Pflicht des FG zur Sachverhaltsaufklärung; Zulässigkeit einer öffentlichen Zustellung; Pflicht der Behörde zur Vornahme von Wohnsitzermittlungen
Gesetze: FGO § 6, FGO § 76 Abs. 1, FGO § 116 Abs. 6, VwZG § 10 Abs. 1
Instanzenzug:
Gründe
1 Die Beschwerde ist begründet.
2 Es liegt ein vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) geltend gemachter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des Finanzgerichts (FG) beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
3 1. Das FG verletzt seine aus § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO folgende Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen, wenn es ohne weitere Ermittlungen dem unbelegten Vorbringen eines —hierfür darlegungspflichtigen— Beteiligten folgt, das im finanzgerichtlichen Verfahren streitig geblieben ist. In einem solchen Fall muss das FG den aufgeworfenen Zweifeln von Amts wegen nachgehen, ohne dass es eines förmlichen Beweisantritts des nicht darlegungsbelasteten Beteiligten bedarf (vgl. , BFH/NV 2006, 1076, unter II.2.b).
4 a) Vorliegend war zwischen den Beteiligten im Klageverfahren streitig, ob die Voraussetzungen einer öffentlichen Zustellung vorgelegen haben. Von den entsprechenden Steuerbescheiden hatte der —ohne ordnungsgemäße Abmeldung bei der Meldebehörde seines letzten inländischen Wohnsitzes in die Schweiz verzogene— Kläger tatsächlich erst nach Ablauf der Einspruchsfrist aufgrund der Durchführung von Vollstreckungsmaßnahmen Kenntnis erlangt. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) hat den daraufhin eingelegten Einspruch wegen Verfristung als unzulässig verworfen.
5 Im Verlauf des Klageverfahrens hat der Kläger auf zahlreiche Ermittlungsmöglichkeiten hingewiesen, die sich seiner Ansicht nach für das FA bis zur Anordnung der öffentlichen Zustellung aus den vorliegenden Steuerakten sowie den beigezogenen Strafakten hätten ergeben können. U.a. verwies er darauf, dass er alleiniger Gesellschafter-Geschäftsführer einer ebenfalls beim FA steuerlich geführten GmbH sei. Er behauptete hierzu unter Beweisantritt, für diese Gesellschaft sei von Beginn an ein Büroservice eingerichtet gewesen, der nach dem Umzug des Klägers in die Schweiz u.a. wöchentlich die Post an dessen neue Anschrift weitergeleitet habe. Eine an die Adresse der GmbH gerichtete Anfrage des FA nach der neuen Privatanschrift des Klägers wäre entweder direkt durch den Büroservice beantwortet oder aber an den Kläger weitergeleitet worden.
6 Hierauf erwiderte das FA, für seine Körperschaftsteuerstelle sei auch die GmbH nicht erreichbar gewesen. Wiederholte Zustellversuche an die Anschrift der GmbH „sowie an andere mögliche Adressen” seien fehlgeschlagen. Auch eine Zustellung an eine im Telefonbuch eingetragene Person, die denselben Namen wie der Kläger trage, sei fehlgeschlagen. Daher wäre auch ein Versuch der Einkommensteuerstelle des FA, über die GmbH die Anschrift des Klägers zu ermitteln, sinnlos gewesen.
7 Der Kläger rügte daraufhin, der Vortrag des FA sei unsubstantiiert. Es habe weder mitgeteilt, aus welchem Grund eine Zustellung an die Anschrift der GmbH fehlgeschlagen sei, noch welche „anderen möglichen Adressen” verwendet worden seien. Auch sei offen geblieben, zu welchen Zeitpunkten die behaupteten Zustellungsversuche stattgefunden hätten und welche Ermittungen das FA nach den angeblichen Fehlschlägen unternommen habe. Ergänzend legte der Kläger e-mail-Korrespondenz zwischen ihm und dem beauftragten Büroservice-Unternehmen —unter Benennung der Inhaberin des Büroservice-Unternehmens als Zeugin— vor. Daraus ergibt sich u.a., dass der Kläger im hier maßgebenden Zeitraum —in den Monaten vor der Anordnung der öffentlichen Zustellung— über eingegangene Postsendungen informiert worden ist, dass ein Beamter der örtlichen Polizeiinspektion die Räume der GmbH aufgesucht hat, um im Wege der Amtshilfe ein in der Schweiz begangenes Verkehrsvergehen des Klägers aufzuklären, und dass eine förmliche Zustellung des örtlichen Landgerichts unter der Anschrift der GmbH vorgenommen worden ist, über die der Kläger ebenfalls noch am selben Tage unterrichtet worden ist.
8 Das FG wies die Klage ohne weitere Ermittlungen ab. Es führte zu dem Vorbringen des Klägers, das FA hätte seine Anschrift durch eine Anfrage bei der GmbH ermitteln können, aus, nach den Angaben des FA seien Zustellungsversuche an die GmbH wiederholt fehlgeschlagen. Das Gericht habe keine Veranlassung, die Richtigkeit dieser Angaben des FA in Zweifel zu ziehen.
9 b) Mit diesem Vorgehen hat das FG seine Pflicht zur Sachaufklärung verletzt. Jedenfalls nachdem der Kläger das Vorbringen des FA zu den bei der GmbH durchgeführten Zustellungsversuchen seiner Körperschaftsteuerstelle —zu Recht— als unsubstantiiert gerügt und seinerseits unter Beweisantritt substantiiert zur Erreichbarkeit der GmbH vorgetragen hat, hätte das FG seiner Entscheidung nicht ohne eigene Ermittlungen das Vorbringen des FA zugrunde legen dürfen.
10 Im Hinblick darauf, dass die öffentliche Zustellung in Fällen eines unbekannten Aufenthaltsorts des Empfängers (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes) erst als „letztes Mittel” zulässig ist, wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind, das Schriftstück dem Empfänger in anderer Weise zu übermitteln (vgl. Senatsurteil vom X R 54/06, BFHE 228, 111, BStBl II 2010, 732, unter II.2.a aa, m.w.N.), sind auch über die routinemäßigen Anfragen bei der Meldebehörde hinaus weitere Nachforschungen bei anderen Einrichtungen oder Personen anzustellen, wenn die konkrete Sachverhaltsgestaltung dies nahelegt (, BFH/NV 1992, 81).
11 So verhielt es sich im Streitfall auch hinsichtlich der Möglichkeit, durch eine Anfrage bei der GmbH die Anschrift des Klägers —des alleinigen Gesellschafters und einzigen Geschäftsführers dieser Gesellschaft— zu ermitteln. Nachdem der Kläger dies im finanzgerichtlichen Verfahren dargelegt hatte, traf das FA die Darlegungslast für das Gegenvorbringen, wonach eine Anfrage bei der GmbH nicht zum Erfolg geführt hätte. Dies gilt um so mehr, als die Angaben über die erfolglosen Versuche, der GmbH Schriftstücke zuzustellen, aus der Sphäre des FA stammten.
12 2. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
13 Dabei macht der Senat von der Möglichkeit einer Zurückverweisung des vom FG dem Einzelrichter übertragenen Rechtsstreits an den Vollsenat Gebrauch (vgl. zu § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO , BFHE 180, 509, BStBl II 1996, 478, unter 3., und vom VIII R 19/07, BFH/NV 2011, 449, unter II.4.). Denn angesichts der im zweiten Rechtsgang möglicherweise erforderlich werdenden umfangreichen Beweisaufnahme und Gesamtwürdigung ist derzeit nicht erkennbar, dass die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 FGO vorliegen könnten.
14 3. Für das weitere Verfahren weist der Senat —ohne Bindungswirkung— darauf hin, dass es naheliegend erscheint, wenn das FG auch dem weiteren —ganz überwiegend durch Verweis auf bestimmte Aktenteile sowie Benennung von Zeugen unter Beweis gestellten— Vorbringen des Klägers zu bestimmten Ermittlungsmöglichkeiten des FA nachgeht. So behauptet der Kläger, das FA habe aus den Ermittlungsakten und den Veranlagungen der Vorjahre gewusst, dass der Kläger mit seiner damaligen Verlobten bis Anfang 2006 gemeinsame Wohnanschriften gehabt habe; die Verlobte habe auch die neue Adresse des Klägers gekannt und hätte sie auf Anfrage dem FA mitgeteilt. Auch der —gleichermaßen im örtlichen Zuständigkeitsbereich des FA befindliche— Wohnsitz der Eltern des Klägers sei dem FA aus den Strafakten sowie durch die Mitteilung eines Lebensversicherungsunternehmens bekannt gewesen; die Eltern hätten auf Anfrage dem FA ebenfalls Auskunft erteilt. Eine Befragung von Angehörigen ist auch nach Auffassung der Finanzverwaltung erforderlich, bevor eine öffentliche Zustellung vorgenommen werden darf (Anwendungserlass zur Abgabenordnung zu § 122 Nr. 3.1.5.1 in der Fassung des , BStBl I 2011, 241). Zudem verweist der Kläger darauf, dass es dem FA bereits kurz nach Ablauf der Einspruchsfrist gegen die öffentlich zugestellten Bescheide gelungen sei, gegen den Kläger bei zumindest einem inländischen Kreditinstitut Vollstreckungsmaßnahmen durchzuführen, und es daher nahe gelegen hätte dieses Kreditinstitut auch nach der aktuellen Anschrift des Klägers zu fragen.
15 Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die bisherigen Feststellungen des FG nicht dessen Würdigung tragen, die Pflicht des FA zur Vornahme von Wohnsitzermittlungen sei aufgrund einer auf Verheimlichung seines Wohnsitzes gerichteten Handlungsweise des Klägers reduziert gewesen. Das FG hat sich hierfür auf das (BFH/NV 2005, 998) berufen. Jener Sachverhalt war jedoch dadurch gekennzeichnet, dass gegen den dortigen Steuerpflichtigen ein Haftbefehl bestand, dessen Vollstreckung er sich durch Flucht entzogen hatte; ferner hatte er auch gegenüber dem FG seine Anschrift nicht mitgeteilt. Damit ist der Streitfall nicht vergleichbar: Hier hat der Kläger dem FA sofort nach Kenntniserlangung von den Vollstreckungsmaßnahmen seine aktuelle Anschrift mitgeteilt. Auch hat das FG nicht festgestellt, dass gegen den Kläger ein Haftbefehl vorlag.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2011 S. 1376 Nr. 8
XAAAD-84749