Unzulässigkeit einer nationalen Regelung, die rückwirkend eine Verjährungsfrist für die Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge verkürzt - Vertrauensschutz
Leitsatz
[1] 1. Die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie ihre Aufgabe gemäß Artikel 5 EG-Vertrag (jetzt Artikel 10 EG), alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, obliegen allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten, und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten. Daraus folgt, dass sich ein nationales Gericht, wenn es nationales Recht bei dessen Anwendung auszulegen hat, dabei so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten muss, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Artikel 189 Absatz 3 EG-Vertrag (jetzt Artikel 249 Absatz 3 EG) nachzukommen.
( vgl. Randnr. 24 )
2. Der Einzelne kann sich vor einem nationalen Gericht gegenüber dem Staat immer dann auf die inhaltlich unbedingten und hinreichend genauen Bestimmungen einer Richtlinie berufen, wenn ihre vollständige Anwendung nicht tatsächlich gewährleistet ist, d. h. nicht nur in Fällen einer unterbliebenen oder unzureichenden Umsetzung der Richtlinie, sondern auch in dem Fall, dass die nationalen Maßnahmen, die die Richtlinie ordnungsgemäß umsetzen, nicht so angewandt werden, dass das mit der Richtlinie verfolgte Ziel erreicht wird. Denn der Erlass nationaler Maßnahmen, die eine Richtlinie ordnungsgemäß umsetzen, erschöpft nicht deren Wirkungen, und die Mitgliedstaaten müssen auch nach Erlass dieser Maßnahmen weiterhin die vollständige Anwendung der Richtlinie tatsächlich gewährleisten.
( vgl. Randnr. 27 )
3. Die Grundsätze der Effektivität und des Vertrauensschutzes stehen einer nationalen Regelung entgegen, die rückwirkend die Frist verkürzt, innerhalb deren die Erstattung von als Mehrwertsteuer gezahlten Beträgen gefordert werden kann, wenn diese unter Verstoß gegen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern erhoben wurden, die wie deren Artikel 11 Teil A Absatz 1 unmittelbare Wirkung entfalten.
Wenn nämlich der Grundsatz der Effektivität auch nicht dem entgegensteht, dass eine nationale Regelung die Frist verkürzt, innerhalb deren die Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht gezahlten Beträgen gefordert werden kann, so gilt das doch unter der Voraussetzung, nicht nur dass die neu festgesetzte Frist angemessen ist, sondern auch dass die neue Regelung eine Übergangsregelung enthält, die dem Einzelnen eine Frist einräumt, die ausreicht, um nach Erlass der Regelung die Erstattungsansprüche geltend zu machen, die er unter der alten Regelung hätte geltend machen können. Eine solche Übergangsregelung ist erforderlich, wenn die sofortige Anwendung einer kürzeren Verjährungsfrist als der bis dahin geltenden auf diese Ansprüche manchen Personen rückwirkend ihren Erstattungsanspruch nähme oder ihnen zu wenig Zeit für seine Geltendmachung ließe.
Im Übrigen steht der Grundsatz des Vertrauensschutzes dem entgegen, dass einem Steuerpflichtigen durch eine Änderung des nationalen Rechts rückwirkend der ihm zuvor zustehende Anspruch auf Erstattung von Abgaben genommen wird, die unter Verstoß gegen unmittelbare Wirkung entfaltende Bestimmungen der Sechsten Richtlinie erhoben wurden.
( vgl. Randnrn. 38, 46-47 und Tenor )
Gesetze: EG-Vertrag Art. 5; EG-Vertrag Art. 189 Abs. 3; Richtlinie 77/388 Art. 11 Teil A Abs. 1
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf)
Gründe
1 Der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) hat mit Beschluss vom , beim Gerichtshof eingegangen am 28. Februar 2000, gemäß Artikel 234 EG eine Frage nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Marks & Spencer plc (nachfolgend: Marks & Spencer) und den im Vereinigten Königreich für die Erhebung der Mehrwertsteuer zuständigen Commissioners of Customs & Excise (nachfolgend: Commissioners) über die Erstattung von Mehrwertsteuer, die von Marks & Spencer rechtsgrundlos gezahlt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Die Gemeinschaftsregelung
3 In Artikel 11 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, nachfolgend: Sechste Richtlinie) heißt es:
A. Im Inland
(1) Die Besteuerungsgrundlage ist:
a) bei Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter den Buchstaben b, c und d genannt sind, alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistende für diese Umsätze vom Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen;
..."
Die nationale Regelung
4 Nach Ansicht der Parteien des Ausgangsverfahrens und des vorlegenden Gerichts ist Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie im Vereinigten Königreich erst mit Wirkung vom durch den Finance (No. 2) Act 1992, mit dem Section 10(3) des Value Added Tax Act 1983 geändert wurde, ordnungsgemäß umgesetzt worden.
5 Die letztgenannte Vorschrift lautet nunmehr:
Erfolgt die Lieferung im Austausch für eine Gegenleistung, die nicht oder nicht in vollem Umfang in Geld besteht, so bestimmt sich ihr Wert nach dem Betrag, der zuzüglich der angefallenen Steuer der Gegenleistung entspricht."
6 Was die Rechtsvorschriften über die Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Mehrwertsteuerbeträge anbelangt, lauteten die einschlägigen Bestimmungen von Section 24 des Finance Act 1989 (mit Wirkung vom ) wie folgt:
(1) Hat eine Person einen Betrag als Mehrwertsteuer ohne Rechtsgrund an die Commissioners entrichtet, so besteht gegen diese ein Anspruch auf Erstattung des Betrages.
(2) Die Commissioners erstatten einen Betrag nach dieser Section nur, wenn ein entsprechender Anspruch geltend gemacht wird.
...
(4) Ein Erstattungsanspruch nach dieser Section verjährt, soweit in Subsection (5) nichts anderes bestimmt ist, nach Ablauf von sechs Jahren ab dem Zeitpunkt der Zahlung.
(5) Ist ein Betrag an die Commissioners irrtümlich entrichtet worden, so kann ein Anspruch auf Erstattung nach dieser Section innerhalb von sechs Jahren ab dem Zeitpunkt geltend gemacht werden, zu dem der Anspruchsteller den Irrtum bemerkt hat oder bei Anwendung der angemessenen Sorgfalt hätte bemerken können.
...
(7) Außer nach dieser Section begründet der Umstand, dass ein Betrag ohne Rechtsgrund als Mehrwertsteuer an die Commissioners entrichtet worden ist, keinen Anspruch gegen diese auf Erstattung des Betrages.
..."
7 Section 24 des Finance Act 1989 wurde mit Wirkung vom 1. September 1994 aufgehoben und durch Section 80 des Value Added Tax Act 1994 ersetzt. Die maßgeblichen Bestimmungen von Section 80 haben fast denselben Wortlaut wie Section 24.
8 Am gab ein Regierungsmitglied, der Generalzahlmeister, im Parlament bekannt, dass die Regierung angesichts zunehmender Risiken für den Staatshaushalt aufgrund von Anträgen auf Erstattung von zu Unrecht als Steuern erhobenen Beträgen beabsichtige, in der Finance Bill 1997 die Verjährungsfrist für Anträge auf Erstattung der Mehrwertsteuer und anderer indirekter Steuern auf drei Jahre zu verkürzen. Die neue Verjährungsfrist sollte für die zum Zeitpunkt dieser Ankündigung noch nicht beschiedenen Anträge sofort gelten, um zu verhindern, dass der Gesetzesänderung durch den Zeitablauf bis zum Abschluss des parlamentarischen Verfahrens ihre Wirkung genommen werde.
9 Am nahm das Unterhaus die Haushaltsvorlage der Regierung einschließlich des Vorschlags vom , der zu Section 47 der Finance Bill 1997 wurde, an.
10 Der Finance Act 1997 wurde am endgültig erlassen. Section 47(1) des Finance Act 1997 änderte Section 80 des Value Added Tax Act 1994 insofern, als Section 80(5) aufgehoben wurde und Section 80(4) nunmehr wie folgt lautet:
Ein Erstattungsanspruch gegen die Commissioners nach dieser Section besteht nicht für Beträge, die mehr als drei Jahre vor Geltendmachung des Anspruchs an sie entrichtet wurden."
11 Section 47(2) des Finance Act 1997 bestimmt:
... Subsection (1) gilt als am 18. Juli 1996 in Kraft getretene Bestimmung, die für Erstattungen ab diesem Zeitpunkt auf alle Ansprüche nach Section 80 des Value Added Tax Act 1994 einschließlich der Ansprüche anwendbar ist, die vor diesem Zeitpunkt geltend gemacht wurden, und derjenigen, die sich auf Zahlungen vor diesem Zeitpunkt beziehen."
Sachverhalt und Ausgangsverfahren
12 Marks & Spencer ist ein Einzelhandelsunternehmen mit Sitz im Vereinigten Königreich, das auf den Verkauf von Lebensmitteln und Kleidung spezialisiert ist.
13 Marks & Spencer verkaufte Einkaufsgutscheine an Unternehmen zu einem Preis, der niedriger war als der Nennwert der Gutscheine. Die Einkaufsgutscheine wurden dann an Dritte verkauft oder verschenkt, die sie bei Marks & Spencer gegen Waren einlösen konnten, deren Preis dem Nennwert der Gutscheine entsprach.
14 Im Dezember 1990 machte Marks & Spencer gegenüber den Commissioners geltend, dass sie die Mehrwertsteuererklärung für diejenigen Beträge abgeben müsse, die sie durch den Verkauf der Gutscheine erzielt habe, und nicht für den Nennwert der Gutscheine.
15 Im Januar 1991 entschieden die Commissioners, dass Marks & Spencer die Mehrwertsteuererklärung für den Nennwert der Gutscheine abzugeben habe. Marks & Spencer tat dies, bis der Gerichtshof über diese Frage in seinem Urteil vom in der Rechtssache C-288/94 (Argos Distributors, Slg. 1996, I-5311) entschied. Dort hat der Gerichtshof Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie dahin ausgelegt, dass in einem Fall, in dem ein Lieferant an einen Erwerber einen Gutschein unter Gewährung eines Rabatts mit dem Versprechen verkauft hat, diesen Gutschein später beim Kauf von Waren durch einen Kunden, der nicht der Erwerber des Gutscheins war und der normalerweise den tatsächlichen, vom Lieferanten beim Verkauf des Gutscheins verlangten Preis nicht kennt, zu seinem Nennwert als vollständige oder teilweise Bezahlung anzunehmen, die durch den Gutschein gebildete Gegenleistung der Betrag ist, den der Lieferant beim Verkauf des Gutscheins tatsächlich erhalten hat.
16 Infolge des Urteils Argos Distributors stellte sich heraus, dass die Mehrwertsteuerregelung, die die Commissioners auf die von Marks & Spencer verkauften Einkaufsgutscheine angewandt hatten, fehlerhaft war. Deshalb beantragte Marks & Spencer mit Schreiben vom bei den Commissioners Erstattung der Mehrwertsteuer in Höhe von 2 638 057 GBP, die sie aufgrund des betreffenden Fehlers für den Zeitraum von Mai 1991 bis August 1996 rechtsgrundlos entrichtet hatte. Dieser Antrag wurde mit Schreiben vom 6. und vom präzisiert.
17 Mit Schreiben vom erklärten sich die Commissioners bereit, den Teil der Mehrwertsteuer auf den Verkauf der Einkaufsgutscheine im betreffenden Zeitraum zu erstatten, der von der Einführung der dreijährigen Verjährungsfrist zum unberührt blieb. Die entsprechende Erstattung an Marks & Spencer in Höhe von 1 913 462 GBP wurde am vorgenommen.
18 Marks & Spencer legte bei den Commissioners gegen deren Entscheidung, die dreijährige Verjährungsfrist auf ihre Forderung anzuwenden, Einspruch ein, den die Commissioners aber zurückwiesen.
19 Am focht Marks & Spencer die Zurückweisung beim VAT and Duties Tribunal London (Vereinigtes Königreich) an, das die Klage am abwies. Marks & Spencer legte gegen dieses Urteil Rechtsmittel beim High Court of Justice (England & Wales), Queen's Bench Division (Crown Office) (Vereinigtes Königreich), ein, der das Rechtsmittel mit Entscheidung vom zurückwies. Dagegen legte Marks & Spencer ein weiteres Rechtsmittel beim Court of Appeal ein.
20 Soweit es um die Erstattung der Mehrwertsteuer ging, die im Zusammenhang mit dem Verkauf der Einkaufsgutscheine für den Zeitraum von August 1992 bis August 1996 rechtsgrundlos entrichtet worden war, wies der Court of Appeal das Rechtsmittel von Marks & Spencer mit Urteil vom 14. Dezember 1999 zurück.
21 Da er dagegen der Ansicht war, dass der Ausgang des Rechtsstreits hinsichtlich der Erstattung der Mehrwertsteuer, die rechtsgrundlos für den Verkauf der Einkaufsgutscheine von Mai 1991 bis Juli 1992 entrichtet worden war, von einer Auslegung des Gemeinschaftsrechts abhänge, hat er das Verfahren über diesen Teil des Rechtsstreits ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist es, wenn ein Mitgliedstaat Artikel 11 Teil A der Richtlinie 77/388 des Rates nicht ordnungsgemäß in sein nationales Recht umgesetzt hat, mit dem Grundsatz der praktischen Wirksamkeit von Rechten, die einem Steuerpflichtigen nach Artikel 11 Teil A zustehen, oder mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes vereinbar, ein Gesetz zu vollziehen, das rückwirkend einen nach nationalem Recht gegebenen Anspruch auf Erstattung von Beträgen beseitigt, die mehr als drei Jahre vor Erhebung des Anspruchs als Mehrwertsteuer entrichtet wurden?
Zur Vorlagefrage
22 Vorab ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht gemäß dem Vorlagebeschluss der Ansicht ist, Artikel 11 Teil A Absatz 1 der Sechsten Richtlinie sei unbedingt und hinreichend genau und verleihe Marks & Spencer somit Rechte, auf die sie sich vor einem nationalen Gericht berufen könne, was jedoch nur für den Zeitraum gelte, in dem die genannte Vorschrift noch nicht ordnungsgemäß in das nationale Recht des Vereinigten Königreichs umgesetzt gewesen sei, also für den Zeitraum vor dem . Aus diesem Grund hat das vorlegende Gericht seine Frage auf den Fall beschränkt, dass ein Mitgliedstaat Artikel 11 Teil A der Sechsten Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat.
23 Es ist nämlich davon ausgegangen, dass sich ein Einzelner dann nicht mehr vor den Gerichten eines Mitgliedstaats auf die Rechte berufen kann, die ihm gegebenenfalls aus Richtlinienbestimmungen wie Artikel 11 Teil A Absatz 1 der Sechsten Richtlinie erwachsen, wenn der betreffende Mitgliedstaat diese ordnungsgemäß in sein nationales Recht umgesetzt hat.
24 Dazu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie ihre Aufgabe gemäß Artikel 5 EG-Vertrag (jetzt Artikel 10 EG), alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten obliegen, und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten (siehe u. a. Urteil vom in der Rechtssache C-168/95, Arcaro, Slg. 1996, I-4705, Randnr. 41). Daraus folgt, dass sich ein nationales Gericht, wenn es nationales Recht bei dessen Anwendung auszulegen hat, dabei so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten muss, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Artikel 189 Absatz 3 EG-Vertrag (jetzt Artikel 249 Absatz 3 EG) nachzukommen (siehe u. a. Urteile vom in der Rechtssache C-106/89, Marleasing, Slg. 1990, I-4135, Randnr. 8, und vom in der Rechtssache C-334/92, Wagner Miret, Slg. 1993, I-6911, Randnr. 20).
25 Sodann können sich nach ständiger Rechtsprechung die Einzelnen in all den Fällen, in denen Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor einem nationalen Gericht gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat (vgl. u. a. Urteile vom in der Rechtssache 8/81, Becker, Slg. 1982, 53, Randnr. 25, vom in der Rechtssache 103/88, Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839, Randnr. 29, und vom 1. Juni 1999 in der Rechtssache C-319/97, Kortas, Slg. 1999, I-3143, Randnr. 21).
26 Schließlich muss nach ständiger Rechtsprechung die Umsetzung einer Richtlinie deren vollständige Anwendung tatsächlich gewährleisten (siehe in diesem Sinn u. a. Urteile vom 9. September 1999 in der Rechtssache C-217/97, Kommission/Deutschland, Slg. 1999, I-5087, Randnr. 31, und vom in der Rechtssache C-214/98, Kommission/Griechenland, Slg. 2000, I-9601, Randnr. 49).
27 Aus alledem ergibt sich, dass der Erlass nationaler Maßnahmen, die eine Richtlinie ordnungsgemäß umsetzen, nicht deren Wirkungen erschöpft, und dass die Mitgliedstaaten auch nach Erlass dieser Maßnahmen weiterhin die vollständige Anwendung der Richtlinie tatsächlich gewährleisten müssen. Daher kann sich der Einzelne vor einem nationalen Gericht gegenüber dem Staat immer dann auf die inhaltlich unbedingten und hinreichend genauen Bestimmungen einer Richtlinie berufen, wenn ihre vollständige Anwendung nicht tatsächlich gewährleistet ist, d. h. nicht nur in Fällen einer unterbliebenen oder unzureichenden Umsetzung der Richtlinie, sondern auch in dem Fall, dass die nationalen Maßnahmen, die die Richtlinie ordnungsgemäß umsetzen, nicht so angewandt werden, dass das mit der Richtlinie verfolgte Ziel erreicht wird.
28 Wie der Generalanwalt in Nummer 40 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, wäre es mit der Gemeinschaftsrechtsordnung unvereinbar, dass der Einzelne sich auf eine Richtlinie berufen könnte, wenn sie unzulänglich umgesetzt wurde, dies aber nicht tun könnte, wenn die nationale Verwaltung die nationalen Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie in einer gegen diese verstoßenden Art und Weise anwendet.
29 Zu Artikel 11 Teil A Absatz 1 der Sechsten Richtlinie ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass diese Vorschrift dem Einzelnen Rechte verleiht, auf die er sich vor den nationalen Gerichten berufen kann (Urteil vom in der Rechtssache C-62/93, BP Soupergaz, Slg. 1995, I-1883, Randnr. 35).
30 Nach ständiger Rechtsprechung stellt das Recht auf Erstattung von Abgaben, die in einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhoben wurden, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die dem Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof erwachsen (siehe u. a. Urteile vom in der Rechtssache 309/85, Barra, Slg. 1988, 355, Randnr. 17, BP Soupergaz, Randnr. 40, vom in der Rechtssache C-343/96, Dilexport, Slg. 1999, I-579, Randnr. 23, und vom in den Rechtssachen C-397/98 und C-410/98, Metallgesellschaft u. a., Slg. 2001, I-1727, Randnr. 84).
31 Aus alledem folgt, dass der Umstand, dass ein Mitgliedstaat Artikel 11 Teil A Absatz 1 der Sechsten Richtlinie ordnungsgemäß in sein nationales Recht umgesetzt hat, dem Einzelnen nicht die Möglichkeit nimmt, sich vor den Gerichten dieses Staates auf die ihm aus dieser Vorschrift erwachsenden Rechte zu berufen, zu denen auch der Anspruch auf Erstattung der Beträge gehört, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die genannte Vorschrift eingezogen hat.
32 Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Artikel 234 EG eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofes, dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben (siehe u. a. Urteile vom in der Rechtssache C-334/95, Krüger, Slg. 1997, I-4517, Randnr. 22, und vom in der Rechtssache C-88/99, Roquette Frères, Slg. 2000, I-10465, Randnr. 18). Dementsprechend hat der Gerichtshof die ihm vorgelegte Frage gegebenenfalls umzuformulieren (Urteile Krüger, Randnr. 23, und Roquette Frères, Randnr. 18).
33 Die Vorlagefrage ist daher so zu verstehen, dass sie dahin geht, ob die Grundsätze der Effektivität und des Vertrauensschutzes einer nationalen Regelung entgegenstehen, die rückwirkend die Frist verkürzt, innerhalb deren die Erstattung von als Mehrwertsteuer gezahlten Beträgen gefordert werden kann, wenn diese unter Verstoß gegen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie erhoben wurden, die wie deren Artikel 11 Teil A Absatz 1 unmittelbare Wirkung entfalten.
Zum Grundsatz der Effektivität
34 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass es beim Fehlen einer Gemeinschaftsregelung über die Erstattung rechtsgrundlos erhobener nationaler Abgaben Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten ist, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten der Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, sofern diese Modalitäten nicht weniger günstig ausgestaltet sind als die entsprechender innerstaatlicher Klagen (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (siehe u. a. Urteil vom 17. November 1998 in der Rechtssache C-228/96, Aprile, Slg. 1998, I-7141, Randnr. 18, sowie Urteile Dilexport, Randnr. 25, und Metallgesellschaft u. a., Randnr. 85).
35 In Bezug auf den Effektivitätsgrundsatz hat der Gerichtshof anerkannt, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit, die sowohl den Abgabenpflichtigen als auch die Behörde schützt, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist (siehe Urteil Aprile, Randnr. 19, und die dort zitierte Rechtsprechung). Solche Fristen sind nämlich nicht geeignet, die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint eine nationale Verjährungsfrist von drei Jahren, die mit dem Zeitpunkt der fraglichen Zahlung beginnt, angemessen (siehe u. a. Urteile Aprile, Randnr. 19, und Dilexport, Randnr. 26).
36 Außerdem geht aus den Urteilen Aprile (Randnr. 28) und Dilexport (Randnrn. 41 und 42) hervor, dass eine nationale Regelung, die die Frist verkürzt, innerhalb deren die Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht gezahlten Beträgen gefordert werden kann, unter bestimmten Voraussetzungen mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Zum einen darf diese Regelung nicht dazu bestimmt sein, gerade die Auswirkungen eines Urteils des Gerichtshofes zu begrenzen, mit dem eine nationale Regelung über eine bestimmte Abgabe für mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar befunden wurde. Zum anderen muss eine solche Regelung, was die Modalitäten ihrer zeitlichen Anwendung betrifft, eine Frist festsetzen, die ausreicht, um die Wirksamkeit des Erstattunganspruchs sicherzustellen. Dazu hat der Gerichtshof ausgeführt, dass eine Regelung, die keine echte Rückwirkung entfaltet, dieser Voraussetzung genügt.
37 Dagegen ist aber festzustellen, dass der letztgenannten Voraussetzung eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche nicht genügt, die den Zeitraum, während dessen die Erstattung von rechtsgrundlos als Mehrwertsteuer gezahlten Beträgen gefordert werden kann, von sechs auf drei Jahre verkürzt und dabei vorsieht, dass diese neue Frist mit sofortiger Wirkung für alle Ansprüche gilt, die nach dem Erlass dieser Regelung geltend gemacht werden, sowie für die Ansprüche, die zwischen diesem Zeitpunkt und dem davor liegenden Zeitpunkt des Inkrafttretens der Regelung erhoben wurden, und für die Erstattungsansprüche, die vor dem Inkrafttreten geltend gemacht wurden und zu diesem Zeitpunkt noch anhängig waren.
38 Wenn nämlich der Grundsatz der Effektivität auch nicht dem entgegensteht, dass eine nationale Regelung die Frist verkürzt, innerhalb deren die Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht gezahlten Beträgen gefordert werden kann, so gilt das doch unter der Voraussetzung, nicht nur dass die neu festgesetzte Frist angemessen ist, sondern auch dass die neue Regelung eine Übergangsregelung enthält, die dem Einzelnen eine Frist einräumt, die ausreicht, um nach Erlass der Regelung die Erstattungsansprüche geltend zu machen, die er unter der alten Regelung hätte geltend machen können. Eine solche Übergangsregelung ist erforderlich, wenn die sofortige Anwendung einer kürzeren Verjährungsfrist als der bis dahin geltenden auf diese Ansprüche manchen Personen rückwirkend ihren Erstattungsanspruch nähme oder ihnen zu wenig Zeit für seine Geltendmachung ließe.
39 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein Mitgliedstaat grundsätzlich verpflichtet ist, unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobene Abgaben zu erstatten (Urteil vom in den Rechtssachen C-192/95 bis C-218/95, Comateb u. a., Slg. 1997, I-165, Randnr. 20, und Dilexport, Randnr. 23); wenn der Gerichtshof als Ausnahme von diesem Grundsatz anerkannt hat, dass die Festsetzung von angemessenen Fristen für die Forderung einer solchen Erstattung mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, so liegt das, wie oben in Randnummer 35 ausgeführt, im Interesse der Rechtssicherheit. Um aber ihren Zweck zu erfüllen, die Rechtssicherheit zu gewährleisten, muss eine Verjährungsfrist im Voraus festgelegt werden (Urteil vom in der Rechtssache 41/69, ACF Chemiefarma/Kommission, Slg. 1970, 661, Randnr. 19).
40 Daher ist eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, deren Rückwirkung dem Einzelnen jede Möglichkeit nimmt, einen ihm zuvor zustehenden Anspruch auf Erstattung derjenigen Beträge geltend zu machen, die unter Verstoß gegen unmittelbare Wirkung entfaltende Bestimmungen der Sechsten Richtlinie als Mehrwertsteuer von ihm erhoben wurden, mit dem Grundsatz der Effektivität unvereinbar.
41 Dies gilt ungeachtet des Vorbringens der Regierung des Vereinigten Königreichs, dass dem Erlass der im Ausgangsverfahren streitigen Regelung das legitime Ziel zugrunde gelegen habe, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den Interessen der Einzelnen und denen der Gesamtheit herzustellen und es dem Staat zu ermöglichen, seine Einnahmen und Ausgaben ohne Störung durch unvorhergesehene größere Verbindlichkeiten zu planen.
42 Denn ein solches Ziel kann zwar, wie oben in Randnummer 35 ausgeführt, die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung rechtfertigen, nicht aber die Anwendung dieser Fristen auf eine solche Art und Weise, dass die Wahrung der dem Einzelnen durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte nicht mehr gewährleistet ist.
Zum Grundsatz des Vertrauensschutzes
43 Die Regierung des Vereinigten Königreichs macht geltend, der Grundsatz des Vertrauensschutzes sei in einem Rechtsstreit wie dem Ausgangsverfahren nicht einschlägig. Die Festlegung der Verfahrensmodalitäten, nach denen ein Steuerpflichtiger die Erstattung von zu viel als Mehrwertsteuer gezahlten Beträgen fordern könne, sei, sofern nur die Gemeinschaftsgrundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beachtet würden, voll und ganz eine Angelegenheit des nationalen Rechts. Wenn der Grundsatz des Vertrauensschutzes im Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbar sein sollte, so nur in dem Sinn, dass der Einzelne ein Recht darauf habe, dass seine Forderung gemäß den durch das nationale Recht festgelegten Verfahrensmodalitäten geprüft werde, was hier der Fall gewesen sei.
44 Insofern ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung der Grundsatz des Vertrauensschutzes Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung ist und von den Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Gemeinschaftsregelungen beachtet werden muss (siehe in diesem Sinn Urteile vom in der Rechtssache 316/86, Krücken, Slg. 1988, 2213, Randnr. 22, vom in den Rechtssachen C-31/91 bis C-44/91, Lageder u. a., Slg. 1993, I-1761, Randnr. 33, vom in der Rechtssache C-381/97, Belgocodex, Slg. 1998, I-8153, Randnr. 26, und vom 8. Juni 2000 in der Rechtssache C-396/98, Schlossstraße, Slg. 2000, I-4279, Randnr. 44).
45 Der Gerichtshof hat insbesondere entschieden, dass der Grundsatz des Vertrauensschutzes dem entgegensteht, dass einem Steuerpflichtigen durch eine Änderung des nationalen Rechts rückwirkend ein auf der Grundlage der Sechsten Richtlinie erworbenes Recht auf Vorsteuerabzug genommen wird (Urteil Schlossstraße, Randnr. 47).
46 Genauso ist in einer Situation wie der des Ausgangsrechtsstreits davon auszugehen, dass der Grundsatz des Vertrauensschutzes gilt und dem entgegensteht, dass einem Steuerpflichtigen durch eine Änderung des nationalen Rechts rückwirkend der ihm zuvor zustehende Anspruch auf Erstattung von Abgaben genommen wird, die unter Verstoß gegen unmittelbare Wirkung entfaltende Bestimmungen der Sechsten Richtlinie erhoben wurden.
47 Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass die Grundsätze der Effektivität und des Vertrauensschutzes einer nationalen Regelung entgegenstehen, die rückwirkend die Frist verkürzt, innerhalb deren die Erstattung von als Mehrwertsteuer gezahlten Beträgen gefordert werden kann, wenn diese unter Verstoß gegen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie erhoben wurden, die wie deren Artikel 11 Teil A Absatz 1 unmittelbare Wirkung entfalten.
Kostenentscheidung:
Kosten
48 Die Auslagen der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV-Beilage 2002 S. 144 Nr. 4
MAAAB-72859
1Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg