Gegen die Versagung des überperiodischen Verlustabzugs bei Verlusten aus privaten Veräußerungsgeschäften vor dem nach § 23 Abs. 4 EStG a. F. bestehen verfassungsrechtliche Bedenken, die eine Aussetzung der Vollziehung rechtfertigen
Leitsatz
Bei der im Aussetzungsverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO gebotenen summarischen Prüfung ergeben sich jedenfalls insoweit verfassungsrechtliche Bedenken, als § 23 Abs. 3 Satz 4 EStG a. F. nicht einmal einen überperiodischen Verlustabzug innerhalb derselben Einkunftsart zulässt und die ab dem Veranlagungszeitraum 1999 erfolgte Neuregelung des Verlustausgleichs bei privaten Veräußerungsgeschäften i. S. von § 23 EStG, die dies vorsieht, ohne sachlichen Grund nicht auch auf die offenen Altfälle erstreckt worden ist.
Gesetze: EStG § 23 Abs. 3 Satz 4FGO § 69GG Art. 3
Instanzenzug: FG Düsseldorf (EFG 1999, 1128)
Tatbestand
Der Antragsteller und Beschwerdegegner (Antragsteller) erzielte aus Wertpapiergeschäften im Jahre 1996 und im Streitjahr 1997 Spekulationsgewinne von 2 039 DM (1996) und 232 645 DM (1997) sowie im Jahre 1998 einen Spekulationsverlust von 402 140 DM. Der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt - FA -) ließ diesen Verlust unter Hinweis auf § 23 Abs. 3 Satz 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der im Streitjahr gültigen Fassung nicht - wie vom Antragsteller geltend gemacht - im Streitjahr 1997 zum Abzug zu. Aufgrund der übrigen Einkünfte des Antragstellers ermittelte das FA den Gesamtbetrag der Einkünfte für das Jahr 1996 mit 76 649 DM, für das Streitjahr mit 241 819 DM und für das Jahr 1998 mit 3 625 DM und setzte die Einkommensteuer entsprechend fest; für das Jahr 1998 ergab sich danach eine Steuerfestsetzung von 0 DM.
Der Antragsteller hat gegen den das Streitjahr betreffenden Einkommensteuerbescheid 1997 vom beim FA ohne Erfolg Einspruch eingelegt und die Aussetzung der Vollziehung beantragt. Über die daraufhin erhobene Klage hat das Finanzgericht (FG) noch nicht entschieden; auf den bei ihm gestellten Antrag hin setzte das FG die Vollziehung des angefochtenen Einkommensteuerbescheides bis einen Monat nach Ergehen einer erstinstanzlichen Entscheidung aus. Der Beschluss des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 1128 veröffentlicht.
Hiergegen wendet sich das FA mit seiner vom FG zugelassenen Beschwerde.
Das FA beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abzulehnen, hilfsweise, die Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 Abs. 2 Satz 8 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf 84 506 DM zu beschränken.
Der Antragsteller beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Gründe
Die Beschwerde ist unbegründet.
1. Gemäß § 69 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 2 FGO kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts wegen ernstlicher Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit aussetzen. Ernstliche Zweifel liegen nach der ständigen Rechtsprechung vor, wenn neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheiten in der Beurteilung der Tatfragen bewirken (vgl. z. B. Beschlüsse des , BFHE 175, 421, BStBl II 1995, 778; vom VIII B 143/ 94, BFHE 176, 262, BStBl II 1995, 262, m. w. N.). Ernstliche Zweifel i. S. des § 69 Abs. 2 und 3 FGO können auch verfassungsrechtliche Zweifel an der Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm sein (ständige Rechtsprechung, z. B. , BVerfGE 12, 180, 186, BStBl I 1961, 63; BFH-Beschlüsse vom III B 144/89, BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104, und vom III B 51/91, III B 74/91, III B 81/91, BFHE 165, 415, BStBl II 1992, 91).
2. Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall ist die Aussetzung der Vollziehung im vom Antragsteller beantragten Umfang zu gewähren, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes gegeben sind.
a) Das FG hat zutreffend angenommen, dass der angefochtene Einkommensteuerbescheid nicht nur im Wege der Folgeaussetzung (§ 69 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 4 FGO) aussetzungsfähig ist. Dabei kann dahinstehen, ob im Streitfall gemäß § 10 d Abs. 3 Satz 1 EStG ein Bescheid über die Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs hätte ergehen müssen und ob dieser ein Grundlagenbescheid für den Verlustrücktrag wäre (vgl. dazu allgemein Schmidt/Heinicke, Einkommensteuergesetz, 19. Aufl., § 10 d Rz. 50). Ein solcher Bescheid ist nach dem aus den Akten ersichtlichen Sachverhalt (bisher) nicht ergangen. Die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Einkommensteuerbescheides ist damit zumindest nach den Grundsätzen zulässig, die der BFH zur Aussetzung von Folgebescheiden entwickelt hat, die vor dem Erlass eines an sich notwendigen Grundlagenbescheides ergangen sind (z. B. , BFHE 110, 177, BStBl II 1973, 854; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Tz. 27, m. w. N.).
b) Der Senat lässt offen, ob die Erwägungen zum einkommensteuerrechtlichen Verlustausgleich und Verlustabzug in der zu § 22 Nr. 3 Satz 3 EStG a. F. ergangenen Entscheidung des (BVerfGE 99, 88) ohne Einschränkung auch auf § 23 Abs. 3 Satz 4 EStG a. F. zu übertragen und diese Vorschrift deshalb als verfassungswidrig zu beurteilen ist. Er lässt ferner offen, ob ein angenommener Verfassungsverstoß dazu führen könnte, in den Veranlagungszeiträumen vor 1999 entstandene Verluste aus Spekulationsgeschäften i. S. von § 23 EStG a. F. nach den für diese Veranlagungszeiträume geltenden allgemeinen Bestimmungen zum Verlustausgleich und Verlustabzug zu behandeln (bejahend z. B. Risthaus/Plenker, Der Betrieb - DB - 1999, 605; Balmes, Deutsches Steuerrecht - DStR - 2000, 1047; kritisch z. B. Schmidt/Heinicke, a. a. O., § 23 Rz. 60; verneinend , DB 1999, 1631). Verfassungsrechtliche Bedenken unter dem Gesichtspunkt eines Verstoßes gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ergeben sich bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung jedenfalls insoweit, als § 23 Abs. 3 Satz 4 EStG a. F. nicht einmal einen überperiodischen Verlustabzug innerhalb derselben Einkunftsart zulässt und die ab dem Veranlagungszeitraum 1999 erfolgte Neuregelung des Verlustausgleichs bei privaten Veräußerungsgeschäften i. Sù von § 23 EStG, die dies vorsieht, ohne sachlichen Grund nicht auch auf die offenen Altfälle erstreckt worden ist.
aa) Der Gesetzgeber selbst ist von dieser Notwendigkeit offensichtlich (zunächst) im Gesetzgebungsverfahren ausgegangen. Den Gesetzesmaterialien ist zu entnehmen, dass nach seiner Vorstellung der ursprünglich bei Einkünften i. S. von § 22 Nr. 3 EStG und § 23 EStG vorgesehene Ausgleich von Verlusten (auch) in zukünftigen Veranlagungszeiträumen als Reaktion auf die Entscheidung in BVerfGE 99, 88 geboten war (z. B. Gesetzentwurf der Bundesregierung, BTDrucks 14/265, S. 13, 181; vgl. dazu auch Groß, Steuer und Bilanzpraxis 1999, 473; Stuhrmann, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1999, 1661; Jacobs-Soyka in Littmann/Bitz/Hellwig, Das Einkommensteuerrecht, 15. Aufl., § 23 EStG Rdnr. 157 a) und auch für noch offene Altfälle gelten sollte (BTDrucks 14/265, S. 20, 189). In der ab dem Veranlagungszeitraum 1999 geltenden Neuregelung des Verlustausgleichs bei Einkünften aus privaten Veräußerungsgeschäften (§ 23 EStG i. V. m. § 52 Abs. 1 EStG i. d. F. des Steuerentlastungsgesetzes - StEntlG - 1999/2000/2002 vom , BGBl. I 1999, 402, BStBl I 1999, 304) sind dann die noch offenen Altfälle unberücksichtigt geblieben, ohne dass der Gesetzgeber Gründe für die Ungleichbehandlung von Alt- und Neufällen angegeben hat. Die Gesetzesmaterialien lassen lediglich erkennen, dass im Dritten Bericht des Finanzausschusses die offene Altfälle einbeziehende Anwendungsregel (§ 52 Abs. 39 Satz 2 EStG) zur neuen Verlustausgleichsregelung bei Einkünften aus privaten Veräußerungsgeschäften (§ 23 Abs. 3 Satz 5 EStG im Gesetzentwurf der Bundesregierung, § 23 Abs. 3 Satz 7 EStG i. d. F. des StEntlG 1999/2000/2002; jetzt § 23 Abs. 3 Satz 9 EStG) für entbehrlich gehalten wurde. Dies entspreche der vergleichbaren Anwendungsregelung zu § 22 Nr. 3 Satz 4 EStG n. F. (BTDrucks 14/443, S. 32, 33). Die offene Altfälle einbeziehende Anwendungsregel zu § 22 Nr. 3 EStG n. F. (§ 52 Abs. 21 a des Gesetzentwurfes der Bundesregierung, vgl. BTDrucks 14/265, S. 20, 188) wiederum wurde nach den Ausführungen im Dritten Bericht des Finanzausschusses als entbehrlich angesehen, weil im Anschluss an die Entscheidung in BVerfGE 99, 88 für Verluste nach § 22 Nr. 3 EStG a. F. die allgemeinen Grundsätze der Verlustverrechnung anzuwenden seien. Die mit § 22 Nr. 3 Satz 4 EStG geschaffene beschränkte Verlustausgleichsregelung könne daher erstmals für den Veranlagungszeitraum 1999 gelten. Insoweit reiche die allgemeine Anwendungsregel in § 52 Abs. 1 EStG aus (BTDrucks 14/443, S. 32, 34).
bb) Ein Grund für die unterschiedliche Behandlung der Alt- und Neufälle bei Veräußerungsgeschäften i. S. von § 23 Abs. 3 EStG alter und neuer Fassung ergibt sich auch nicht - wie das FA meint - aus den grundlegenden Unterschieden der Einkünfteermittlung bei § 23 EStG gegenüber denjenigen bei laufenden Vermietungseinkünften i. S. des § 22 Nr. 3 EStG (so aber auch , a. a. O.). Im Streitfall ist - was die Alt- und Neufälle i. S. von § 23 EStG angeht - nur eine Einkunftsart zu beurteilen. Zu Unrecht macht das FA schließlich geltend, die durch § 23 EStG n. F. geschaffene Möglichkeit des Ausgleichs von Verlusten (innerhalb der Einkunftsart) auch im Vorjahr und in späteren Jahren trage dem Umstand Rechnung, dass der Gesetzgeber den Tatbestand des § 23 Abs. 1 EStG auf private Veräußerungsgeschäfte auch ohne Spekulationsabsicht erweitert habe. § 23 EStG setzt nach der ständigen Rechtsprechung des BFH keine Spekulationsabsicht voraus (z. B. Urteile vom X R 66/92, BFH/NV 1995, 391, und vom IX R 74/96, BFHE 192, 88, BStBl II 2000, 469, unter II. 3.; Ritzrow, Betrieb und Wirtschaft 2000, 658 f., m. w. N.) - Die Bezeichnung der §§ 22 Nr. 2, 23 EStG i. d. F. des StEntlG 1999/2000/2002 als ,,private Veräußerungsgeschäfte'' - anstatt wie vorher als ,,Spekulationsgeschäffe'' - beinhaltet keine sachliche Änderung, sondern dient nur der Klarstellung (Schmidt/Heinicke, a. a. O., Rz. 2; Ritzrow, a. a. O.). Selbst wenn man in diesem Zusammenhang berücksichtigt, dass § 23 EStG n. F. durch die Erweiterung des Katalogs der steuerbaren privaten Veräußerungsgeschäfte bei gleichzeitiger Verlängerung der steuerschädlichen Fristen im Vergleich zu § 23 EStG a. F. in größerem Umfang private Veräußerungsgewinne erfasst (vgl. dazu Blümich/Glenk, Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, § 23 EStG Rz. 6, m. w. N.), beseitigt dieser Gesichtspunkt bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Überprüfung nicht die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Ausschlusses der offenen Altfälle von der ab 1999 geltenden Verlustausgleichsmöglichkeit.
cc) Wäre die Neuregelung des Verlustausgleichs in § 23 Abs. 3 Satz 7 EStG (i. d. F. des StEntlG 1999/2000/2002, jetzt § 23 Abs. 3 Satz 9 EStG) auch in Veranlagungszeiträumen vor 1999 anzuwenden, gehörte - wie das FG zutreffend ausgeführt hat - der Antragsteller zum Kreis der Begünstigten und seine Klage hätte Erfolg. Die im Streitjahr 1997 angesetzten Einkünfte i. S. von § 23 EStG a. F. wären wegen des im Jahre 1998 erlittenen Verlusts auf 0 DM zu mindern.
3. Der Antragsteller hat auch ein berechtigtes Interesse an der Berücksichtigung des geltend gemachten Verlusts im Wege der Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Einkommensteuerbescheides. Rechtsschutz im Wege der Aussetzung der Vollziehung kann nach ständiger Rechtsprechung auch bei ernstlichen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine Rechtsnorm gewährt werden, es sei denn, es stehen schwerwiegende öffentliche Interessen entgegen (vgl. , BFHE 167, 152, BStBl II 1992, 752, unter 4., m. w. N.). Ob solche öffentlichen Interessen dem Steuerpflichtigen auch dann entgegengehalten werden können, wenn das BVerfG bereits eine ähnliche Vorschrift für nichtig erklärt hat, bedarf hier keiner Entscheidung. Im Streitfall jedenfalls fällt die Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers aus. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die ernsthaften verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 23 Abs. 3 Satz 4 EStG a. F. aus der Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 99, 88, und insbesondere aus dem Umstand ergeben, dass der Gesetzgeber selbst sich diese Zweifel im Gesetzgebungsverfahren (zunächst) offensichtlich auch für § 23 Abs. 3 Satz 4 EStG a. F. zu Eigen gemacht, ihnen dann aber in Bezug auf die noch offenen Altfälle ohne Angabe von Gründen nicht Rechnung getragen hat. Zum anderen ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass eine Aussetzung der Vollziehung im Streitfall das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung berühren könnte, z. B. weil es sich beim Streitfall um einen massenhaft vorkommenden Sachverhalt handelt. Angesichts der Höhe der Abschlusszahlung ist deshalb dem Interesse des Antragstellers an einer Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Einkommensteuerbescheides Vorrang zu geben.
4. Zum Hilfsantrag des FA weist der Senat darauf hin, dass der Beschluss der Vorinstanz - entsprechend dem Begehren des Antragstellers - dahin auszulegen ist, dass die Aussetzung der Vollziehung nur im gesetzlich zulässigen Rahmen (§ 69 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 Satz 8 FGO) gewährt wurde.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Verwaltungsanweisungen:
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BStBl 2001 II Seite 411
BB 2001 S. 397 Nr. 8
BFH/NV 2001 S. 543 Nr. 4
BFHE S. 157 Nr. 194
DB 2001 S. 414 Nr. 8
DStR 2001 S. 250 Nr. 7
DStRE 2001 S. 237 Nr. 5
FR 2001 S. 541 Nr. 10
INF 2001 S. 253 Nr. 8
CAAAA-88919