Nichtzulassungsbeschwerde: Zur Beachtung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ im finanzgerichtlichen Verfahren
Leitsatz
NV: Es ist höchstrichterlich geklärt, dass der Grundsatz „in dubio pro reo“ auch im Besteuerungsverfahren und im finanzgerichtlichen Verfahren gilt.
Gesetze: FGO § 76 Abs. 1 Satz 1; FGO § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3; AO § 235;
Instanzenzug:
Gründe
1 Die Beschwerde ist unbegründet und durch Beschluss zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
2 1. Die Revision ist nicht wegen eines Verfahrensfehlers gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO zuzulassen.
3 a) Der behauptete Verstoß gegen den wesentlichen (klaren) Inhalt der Akten ist nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) als solcher kein Verfahrensmangel (Senatsbeschluss vom - VI B 61/15, Rz 10). Er kann aber als Rüge verstanden werden, dass das Finanzgericht (FG) entgegen § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO nicht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entschieden hat (, Rz 31, m.w.N.).
4 aa) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Gesamtergebnis des Verfahrens umfasst den gesamten durch das Klagebegehren begrenzten und durch die Sachaufklärung des Gerichts und die Mitverantwortung der Beteiligten konkretisierten Prozessstoff. Insbesondere verpflichtet § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO das Gericht, den Inhalt der ihm vorliegenden Akten vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen (z.B. BFH-Beschlüsse vom - III B 66/11, Rz 18, m.w.N., und vom - X B 114/18, Rz 21). Das FG verstößt gegen den klaren Inhalt der Akten, wenn es seine Entscheidung maßgeblich auf eine (Zeugen-)Aussage, das schriftsätzliche oder zu Protokoll erklärte Vorbringen eines Beteiligten oder auf Unterlagen stützt, wobei weder die protokollierten Bekundungen des Zeugen bzw. des Beteiligten noch die in den Akten befindlichen Schriftsätze und sonstigen Unterlagen die durch das FG gezogenen Schlussfolgerungen stützen (s. II B 30, 32-34, 38/18, BFHE 265, 5, BStBl II 2019, 620, Rz 12).
5 bb) Nach diesen Maßstäben liegt der gerügte Verstoß, das FG habe bei seiner rechtlichen und tatsächlichen Würdigung des Streitfalls gegen den klaren Inhalt der Akten entschieden, nicht vor.
6 Das FG hat das vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) zu Protokoll erklärte Beteiligtenvorbringen in seinem Urteil ausführlich gewürdigt. Es hat hieraus zwar nicht den von den Klägern für zutreffend gehaltenen Schluss gezogen, der Kläger habe den objektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung nicht vorsätzlich verwirklicht. § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO verpflichtet das Gericht aber nicht, dem protokollierten Beteiligtenvortrag zu folgen.
7 Die Vorinstanz hat in ihrem Urteil im Einzelnen nachvollziehbar dargelegt, aus welchen Gründen sie das Vorbringen des Klägers, er habe nicht vorsätzlich gehandelt bzw. sei jedenfalls einem Irrtum über Tatumstände i.S. von § 16 des Strafgesetzbuchs (StGB) erlegen, als nicht glaubhafte Schutzbehauptung angesehen hat. Das FG hat —anders als die Kläger meinen— die Tatsachen, aus denen es auf das Vorliegen des subjektiven Tatbestands einer Steuerhinterziehung geschlossen hat, auch nicht lediglich unterstellt. Es hat den Sachverhalt zwar anders als die Kläger gewürdigt. Dies stellt aber keinen Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten dar. Denn das FG konnte seine Würdigung —wie geschehen— in vertretbarer Weise auf das zu Protokoll erklärte Vorbringen des Klägers und weitere sich bei den Akten befindliche Unterlagen stützen.
8 Das FG hat die Vorsatzfrage entgegen dem Vortrag der Kläger in der Beschwerdebegründung auch „nicht rückwirkend aus heutiger Sicht – ex post“ beurteilt. Es hat aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens vielmehr die Überzeugung gewonnen, der Kläger habe bei der Abgabe der Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre (2009 bis 2011) jeweils einen mindestens bedingten Hinterziehungsvorsatz bezüglich der objektiven Tatbestandsmerkmale der Steuerhinterziehung gehabt.
9 Es hat insoweit darauf abgestellt, dass der Kläger in den Steuererklärungen für die Streitjahre —unstreitig— nicht offenbart hatte, dass er aus den von ihm erworbenen Optionen der X 16.000 € (2009), 87.557,71 € (2010) und 25.000 € (2011) erhalten hatte.
10 Nach der Überzeugung des FG hielt es der Kläger dabei zumindest für möglich, dass die Zahlungen steuerpflichtigen Arbeitslohn darstellten. Dies hat das FG
—neben anderen, im Urteil näher dargelegten Umständen— ohne Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten auch aus dem protokollierten Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung geschlossen. So hat der Kläger in seiner Befragung vor dem FG selbst angegeben, ihm sei schon bei seinem Einstieg gesagt worden, er solle eine Umsatzbeteiligung erhalten, auf die er dann zunächst mehrere Jahre gewartet habe. Im Jahr 2008 sei dann einer der Geschäftsführer seiner Arbeitgeberin auf ihn zugekommen und habe ihm gesagt, dass „nun das Angebot vorbereitet sei und die Optionen vorbereitet seien“. Der Kläger hat vor dem FG —persönlich befragt— weiter angegeben, ihm sei „zur Bemessung der Optionen . bewusst“ gewesen, dass er „belohnt werden sollte für erzielte Umsätze und in der Gesellschaft verbliebene Gewinne“.
11 Das FG hat unter Hinweis auf die Entscheidungen des , Rz 21 und vom - 1 StR 38/11, Rz 26 weiterhin angenommen, der Kläger habe durch die unstreitig unterlassene Angabe der ebenfalls unstreitigen Zahlungen in den Steuererklärungen für die Streitjahre billigend in Kauf genommen, dass die entsprechenden Einkommensteuern zu niedrig festgesetzt wurden und damit zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt.
12 Soweit sich die Kläger (auch) gegen die diesbezügliche rechtliche Würdigung des FG wenden, können sie die Zulassung der Revision nicht erreichen. Denn die Rüge der falschen Rechtsanwendung und tatsächlichen Würdigung des Streitfalls durch das FG ist im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren —von im Streitfall nicht gegebenen Ausnahmefällen abgesehen— grundsätzlich unbeachtlich (Senatsbeschluss vom - VI B 105/16, Rz 14, m.w.N.).
13 b) Der von den Klägern in ihrer Beschwerdebegründung gerügte Verstoß gegen Denkgesetze führt ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision. Ein Verstoß gegen Denkgesetze liegt nur vor, wenn der vom FG gezogene Schluss schlechthin unmöglich ist, d.h. wenn nach dem festgestellten Sachverhalt nur eine Folgerung möglich, jede andere jedoch denkgesetzlich ausgeschlossen ist und das Gericht die in diesem Sinne allein denkbare Folgerung nicht gezogen hat. Ein Verstoß gegen Denkgesetze ist dem materiellen Recht zuzurechnen und deshalb der Prüfung im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde unter dem Gesichtspunkt des Vorliegens eines Verfahrensmangels ebenfalls entzogen (, Rz 4).
14 c) Auch soweit die Kläger meinen, das FG habe den Grundsatz „in dubio pro reo“ verletzt, liegt kein Verfahrensfehler vor. Das Verfahren vor dem FG ist kein Strafprozess. Es richtet sich nach der FGO. Dies gilt auch insoweit, als das FG im Rahmen der Prüfung der Festsetzung von Hinterziehungszinsen gemäß § 235 der Abgabenordnung (AO) zur Einkommensteuer zu beurteilen hat, ob objektiv und subjektiv der Tatbestand einer Steuerhinterziehung erfüllt ist. Zwar ist insoweit auch im Besteuerungsverfahren der Grundsatz „in dubio pro reo“ zu beachten (z.B. BFH-Beschlüsse vom - X B 237/12, Rz 9, und vom - VIII B 91/01, BFH/NV 2002, 749, m.w.N.). Das FG hat diesen Grundsatz aber nicht verletzt. Denn dieser Grundsatz greift nur ein, so lange Zweifel nicht zu beheben sind. Er untersagt dem FG indes nicht, wie im Streitfall aufgrund vielfältiger Feststellungen aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu der vollen Überzeugung zu gelangen (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO), dass eine Steuerhinterziehung zu bejahen ist (, Rz 9).
15 d) Die geltend gemachte Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) haben die Kläger nicht hinreichend dargelegt.
16 Die schlüssige Rüge der Verletzung der Sachaufklärungspflicht erfordert Darlegungen dazu, welche Tatsachen das FG hätte aufklären müssen, welche entscheidungserheblichen Tatsachen sich bei einer weiteren Sachaufklärung voraussichtlich ergeben hätten, inwiefern eine weitere Aufklärung des Sachverhalts auf der Grundlage des insoweit maßgeblichen materiell-rechtlichen Standpunkts des FG zu einer anderen Entscheidung hätte führen können und aus welchen Gründen sich dem FG unter Berücksichtigung seines Rechtsstandpunkts die Notwendigkeit einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts hätte aufdrängen müssen (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsbeschluss vom - VI B 77/17, Rz 9, m.w.N.).
17 Diesen Anforderungen entspricht das Beschwerdevorbringen nicht. Die Kläger geben schon nicht an, welche konkrete entscheidungserhebliche Tatsache die Vorinstanz auf der Grundlage ihres materiell-rechtlichen Standpunkts hätte (weiter) aufklären müssen. Vielmehr wenden sich die Kläger im Stile einer Revisionsbegründung lediglich gegen die ihrer Meinung nach fehlerhafte Tatsachen- und Beweiswürdigung durch das FG. Diese ist einer Überprüfung im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren allerdings entzogen (, Rz 3, m.w.N.). Sachverhalts- und Beweiswürdigung sind revisionsrechtlich dem materiellen Recht zuzuordnen.
18 2. Die Revision ist auch nicht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).
19 a) Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Dabei muss die Rechtsfrage klärungsbedürftig und in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig sein (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsbeschluss vom - VI B 120/11, Rz 5, und vom - VI B 77/17, Rz 3).
20 b) Die Kläger halten folgende Rechtsfrage für grundsätzlich bedeutsam:
„Ist die Beachtung des nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs auch im Finanzgerichtsprozess anzuwendenden, strafrechtlichen Grundsatzes 'in dubio pro reo' für die Prüfung des Tatbestands der Hinterziehungszinsen gem. § 235 AO unbeachtlich bzw. darf das Finanzgericht diesen Grundsatz übergehen und in seinen Urteilsgründen unberücksichtigt lassen, wenn sich zwar Indizien ergeben, die für ein vorsätzliches Handeln des Steuerpflichtigen und somit die Verwirklichung des subjektiven Tatbestands der Steuerhinterziehung sprechen, jedoch gleichwohl auch solche Indizien, die gegen ein vorsätzliches bzw. grob fahrlässiges Handeln i.S.d. § 15 StGB sprechen, jedenfalls aber zumindest auf einen den Vorsatz ausschließenden Tatbestandsirrtum i.S.d. § 16 StGB schließen lassen.“
21 Dieser Rechtsfrage kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu. Wie oben bereits dargelegt wurde, entspricht es der Rechtsprechung des BFH und bedarf keiner (weiteren) höchstrichterlichen Klärung in einem Revisionsverfahren, dass der Grundsatz „in dubio pro reo“ auch im Besteuerungsverfahren zu beachten ist. Hiervon gehen die Kläger ersichtlich selbst aus. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ gilt folglich ebenfalls, soweit das FG im Rahmen der Prüfung der Festsetzung von Hinterziehungszinsen zur Einkommensteuer zu beurteilen hat, ob objektiv und subjektiv der Tatbestand einer Steuerhinterziehung erfüllt ist. Wie oben bereits dargelegt wurde, ist gleichfalls geklärt, dass dieser Grundsatz nur eingreift, so lange Zweifel nicht zu beheben sind. Die Frage, wie für und gegen das Vorliegen des subjektiven Tatbestands der Steuerhinterziehung sprechende Indizien gegeneinander abzuwägen sind und welches Gewicht einzelnen Indizien zukommt, ist eine Frage des Einzelfalls und nicht von grundsätzlicher Bedeutung i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.
22 3. Soweit die Kläger meinen, eine Entscheidung des BFH sei zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich, gehört zur schlüssigen Darlegung einer Divergenzrüge i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO u.a. eine hinreichend genaue Bezeichnung der vermeintlichen Divergenzentscheidung sowie die Gegenüberstellung tragender, abstrakter Rechtssätze aus dem angefochtenen Urteil des FG einerseits und aus der behaupteten Divergenzentscheidung andererseits, um eine Abweichung erkennbar zu machen (Senatsbeschluss vom - VI B 151/10, Rz 9). Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer darzulegen, dass das angefochtene Urteil und die vorgebliche Divergenzentscheidung dieselbe Rechtsfrage betreffen und zu gleichen oder vergleichbaren Sachverhalten ergangen sind (z.B. , Rz 2).
23 Die Beschwerdebegründung entspricht diesen Anforderungen nicht. Die Kläger haben der Vorentscheidung schon keinen tragenden, abstrakten Rechtssatz entnommen. Das von den Klägern in der Beschwerdebegründung wiedergegebene Zitat aus dem finanzgerichtlichen Urteil enthält keinen abstrakten Rechtssatz, sondern die Einzelfallwürdigung der Vorinstanz, die Äußerung des Klägers, er habe auf die Beurteilung seines Arbeitgebers vertraut und sei einem Tatbestandsirrtum i.S. von § 16 StGB erlegen, sei eine nicht glaubhafte Schutzbehauptung.
24 Einen Rechtssatz dahingehend, ein FG dürfe ein Urteil auf der Basis von Unterstellungen erlassen, die es aus sich aus dem Tatbestand nicht ergebenden Indizien ableite, ohne diese für und gegen das Vorliegen der Tatfrage gegeneinander vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung abzuwägen, hat die Vorinstanz ersichtlich nicht aufgestellt.
25 4. Von einer Darstellung des Sachverhalts und einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).
26 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2020:B.261120.VIB29.20.0
Fundstelle(n):
AO-StB 2021 S. 118 Nr. 4
BB 2021 S. 469 Nr. 8
BB 2021 S. 547 Nr. 9
BFH/NV 2021 S. 443 Nr. 4
NJW 2021 S. 806 Nr. 11
SAAAH-71708