Besitzen Sie diesen Inhalt bereits, melden Sie sich an.
oder schalten Sie Ihr Produkt zur digitalen Nutzung frei.

Dokumentvorschau
StuB Nr. 16 vom Seite 622

Wirecard und die Krise des Enforcement

Wie kann es mit der Bilanzkontrolle in Deutschland weitergehen?

WP/StB Prof. Dr. Holger Philipps

Der Fall Wirecard offenbarte die Grenzen der zuvor erfolgreichen zweistufigen Bilanzkontrolle in Deutschland und begründete die überraschende Kündigung des dazu zwischen dem Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (im Einvernehmen mit dem Bundesfinanzministerium) und der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung gem. § 342b Abs. 1 HGB geschlossenen Anerkennungsvertrags. Dieser Schritt ebnet den Weg für eine Reform des bisherigen Bilanzkontrollverfahrens. Reformbestrebungen dazu sind bereits angekündigt, liegen allerdings noch nicht vor. Angesichts dessen stellt sich die Frage, wie es mit der Bilanzkontrolle in Deutschland künftig weitergehen kann. Zu ihrer Beantwortung beleuchtet der Beitrag verschiedene denkbare Szenarien und zieht daraus Schlussfolgerungen hin zu einer sowohl sinnvollen als auch wahrscheinlichen Fortentwicklung des Bilanzkontrollverfahrens in Deutschland.

Zülch, Das deutsche Enforcement-Modell des Bilanzkontrollgesetzes – Ausgestaltung und Implikationen für Rechnungslegung und Abschlussprüfung, StuB 1/2005 S.  NWB GAAAB-59266

Kernfragen
  • Wie ist das bisherige deutsche Bilanzkontrollverfahren ausgestaltet und wie sind seine Akzeptanz sowie Wirkungsweise zu beurteilen?

  • Aus welchem Anlass soll das bisherige deutsche Bilanzkontrollverfahren fortentwickelt werden?

  • Welche Fortentwicklung ist beim bisherigen deutschen Bilanzkontrollverfahren als sinnvoll und wahrscheinlich zu betrachten?

I. Aktualität und Bedeutung des Themas

[i]Hütten/Lorson, Staatliches versus privates Enforcement, StuB 3/2002 S. 122 NWB OAAAB-59421Zimmermann, Beurteilungskriterien für enforcement-Modelle, StuB 8/2003 S. 353 NWB MAAAB-59961Hoffmann/Lüdenbach, NWB Kommentar Bilanzierung, 11. Aufl. 2020, § 342b NWB LAAAH-36500 Vor etwas mehr als fünfzehn Jahren wurde mit dem Bilanzkontrollgesetz im Rahmen des Enforcement die Bilanzkontrolle in Deutschland als zweistufiges Verfahren mit der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung e. V. (DPR) auf Stufe 1 und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen (BaFin) auf Stufe 2 implementiert. Vor fünf Jahren feierte die DPR ihr erstes kleines Tätigkeitsjubiläum und wurde dabei für ihre Erfolge in der Durchsetzung einer ordnungsmäßigen Rechnungslegung bei Kapitalmarktunternehmen in Deutschland auch von hochrangigen Vertretern der Bundesregierung gefeiert und anerkennend gelobt.

Es passt in diese ungewöhnlichen Zeiten der Coronavirus-Pandemie, dass nun quasi von einem auf den anderen Tag plötzlich alles anders und davon keine Rede mehr ist. Der Bilanzskandal bei Wirecard begründete am überraschend die Kündigung des bisherigen Anerkennungsvertrags mit der DPR durch das Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) im Einvernehmen mit dem Bundesfinanzministerium (BMF).

Angesichts dessen stellen sich viele Fragen, u. a. wie es dazu kommen konnte, was die „Enforcement-Player“ dazu sagen und wie es nun mit der Bilanzkontrolle in Deutschland weitergehen kann. Diese und weitere Fragen greift der Beitrag auf und beschreibt dazu in Kap. II. zunächst Motive und Ablauf sowie Wirkung der bisherigen Bilanzkontrolle in Deutschland. Anschließend werden in Kap. III. kurz der Fall Wirecard als Auslöser der Kündigung der deutschen Bilanzkontrolle sowie ihre Grenzen nach ihrer bisherigen Konzeption skizziert. Daran anknüpfend werden in Kap. IV. Überlegungen zum möglichen Fortgang der deutschen Bilanzkontrolle angestellt. S. 623

II. Das bisherige Bilanzkontrollverfahren in Deutschland

1. Motiv und Ablauf der Bilanzkontrolle

„Unternehmensskandale der Vergangenheit – verursacht durch Bilanzmanipulationen – haben das Vertrauen der Anleger in den Kapitalmarkt erschüttert. Es ist das vordringliche Ziel der Bundesregierung, das Vertrauen der Anleger in die Richtigkeit von Unternehmensabschlüssen und damit in den Kapitalmarkt wiederherzustellen und nachhaltig zu stärken.“ So beschrieb die Bundesregierung das zentrale Motiv für die Einführung der sog. Bilanzkontrolle als dritte Säule des „Enforcement“ in Deutschland neben der gesetzlichen Abschlussprüfung und der Überwachungstätigkeit durch den Aufsichtsrat.

Seitdem ist die Bilanzkontrolle in § 342b HGB und in den §§ 37n bis 37u WpHG a. F. bzw. §§ 106 bis 113 WpHG als zweistufiges Verfahren geregelt. Auf Stufe 1 ist eine privatrechtliche Einrichtung tätig. Dafür wurde gem. § 342b Abs. 1 HGB die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung e. V. (DPR), Berlin, anerkannt. Der DPR obliegt gem. § 342b Abs. 2 HGB die Prüfung der zuletzt von bestimmten Kapitalmarktunternehmen veröffentlichten Rechnungslegung auf Ordnungsmäßigkeit, soweit konkrete Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Rechnungslegungsvorschriften vorliegen, auf Verlangen der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) oder ohne besonderen Anlass (stichprobenartige Prüfung). Nur erforderlichenfalls wird diese Prüfung auf Stufe 2 durch die BaFin als staatliche Stelle weitergeführt; die BaFin unterliegt nach § 2 Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz der Rechts- und Fachaufsicht durch das BMF. Mit dieser zweistufigen Konzeption beabsichtigte der deutsche Gesetzgeber, die Bilanzkontrollverfahren anderer europäischer Länder zu kombinieren und den der Bilanzkontrolle unterliegenden Unternehmen zu ermöglichen, Meinungsverschiedenheiten über Bilanzierungsfragen nicht primär mit hoheitlichen Mitteln zu beseitigen, sondern „auf privatrechtlicher Ebene mit einem Gremium qualifizierter Fachleute zu lösen.“

Der Ablauf dieses zweistufigen Verfahrens stellt sich insgesamt wie folgt dar (vgl. Übersicht 1).

S. 624