BFH Urteil v. - X R 18/05 BStBl 2006 II S. 455

Leitsatz

Für die Richtigkeit und Vollständigkeit der in einer Einspruchsentscheidung erteilten Rechtsbehelfsbelehrung ist ein Hinweis auf die Bedeutung des § 108 Abs. 3 AO 1977 für die Ermittlung des Tages der Bekanntgabe (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977) nicht erforderlich.

Gesetze: FGO § 55 Abs. 1 und 2AO 1977 § 108 Abs. 3AO 1977 § 122 Abs. 2 Nr. 1

Instanzenzug: FG München, Außensenate Augsburg, vom 6 K 2287/04 (EFG 2005, 1824) (Verfahrensverlauf),

Gründe

I.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) hatte mit seinem Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 1999 vom keinen Erfolg.

Die Rechtsbehelfsbelehrung der Einspruchsentscheidung vom hatte u.a. folgenden Wortlaut:

„Die Klage ist gegen das Finanzamt F zu richten. Die Frist für die Erhebung der Klage beträgt einen Monat. Sie beginnt mit Ablauf des Tages, an dem Ihnen diese Einspruchsentscheidung bekannt gegeben worden ist. Bei Zusendung durch einfachen Brief oder Zustellung durch eingeschriebenen Brief gilt die Bekanntgabe mit dem dritten Tage nach Aufgabe zur Post als bewirkt, es sei denn, dass diese Einspruchsentscheidung zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Bei Zustellung durch Postzustellungsurkunde oder gegen Empfangsbekenntnis ist Tag der Bekanntgabe der Tag der Zustellung.…Die Frist für die Erhebung der Klage gilt als gewahrt, wenn die Klage bei dem Finanzamt F innerhalb der Frist angebracht oder zur Niederschrift gegeben wird.”

Die Einspruchsentscheidung war am Donnerstag, den , mit einfachem Brief zur Post gegeben worden.

Am ging beim Finanzgericht (FG) die Klage mit Datum ein.

Zur Zulässigkeit führte der Kläger aus, die Klagefrist sei gewahrt. Nach dem Datum der Einspruchsentscheidung sei sie ihm am , spätestens aber am zugegangen. Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) gelte der Verwaltungsakt am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, sofern er nicht tatsächlich zu einem späteren Zeitpunkt oder überhaupt nicht zugegangen sei. Falle das Ende der Drei-Tages-Frist —wie hier— auf einen Sonntag, einen gesetzlichen Feiertag oder einen Sonnabend, ende die Frist gemäß § 108 Abs. 3 AO 1977 erst mit dem Ablauf des nächstfolgenden Werktags, wie sich aus der geänderten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ergebe (vgl. Urteil vom IX R 68/98, BFHE 203, 26, BStBl II 2003, 898). Darauf weise die Rechtsbehelfsbelehrung nicht hin. Sie sei unrichtig i.S. von § 55 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO), weil sie über einen etwaigen späteren Beginn der Klagefrist nicht vollständig unterrichte. Die Klage sei daher innerhalb eines Jahres ab Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung zulässig.

Das FG hat die Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2005, 1824 veröffentlichten Urteil als unzulässig abgewiesen.

Mit der Revision trägt der Kläger vor, der Adressat eines Bescheides müsse über den Beginn einer Rechtsbehelfsfrist genau der Gesetzeslage entsprechend unterrichtet werden. Es müsse ihm möglich sein, die ersten Schritte zur Einlegung eines Rechtsmittels ohne Gesetzeslektüre einzuleiten. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit, in der Rechtsbehelfsbelehrung auf die Bedeutung des § 108 Abs. 3 AO 1977 für die Bekanntgabe nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 hinzuweisen. Fehle dieser Hinweis, so sei die Rechtsbehelfsbelehrung trotz der Eigenverantwortlichkeit des Steuerpflichtigen für die Berechnung der Rechtsbehelfsfrist unrichtig i.S. des § 356 Abs. 2 AO 1977 und § 55 Abs. 2 FGO.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für 1999 vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom dahin gehend zu ändern, dass die Einkommensteuer für 1999 auf 18 045 DM festgesetzt wird.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II.

Die Revision wird gemäß § 126 Abs. 2 FGO als unbegründet zurückgewiesen. Das FG hat zu Recht die Klage als verspätet abgewiesen, weil sie erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist erhoben wurde und Gründe für eine Wiedereinsetzung weder vorgebracht wurden noch erkennbar sind. Die der Einspruchsentscheidung beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung genügt den Anforderungen die an ihren auf die Klagefrist bezogenen Inhalt zu stellen sind.

1. Nach § 47 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO beträgt die Klagefrist einen Monat; sie beginnt mit Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung (§ 47 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 FGO), wenn der Kläger u.a. über die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt worden ist (§ 55 Abs. 1 Satz 1 FGO).

Die Ein-Monats-Frist war bei Eingang der Klage beim FG abgelaufen. Die Verspätung des Klageeingangs wäre allerdings dann unschädlich, wenn sich der Kläger auf die sich nach § 55 Abs. 2 Satz 1 FGO ergebende Fristverlängerung mit der Begründung berufen könnte, die in der Einspruchsentscheidung enthaltene Rechtsbehelfsbelehrung sei unrichtig, weil in ihr der Hinweis auf den nach der Rechtsprechung des BFH (in BFHE 203, 26, BStBl II 2003, 898) abweichenden Beginn der Rechtsbehelfsfrist fehle, wenn der Tag der Bekanntgabe nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 auf einen Sonntag, gesetzlichen Feiertag oder Sonnabend falle.

2. Die Entscheidung darüber, welchen Inhalt eine ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung haben muss, verlangt die Abwägung zum Teil widerstreitender Gesichtspunkte.

a) Grundlegend sind der verfassungsrechtliche Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 des GrundgesetzesGG— i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 19 Abs. 4 GG) und die hieraus abzuleitenden Gebote der prozessualen Fürsorgepflicht und der Rechtsmittelklarheit. Das rechtsstaatliche Erfordernis der Messbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns gebietet es, dem Rechtsuchenden den Weg zur Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen klar vorzuzeichnen. Die Rechtsbehelfe müssen in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für die Bürger erkennbar sein. Sind die Formerfordernisse so kompliziert und schwer zu erfassen, dass nicht erwartet werden kann, der Rechtsuchende werde sich in zumutbarer Weise darüber Aufklärung verschaffen können, müsste die Rechtsordnung zumindest für eine das Defizit ausgleichende Rechtsbehelfsbelehrung sorgen (Beschluss des Plenums des Bundesverfassungsgerichts —BVerfG— vom 1 PBvU 1/02, BVerfGE 107, 395; Senatsurteil vom X R 59/01, BFHE 206, 449, BStBl II 2004, 901). Nach dem hierfür in Bezug genommenen (BVerfGE 93, 99, 108 ff.) gebietet die Rechtsschutzgarantie eine Rechtsmittelbelehrung nur dann, wenn „diese erforderlich ist, um unzumutbare Schwierigkeiten des Rechtswegs auszugleichen, die die Ausgestaltung eines Rechtsmittels andernfalls mit sich brächte”. Auch in Verfahren, in denen kein Vertretungszwang gilt, kann vom Rechtsuchenden —im Rahmen des Zumutbaren— erwartet werden, er werde sich rechtzeitig über die Formerfordernisse des Rechtsmittels Aufklärung verschaffen. Will er sich im Einzelfall nicht sofort an einen Anwalt wenden, kann er sich bei der Behörde, die die anzufechtende Entscheidung erlassen hat, nach den Rechtsmittelmöglichkeiten und -erfordernissen erkundigen (vgl. BVerfG in BVerfGE 93, 99, 109).

Das BVerfG weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass auftretenden Härten durch die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begegnet werden kann.

b) Hiervon ausgehend stellen auch die Gerichte der Fachgerichtsbarkeiten darauf ab, dass mit einer Rechtsmittelbelehrung „unzumutbare Schwierigkeiten der Rechtsverfolgung im Instanzenzug” ausgeglichen werden sollen. Entscheidend ist, ob die Formerfordernisse eines Rechtsmittels so kompliziert und schwer zu erfassen sind, dass nicht erwartet werden kann, der Rechtsuchende werde sich in zumutbarer Weise darüber rechtzeitig Aufklärung verschaffen können (, BGHZ 150, 390).

c) Andererseits soll die Rechtsmittelbelehrung so einfach und klar wie möglich gehalten werden. Im Interesse rechtsunkundiger Beteiligter ist eine inhaltliche Überfrachtung zu vermeiden, die statt Klarheit zu schaffen wegen ihres Umfangs und ihrer Kompliziertheit Verwirrung stiftet (vgl. dazu 9/9a RV 17/92, Monatsschrift für Deutsches Recht —MDR— 1993, 1013; Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 55 FGO Tz. 7). Deshalb ist es ausreichend, wenn die Rechtsbehelfsbelehrung den Gesetzeswortlaut der einschlägigen Bestimmung wiedergibt und verständlich über die allgemeinen Merkmale des Fristbeginns unterrichtet (, BFH/NV 1987, 12; vom V R 19/85, BFH/NV 1992, 783; , BFH/NV 1996, 106, jeweils mit weiteren Nachweisen der höchstrichterlichen Rechtsprechung; Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 55 Rz. 18).

d) Eine „verständliche Erläuterung zum Fristbeginn” setzt nach allgemeiner Meinung nicht voraus, dass in der Rechtsbehelfsbelehrung den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung zu tragen wäre. Vielmehr genügt eine abstrakte Belehrung anhand des Gesetzestextes über die vorgeschriebene Anfechtungsfrist. Die konkrete Berechnung ihres Laufs bleibt dagegen der eigenen Verantwortlichkeit des Betroffenen überlassen. „Es ist kaum möglich, aber auch nicht erforderlich, in einer Rechtsmittelbelehrung auf sämtliche Modalitäten der Fristberechnung hinzuweisen” (, BVerfGE 31, 388, 390; s. ferner , BFHE 114, 5, BStBl II 1975, 155). Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) bedarf es keiner Belehrung über den Beginn der Widerspruchs- oder Klagefrist, selbst wenn sich der Fristbeginn nach einer Zustellungsfiktion, wie etwa der des § 4 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG), bestimmt ( 8 B 16.99, juris Nr: WBRE410005688, mit weiteren Nachweisen; vgl. ferner BSG-Urteil in MDR 1993, 1013).

e) Nach diesen Maßstäben ist nicht erforderlich, dass die Rechtsbehelfsbelehrung einen Hinweis auf die Bedeutung des § 108 Abs. 3 AO 1977 enthält, die diese Bestimmung für den Zeitpunkt der Bekanntgabe eines Steuerverwaltungsakts durch die Rechtsprechung des BFH (in BFHE 203, 26, BStBl II 2003, 898) erhalten hat. Gibt —wie im Streitfall— die Rechtsbehelfsbelehrung zur Bestimmung des Zeitpunktes der Bekanntgabe den Gesetzeswortlaut des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 vollständig wieder, so versetzt sie, ohne überfrachtet und verwirrend zu sein, den Betroffenen in die Lage, sich bei Ausübung seiner Mitverantwortung für die Berechnung des Laufes der Frist die erforderliche Klarheit über den Fristbeginn zu verschaffen. Erforderlichenfalls ist er gehalten, sich die für die Berechnung der Rechtsbehelfsfrist im Einzelnen notwendigen Kenntnisse durch die Einholung von Rechtsrat bzw. einer finanzbehördlichen Auskunft zu beschaffen.

f) Mit dieser Entscheidung weicht der erkennende Senat nicht von dem (BFHE 78, 528, BStBl III 1964, 201) ab. Im dort entschiedenen Fall entsprach die Rechtsbehelfsbelehrung —anders als im Streitfall— nicht dem Wortlaut des damals einschlägigen § 17 Abs. 2 VwZG, weil sie nicht auf die Möglichkeit des späteren tatsächlichen Zugangs hingewiesen hatte.

Fundstelle(n):
BStBl 2006 II Seite 455
AO-StB 2006 S. 136 Nr. 6
BB 2006 S. 1097 Nr. 20
BFH/NV 2006 S. 1177 Nr. 6
BStBl II 2006 S. 455 Nr. 10
BStBl II 2006 S. 455 Nr. 10
DStR 2006 S. 843 Nr. 19
DStRE 2006 S. 635 Nr. 10
DStZ 2006 S. 356 Nr. 11
DStZ 2006 S. 376 Nr. 11
GStB 2006 S. 21 Nr. 6
HFR 2006 S. 658 Nr. 7
INF 2006 S. 401 Nr. 11
KÖSDI 2006 S. 15125 Nr. 6
NJW 2006 S. 3744 Nr. 51
NWB-Eilnachricht Nr. 19/2006 S. 1577
NWB-Eilnachricht Nr. 36/2007 S. 3139
SJ 2006 S. 10 Nr. 11
StB 2006 S. 204 Nr. 6
StBW 2006 S. 4 Nr. 10
StuB-Bilanzreport Nr. 12/2006 S. 483
WPg 2006 S. 958 Nr. 15
XAAAB-82746