers lässt sich weder aus dem EuGH-Urteil Emmott in Slg. 1991, I-4269, BFH/NV Beilage 2005, 94, UR 1993, 315 noch aus Art. 10 EG herleiten, dass der Ablauf der Festsetzungsfrist im Streitfall unerheblich ist.
Zur Begründung verweist der Senat auf seine —in neutralisierter Form beigefügten— Urteile vom V R 51/05 und V R 67/05.
b) Auch die Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 liegen nicht vor.
Nach dieser Vorschrift ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. In diesem Fall beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem das Ereignis eintritt (§ 175 Abs. 1 Satz 2 AO 1977).
Es ist in der Rechtsprechung des BFH anerkannt, dass ein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 in der Weise in die Vergangenheit wirken muss, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist (vgl. Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs —BFH— vom GrS 2/92, BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897, unter C.II.1. b der Gründe). Die Änderung der rechtlichen Beurteilung eines bestehenden Sachverhalts kann nicht zu einer Berichtigung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 führen (vgl. z.B. , BFHE 154, 493, BStBl II 1989, 75, unter II.1.; vom XI R 36/95, BFHE 179, 563, BStBl II 1996, 399, unter II.2. der Gründe; , juris).
Durch das EuGH-Urteil Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94, UR 2005, 194 hat sich nicht der zu beurteilende Sachverhalt geändert; vielmehr hat der EuGH in dieser Entscheidung lediglich die Voraussetzungen des Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG präzisiert.
3. Der Senat folgt nicht der Anregung des Klägers, gemäß Art. 234 Abs. 3 EG eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen.
Die von dem Kläger insoweit aufgeworfenen Fragen sind durch die Rechtsprechung des EuGH bereits geklärt. Zur Begründung verweist der Senat auf sein Urteil vom V R 67/05.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Verwaltungsanweisungen:
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
HFR 2007 S. 433 Nr. 5
UR 2007 S. 329 Nr. 9
VAAAC-39293