Betriebsänderung, Interessenausgleich und Sozialplan
I. Einführung
Die Betriebsänderung - definiert in § 111 - löst verschiedene Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates (BR) aus. Die Mitbestimmung des BR bei Betriebsänderungen stellt den Kernbereich der Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten dar. Sie besteht neben Informations- und Beratungsrechten darin, daß der BR Verhandlungen über einen Interessenausgleich (§ 112) und den Abschluß eines Sozialplans (§§ 112, 112a) erzwingen kann.
II. Voraussetzungen und Fälle der Betriebsänderung
1. Allgemeine Voraussetzungen
Betriebsverfassungsrechtlich sind Betriebsänderungen nur in Betrieben mit i. d. R. mehr als 20 wahlberechtigten AN bedeutsam. Der daraus folgende Ausschluß von Kleinbetrieben ist verfassungsrechtlich haltbar ( DB 1990 S. 694). Für Kleinbetriebe besteht allerdings die Möglichkeit, im Rahmen einer freiwilligen Betriebsvereinbarung einen Sozialplan abzuschließen ( NZA 1987 S. 464).
Weitere Voraussetzung für das Entstehen der Mitbestimmungsrechte ist, daß vor der Betriebsänderung im Betrieb ein gewählter BR existiert. Ohne BR bestehen die Rechte nach §§ 111 ff. nicht, ohne BR entsteht folglich auch kein Sozialplananspruch für den einzelnen AN. Wird im Betrieb ein BR erst gewählt, nachdem mit der Betriebsänderung bereits begonnen worden ist, kommen dem BR keine Mitbestimmungsrechte zu, selbst wenn der ArbG vor der Durchführung der Betriebsänderung von der Absicht wußte, im Betrieb einen BR zu wählen ( DB 1993 S. 385). Dagegen ist unerheblich, ob die Betriebsänderung letztendlich zur Auflösung des BR führt (z. B. durch Betriebsstillegung, Betriebsaufspaltung). Der BR behält insoweit ein Restmandat ( DB 1987 S. 1842).
2. Die Tatbestände der Betriebsänderung nach § 111
Nach § 111 Satz 2 gelten die dort in Nr. 1-5 aufgeführten Tatbestände als Betriebsänderung. Die dort vorgenommene katalogartige Aufzählung ist nicht abschließend, wenngleich alle praktisch wesentlichen Fälle damit bereits erfaßt sind (Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither § 111 Rz. 15).
a) Einschränkung und Stillegung des ganzen Betriebes oder von wesentlichen Betriebsteilen (§ 111 Satz 2 Nr. 1)
Betriebsstillegung ist nach der st. Rspr. des BAG die Auflösung der zwischen ArbG und AN bestehenden Betriebs- und Produktionsgemeinschaft, die ihre Veranlassung und zugleich ihren unmittelbaren Ausdruck darin findet, daß der S. 3960ArbG die bisherige wirtschaftliche Betätigung in der ernstlichen Absicht einstellt, die Weiterverfolgung des bisherigen Betriebszwecks dauernd oder jedenfalls für eine ihrer Dauer nach unbestimmte, wirtschaftlich nicht unerhebliche Zeitspanne einzustellen ( NZA 1988 S. 170; BB 1992 S. 1067). Eine Betriebseinschränkung liegt demgegenüber vor, wenn der Betriebszweck zwar weiterverfolgt wird, dies jedoch unter einer nicht nur vorübergehenden Herabsetzung der Betriebsleistung geschieht (Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither § 111 Rz. 18).
Der bloße Personalabbau ist als - wichtigster - Anwendungsfall der Betriebseinschränkung anerkannt. Dies geschah zunächst durch die Rspr. ( DB 1980 S. 1402) und ist durch den Gesetzgeber in § 112a BetrVG bestätigt worden (vgl. auch BB 1988 S. 2387). Ob ein in diesem Sinne rechtlich erheblicher Personalabbau vorliegt, richtet sich nach der Zahl der Entlassungen, und zwar nach den Zahlenwerten, die § 17 Abs. 1 KSchG für Massenentlassungen vorgibt ( DB 1989 S. 883; NZA 1991 S. 113). Danach gilt folgende Zahlenstaffel:
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Betriebe mit 21- 59 AN : mindestens 6
AN Betriebe mit 60-499 AN : entweder mindestens 10 % der AN oder mehr als 25 AN Betriebe ab 500 AN : mindestens 30 AN. |
Zusätzlich hat das BAG ( DB 1983 S. 2776) verlangt, daß mindestens 5 % der Belegschaft entlassen werden (kritisch hierzu mit Recht Otto a. a. O. S. 77). Bei der Ermittlung der Zahl der Entlassungen ist unerheblich, ob es sich um Teilzeit- oder Vollzeitbeschäftigte handelt. Als Entlassung gilt dabei nicht nur die betriebsbedingte Kündigung, sondern nach § 112a Abs. 1 Satz 2 auch das vom ArbG veranlaßte Ausscheiden durch Aufhebungsvertrag. Da es auf die rechtstechnische Form des Ausscheidens nicht ankommt, zählt auch die vom ArbG veranlaßte Eigenkündigung des AN als Entlassung ( BB 1988 S. 2387). Das mag folgendes Beispiel verdeutlichen:
Der ArbG plant einen Personalabbau, beruft hierzu eine Betriebsversammlung ein und empfiehlt den AN, sich nach anderen Arbeitsplätzen umzusehen. Daraufhin kündigen die betroffenen AN ( BB 1993 S. 792).
Das BAG hat in dieser Fallgestaltung mit Recht eine arbeitgeberseitig veranlaßte Eigenkündigung gesehen, auch wenn sich nachträglich herausstellte, daß dem die Sozialplanabfindung begehrenden AN wegen einer Verbesserung der Auftragslage nicht gekündigt worden wäre. Eine arbeitgeberseitig veranlaßte Eigenkündigung liegt hingegen nicht vor, wenn der AN erst drei Monate nach einem entsprechenden Personalgespräch kündigt, obwohl er zu diesem Zeitpunkt keinen Grund für die Annahme mehr hatte, ihm werde infolge eines Personalabbaus gekündigt werden ( BB 1993 S. 793).
Betriebsstillegung und Betriebseinschränkung müssen sich nicht auf den gesamten Betrieb erstrecken. Es genügt, wenn wesentliche Betriebsteile betroffen sind. Die Beurteilung der Wesentlichkeit eines Betriebsteils richtet sich nach der Rspr. wiederum nach der Anzahl der betroffenen AN, wobei erneut die Zahlenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG für Massenentlassungen herangezogen werden ( DB 1989 S. 883: Reinigungsabteilung einer Druckerei; NZA 1991 S. 113: Schärerei einer Samt- und Plüschweberei). Nicht entscheidend ist, ob in dem stillgelegten Betriebsteil bislang ein wesentliches Vorprodukt gefertigt wurde, das nunmehr von Dritten angekauft wird. Dies kann allenfalls i. S. v. § 111 Satz 2 Nr. 5 erheblich sein ( NZA 1991 S. 113).
b) Verlegung des ganzen Betriebs oder von wesentlichen Betriebsteilen (§ 111 Satz 2 Nr. 2)
Verlegung ist jede wesentliche Veränderung der örtlichen Lage des Betriebs bzw. von wesentlichen Betriebsteilen, die mit nicht ganz unerheblichen Erschwerungen für die Belegschaft verbunden ist. Dabei stellt die Rspr. im Hinblick auf die räumliche Entfernung relativ geringe Anforderungen. So bejahte das BAG eine S. 3961Verlegung i. S. des § 111 bei einem Umzug von 4,3 km vom Zentrum an den Stadtrand ( DB 1983 S. 344). Allerdings hat die Entfernung maßgeblichen Einfluß bei der Ermittlung der im Wege des Sozialplans auszugleichenden Nachteile der AN ( DB 1983 S. 1264).
Keine Betriebsverlegung, sondern eine Betriebsstillegung ist gegeben, wenn die alte Betriebsgemeinschaft aufgelöst wird und der Aufbau einer im wesentlichen neuen Betriebsgemeinschaft am neuen Betriebssitz erfolgt ( NZA 1988 S. 170).
c) Zusammenschluß mit anderen Betrieben (§ 111 Satz 2 Nr. 3)
Die Zusammenfassung zweier bislang selbständiger Betriebe kann entweder durch die Aufnahme eines Betriebs in die bestehende betriebliche Organisation eines anderen Betriebs oder durch die Bildung einer gänzlich neuen Betriebseinheit erfolgen. Beide Vorgänge erfüllen die Voraussetzungen des § 111 Satz 2 Nr. 3 (vgl. Kreßel, DB 1989 S. 1623). Das gilt ebenso für die Zusammenlegung eines selbständigen Betriebsteils oder eines Nebenbetriebes mit einem anderen Betrieb oder Betriebsteil (Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither § 111 Rz. 27).
Nicht hierunter fällt der Betriebsübergang auf einen neuen Inhaber. Insoweit sind die AN durch § 613a BGB geschützt (vgl. Meyerhoff, NWB F. 26 S.2309). Erst wenn mit dem Betriebsübergang weitere Maßnahmen verbunden sind (z. B. Personalreduzierung), die einen der Betriebsänderungstatbestände erfüllen, kann sich der BR auf die Mitbestimmungsrechte nach §§ 111 ff. stützen.
d) Grundlegende Änderungen der Betriebsorganisation, des Betriebszwecks oder der Betriebsanlagen (§ 111 Satz 2 Nr. 4)
Grundlegend ist jede Änderung, die nicht nur einer laufenden Verbesserung entspricht, sondern maßgebliche Auswirkungen auf den Betriebsablauf hat. Es muß eine erhebliche Bedeutung für das betriebliche Gesamtgeschehen vorliegen. Im Zweifelsfall stellt das BAG dabei erneut auf die Zahl der betroffenen AN ab ( DB 1983 S. 1766).
Eine Änderung der Betriebsorganisation ist gegeben, wenn eine vollständige Änderung des Betriebsaufbaus erfolgt. Hierzu gehört auch die Ausgliederung von wesentlichen Betriebsteilen. Von einer Änderung des Betriebszwecks ist auszugehen, wenn sich der arbeitstechnische Zweck des Betriebs ändert, z. B. bei Umstellung der Produktion auf andere Gegenstände, Umstellung von Produktion auf Vertriebstätigkeit etc. Die Hinzufügung eines weiteren Betriebszwecks kann eine Betriebszwecksänderung darstellen ( DB 1986 S. 2085: Ergänzung eines Spielkasinos mit Spieltischen um einen zusätzlichen Saal mit Spielautomaten).
Auch die Betriebsaufspaltung kann hierunter fallen, da eine grundlegende Änderung der Betriebsorganisation vorliegt, wenn eine organisatorische Einheit in zwei selbständige organisatorische Einheiten aufgespalten wird. Anders ist es nur, wenn ein unwesentlicher Teil des Betriebes abgespalten wird ( DB 1987 S. 1842).
Die Änderung der Betriebsanlagen betrifft schließlich die Betriebsmittel im weiteren Sinne. Beispiel: Einführung neuartiger Maschinen (LAG Frankfurt , NZA 1988 S. 407), Einführung eines EDV-Systems ( LAGE Nr. 5 zu § 23 BetrVG) oder Einführung von Bildschirmarbeitsplätzen ( BB 1983 S. 1766).
e) Einführung grundlegend neuer Arbeitsmethoden und Fertigungsverfahren (§ 111 Satz 2 Nr. 5)
Hinsichtlich der grundlegenden Bedeutung gilt das oben zu § 111 Satz 2 Nr. 4 Gesagte entsprechend. Erfaßt werden insbesondere Rationalisierungsmaßnah- S. 3962men, soweit es sich hierbei nicht lediglich um eine sich im Rahmen des Üblichen bewegende Verbesserung handelt ( DB 1991 S. 760). Die Abgrenzung kann im Einzelfall schwierig sein. Je nach Art der Maßnahme können gleichzeitig Mitbestimmungsrechte des BR nach § 87 eingreifen; z. B. § 87 Abs. 1 Nr. 6 bei der Einführung von technischen Kontrolleinrichtungen.
3. Wesentliche Nachteile für erhebliche Teile der Belegschaft
Eine Betriebsänderung setzt weiter voraus, daß erheblichen Teilen der Belegschaft wesentliche Nachteile entstehen können. Ob letztlich ausgleichs- oder milderungswürdige Nachteile entstehen, ist erst bei der Aufstellung des Sozialplans zu prüfen ( DB 1987 S. 1842). Zudem geht das BAG davon aus, daß durch die in § 111 Satz 2 aufgeführten Betriebsänderungen jeweils ein wesentlicher Nachteil fingiert wird ( NZA 1991 S. 113).
Bei der Festlegung, ob erhebliche Teile der Belegschaft betroffen sind, ist wiederum auf die Zahlenvorgaben für Massenentlassungen in § 17 Abs. 1 KSchG zurückzugreifen. Die Zahlenwerte dienen hier allerdings nur als Richtschnur, die im Einzelfall auch geringfügig unterschritten werden können ( NZA 1991 S. 113). Maßgebend ist die Zahl aller betroffenen AN, auch wenn die Betriebsänderung in mehreren Schritten vollzogen wird. Besteht zwischen den Betriebspartnern Streit, ob die Voraussetzungen einer Betriebsänderung vorliegen, kann dies im arbeitsgerichtlichen Beschlußverfahren entschieden werden.
III. Informations- und Beratungsrecht des BR bei Betriebsänderungen
Nach § 111 ist der ArbG verpflichtet, den BR über geplante Betriebsänderungen zu informieren und hierüber mit ihm zu beraten. Die Unterrichtung muß nach dem Gesetz umfassend und rechtzeitig erfolgen. Das Gebot der rechtzeitigen Information soll sicherstellen, daß der BR noch in der Planungsphase der Betriebsänderung eigene Vorschläge machen und durch seine Argumente auf die endgültige Planung Einfluß nehmen kann. Diesem Zweck dient auch das Recht der Beratung mit dem ArbG, das § 111 dem BR einräumt. Die Informationspflicht entsteht in dem Zeitpunkt, in dem sich der ArbG aufgrund von Prüfungen und Vorüberlegungen grundsätzlich zur Durchführung einer Betriebsänderung entschlossen hat ( DB 1992 S. 385). Unabhängig hiervon sind die Informations- und Beratungsrechte des Wirtschaftsausschusses zu erfüllen.
IV. Interessenausgleich
1. Inhalt
Die Betriebsänderung verpflichtet den ArbG, mit dem BR über einen Interessenausgleich zu verhandeln. Gegenstand des Interessenausgleichs sind Regelungen darüber, ob, wann und in welcher Form die vom ArbG geplante Betriebsänderung durchgeführt werden soll ( BB 1988 S. 761). Erst durch den Interessenausgleich erlangt damit die geplante Betriebsänderung ihre endgültige Gestalt. Denkbar ist, daß die Betriebspartner im Interessenausgleich vereinbaren, die ursprünglich geplante Betriebsänderung in anderer Form oder in kleinerem Umfang durchzuführen. Der Interessenausgleich bezweckt, die wirtschaftlichen Interessen des ArbG mit den Interessen der AN zum Ausgleich zu bringen. So können in einem Interessenausgleich die Durchführung der Betriebsänderung verbunden mit Kündigungsverboten, Versetzungs- und Umschulungspflichten vereinbart werden ( BB 1992 S. 1133). Denkbar sind auch Regelungen, die die bevorzugte Wiedereinstellung von infolge einer Betriebsänderung ausscheidenden AN für den Fall eines zukünftigen Beschäftigungsbedarfs vorsehen. Soweit der Interessenausgleich zur Folge hat, daß den AN keine Nachteile entstehen, sei es dadurch, daß der Interessenausgleich einen Verzicht auf die Betriebsänderung enthält, sei es dadurch, daß durch den Interessenausgleich Nachteile für den AN vermieden oder abgewendet werden, wird ein Sozialplan S. 3963überflüssig und ist nicht mehr aufzustellen. Daraus folgt auch umgekehrt, daß die Notwendigkeit und das Volumen eines Sozialplans um so größer sind, je mehr Nachteile trotz des Interessenausgleichs für die AN bestehen bleiben.
Der Interessenausgleich muß unabhängig davon versucht werden, ob ein Sozialplan erzwingbar wäre ( DB 1989 S. 331).
2. Verfahren
Der Interessenausgleich besteht gem. § 112 Abs. 1 in der Einigung zwischen ArbG und BR über die geplante Betriebsänderung. Der Interessenausgleich ist schriftlich niederzulegen und von ArbG und BR zu unterschreiben. Notwendigerweise müssen der Einigung zwischen ArbG und BR entsprechende Verhandlungen vorausgehen. Fordert der BR diesbezüglich keine Verhandlungen, muß der ArbG von sich aus die Initiative zu Interessenausgleichsverhandlungen ergreifen, weil er andernfalls Nachteilsausgleichsansprüche gegen sich nach § 113 Abs. 3 auslöst (s. unten VI, 1). Kommt es in den Verhandlungen zu keiner Einigung, können beide Seiten gem. § 112 Abs. 2 den Präsidenten des Landesarbeitsamtes um Vermittlung ersuchen. Der nächste Verfahrensschritt ist die Anrufung der Einigungsstelle. Beide Seiten sollen der Einigungsstelle Vorschläge zur Beilegung der Meinungsverschiedenheiten machen. Der Interessenausgleich kann jedoch nicht - anders als der Sozialplan - durch verbindlichen Spruch der Einigungsstelle erzwungen werden ( BB 1992 S. 1133). Die Einigungsstelle hat hinsichtlich des Interessenausgleichs nur die Möglichkeit, eine Einigung zu versuchen. Scheitert eine Einigung, kann die Betriebsänderung ohne Interessenausgleich durchgeführt werden. Das Scheitern der Einigungsversuche ist vom Vorsitzenden der Einigungsstelle festzustellen (Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, §§ 112, 112a Rz. 14). Führt der ArbG die Betriebsänderung vor Ausschöpfung der Verhandlungsmöglichkeiten einschließlich des Einigungsstellenverfahrens durch, ist er den betroffenen AN zum Nachteilsausgleich (s. unten VI, 1) verpflichtet. Dasselbe gilt, wenn der ArbG bei fehlender Initiative des BR es unterläßt, seinerseits die Einigungsstelle zur Erzielung eines Interessenausgleichs anzurufen ( BB 1985 S. 1394).
V. Sozialplan
1. Zweck und Inhalt des Sozialplans
Nach der Legaldefinition in § 112 Abs. 1 Satz 2 ist der Sozialplan die Einigung zwischen ArbG und BR über den Ausgleich oder die Milderung der wirtschaftlichen Nachteile, die den AN infolge der geplanten Betriebsänderung entstehen. Dabei geht es vor allem um einen Ausgleich für die AN, die infolge der Betriebsänderung ihren Arbeitsplatz verlieren. Die insoweit üblicherweise im Sozialplan enthaltenen Abfindungsregelungen bezwecken eine materielle Abfederung der AN bei der Bewältigung einer Arbeitslosigkeit oder einem Übergang in ein neues Beschäftigungsverhältnis. Inhalt des Sozialplans können aber nicht nur Abfindungsregelungen sein. Es kommen ferner, je nachdem, worin die wirtschaftlichen Nachteile bestehen, Lohnausgleichszahlungen, Beihilfen für Umschulungs- oder Weiterbildungsmaßnahmen, Übernahme von Fahrt-, Reise- oder Umzugskosten bei Versetzungen oder Übernahme von Bewerbungskosten in Betracht.
Bei der Bemessung der wirtschaftlichen Nachteile muß darauf abgestellt werden, mit welchen Nachteilen bei der konkreten Betriebsänderung typischerweise zu rechnen ist. Die Nachteile können pauschaliert in Ansatz gebracht werden ( BB 1988 S. 761). Für die Bemessung enthält § 112 Abs. 5 Leitlinien, die an die Einigungsstelle gerichtet sind, die aber auch für die vorausgehenden Sozialplanverhandlungen zwischen ArbG und BR bedeutsam sind. Nach S. 3964§ 112 Abs. 5 Nr. 1 sind zum Ausgleich wirtschaftlicher Nachteile, für die das Gesetz beispielhaft u. a. Einkommensminderung, Verlust von Anwartschaften auf betriebliche Altersversorgung, Umzugskosten und erhöhte Fahrtkosten aufführt, Sozialplanleistungen vorzusehen, die in der Regel den Gegebenheiten des Einzelfalls Rechnung tragen.
Bei der Festsetzung von Leistungen sind weiterhin nach § 112 Abs. 5 Nr. 2 die Aussichten der betroffenen AN auf dem Arbeitsmarkt zu berücksichtigen. Die Ablehnung von zumutbaren anderweitigen Arbeitsplätzen in Betrieb, Unternehmen oder Konzern soll zum Ausschluß von Leistungen des Sozialplans führen. Dabei kann im Sozialplan selbst geregelt werden, unter welchen Voraussetzungen ein anderweitiger Arbeitsplatz zumutbar ist ( BB 1989 S. 498).
Schließlich ist nach § 112 Abs. 5 Nr. 3 darauf zu achten, daß das Gesamtvolumen des Sozialplans weder den Fortbestand des Unternehmens noch die nach Durchführung der Betriebsänderung verbleibenden Arbeitsplätze gefährdet. Dieser Gesichtspunkt entfällt allerdings, wenn Inhalt der Betriebsänderung eine völlige Betriebsstillegung und Auflösung des Unternehmens ist.
Für Sozialplanleistungen existieren - anders als für Nachteilsausgleichsansprüche - grundsätzlich keine gesetzlichen Höchstgrenzen. Insbesondere ist § 10 KSchG, der eine Abfindung auf maximal 12 Monatsverdienste, bei älteren AN und langer Betriebszugehörigkeit auf 15 bzw. 18 Monatsverdienste begrenzt, nicht entsprechend anwendbar ( BB 1988 S. 761 mit ablehnender Anm. v. Hunold). Höchstbegrenzungsklauseln für Abfindungen, die im Sozialplan selbst vereinbart werden, sind jedoch ohne weiteres zulässig ( BB 1989 S. 144).
Sozialplanabfindungen sind pfändbar und werden von formularmäßigen Pfändungs- und Überweisungsbeschlüssen erfaßt ( BB 1992 S. 358).
2. Erzwingbarkeit des Sozialplans
Im Gegensatz zum Interessenausgleich ist der Sozialplan erzwingbar. Das Verhandlungsverfahren ist bezüglich Interessenausgleich und Sozialplan gleichförmig ausgestaltet. Der entscheidende Unterschied besteht darin, daß die Einigungsstelle nach § 112 Abs. 4 durch ihren Spruch den Inhalt des Sozialplans verbindlich festlegen kann. In zwei Fällen ist die Erzwingbarkeit eines Sozialplans nach § 112a beschränkt bzw. ausgeschlossen, obwohl eine mitbestimmungspflichtige Betriebsänderung vorliegt:
a) Besteht die Betriebsänderung in einem bloßen Personalabbau, so ist nach § 112a Abs. 1 die Erzwingbarkeit nur gegeben, wenn abhängig von der Beschäftigtenzahl mindestens die folgende Zahl von AN ihren Arbeitsplatz verliert:
21-59 AN : 20 % der AN, mind. aber 6 AN
60-249 AN : 20 % der AN oder mind. 37 AN
250-499 AN : 15 % der AN oder mind. 60 AN
ab 500 AN : 10 % der AN, mind. aber 60 AN.
Da diese Zahlenwerte von denen, die für die Betriebsänderung entscheidend sind, abweichen, kann der Fall eintreten, daß in dem Personalabbau zwar eine Betriebsänderung liegt, die zu Verhandlungen über einen Interessenausgleich zwingt, daß aber ein Sozialplan nicht aufgestellt werden muß.
b) Die Erzwingbarkeit des Sozialplans ist nach § 112a Abs. 2 ferner nicht gegeben für neugegründete Unternehmen in den ersten vier Jahren nach der Gründung. Mit dieser Ausnahmevorschrift wird bezweckt, die Unternehmen in der Gründungsphase nicht mit möglichen Sozialplanverpflichtungen zu belasten. Die Gründungsphase beginnt nach § 112a Abs. 2 Satz 3 mit dem Zeitpunkt, in dem die Aufnahme der Erwerbstätigkeit nach § 138 AO dem Finanzamt mitzuteilen ist. Auch wenn in den in § 112a genannten Ausnahmefällen ein Sozialplan nicht erzwingbar ist, entbindet dies den ArbG nicht davon, Verhandlungen über den Interessenausgleich zu führen ( DB 1989 S. 331). S. 3965
3. Überprüfbarkeit des Sozialplans
Der Sozialplan stellt eine Betriebsvereinbarung besonderer Art dar. Der einzelne AN erwirbt hieraus einen unmittelbaren Rechtsanspruch gegen den ArbG. Soweit der Sozialplan durch den Spruch der Einigungsstelle zustande gekommen ist, können ArbG oder BR diesen Spruch in dem durch § 76 Abs. 5 Satz 4 abgesteckten Rahmen anfechten. Danach ist eine Anfechtung nur innerhalb von zwei Wochen nach Zuleitung des Beschlusses durch entsprechenden Antrag beim Arbeitsgericht möglich. Die erfolgreiche Anfechtung setzt zudem voraus, daß die Einigungsstelle die Grenzen ihres Ermessens überschritten hat. Dabei ist zu berücksichtigen, daß ArbG und BR einen weiten Ermessensspielraum bei ihrer Entscheidung haben, welche Nachteile der von einer Betriebsänderung betroffenen AN sie in welchem Umfang ausgleichen oder mildern wollen ( BB 1989 S. 498). So ist es nicht zu beanstanden, diejenigen AN von den Leistungen eines Sozialplans auszuschließen, die vorgezogenes Altersruhegeld in Anspruch nehmen können ( BB 1988 S. 2385).
Unabhängig von dieser Anfechtungsmöglichkeit der Betriebspartner können einzelne AN den Sozialplan zur gerichtlichen Überprüfung stellen, wenn dieser gegen gesetzliche Vorschriften verstößt. In Betracht kommt insoweit vor allem § 75 Abs. 1, der die Betriebspartner zur Gleichbehandlung verpflichtet. Unter diesem Gesichtspunkt hat das BB 1991 S. 1488) einen Sozialplan beanstandet, der bei Abfindungsansprüchen zwischen Arbeitgeberkündigungen und vom ArbG veranlaßten Arbeitnehmerkündigungen unterschied und für letztere Abfindungsansprüche ausschloß. Zulässig ist es hingegen, bei der Abfindungshöhe zwischen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten zu differenzieren, indem die Abfindungen entsprechend dem Verhältnis der persönlichen Arbeitszeit des AN zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zur tariflichen Arbeitszeit berechnet wird ( BB 1993 S. 506).
Die Abfindungshöhe kann im Sozialplan auch unter Einbeziehung der Leistungen der Arbeitslosenversicherung geregelt werden, etwa, indem im Sozialplan festgelegt wird, wer das Risiko zu tragen hat, wenn das Arbeitsamt nach Abschluß eines Auflösungsvertrags eine Sperrzeit verhängt ( BB 1988 S. 761). Gegen § 75 Abs. 1 verstößt jedoch eine Sozialplanregelung, nach der die Erstattungsansprüche der Bundesanstalt für Arbeit gegen den ArbG nach § 128 AFG allein auf die Abfindungen der AN angerechnet werden, für die der ArbG das Arbeitslosengeld zu erstatten hat, weil auf diese Weise die langjährig beschäftigten AN schlechter als die kurzzeitig beschäftigten AN gestellt werden ( NZA 1991 S. 111).
In den neuen Bundesländern gilt das BetrVG erst seit dem 1. 7. 1990. Vorher abgeschlossene ”Sozialprogramme” sind deshalb rechtsunwirksam ( BB 1993 S. 217). Ein nach dem geschlossener Sozialplan, der für die Berechnung von Abfindungen auf die Dauer der tatsächlichen Beschäftigung im Unternehmen abstellt und deshalb nach dem Arbeitsvertrag zur Betriebszugehörigkeit zählende Beschäftigungszeiten bei der SED oder anderen Organisationen unberücksichtigt läßt, ist sachgerecht und verstößt nicht gegen § 75 BetrVG (LAG Chemnitz , DB 1993 S. 386).
VI. Die Folgen unterlassener Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen
1. Nachteilsausgleich
Mißachtet der ArbG die Mitbestimmungsrechte des BR bei Betriebsänderungen, löst er Nachteilsausgleichsansprüche der AN nach § 113 aus. Diese Vorschrift S. 3966stellt eine Sanktion für das mitbestimmungswidrige Verhalten des ArbG dar und gibt den infolge der Betriebsänderung entlassenen AN Abfindungsansprüche, wobei die Höchstgrenze des § 10 KSchG gilt. Der Nachteilsausgleichsanspruch besteht nicht nur für die vom ArbG gekündigten AN, sondern auch für diejenigen AN, die auf Veranlassung des ArbG ihr Arbeitsverhältnis selbst gekündigt haben ( BB 1988 S. 2387). Führt der ArbG entgegen seiner gesetzlichen Verpflichtung keine Verhandlungen über einen Interessenausgleich, vereinbart aber nachträglich mit dem Betriebsrat einen Sozialplan, beseitigt dies die durch das mitbestimmungswidrige Verhalten entstandenen Nachteilsausgleichsansprüche nicht. Allerdings sind Abfindungsleistungen, die die AN aufgrund des Sozialplans erhalten, auf die Nachteilsausgleichsforderungen anzurechnen ( DB 1989 S. 2026).
2. Aufschiebung personeller Maßnahmen
Umstritten ist, ob der BR - ggf. im Wege der einstweiligen Verfügung - dem ArbG Kündigungen von AN untersagen lassen kann, solange die Verhandlungen über Interessenausgleich und Sozialplan nicht zum Abschluß gebracht worden sind (z. B. dafür DB 1986 S. 598; Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither § 111 Rz. 41; Fabricius, GK-BetrVG 4. Aufl. 1989, § 111 Rz. 356 ff.; dagegen DB 1986 S. 805; Stege/Weinspach, BetrVG 6. Aufl. 1990, §§ 111-113 Rz. 102 ff.). Das BAG hat in seinem nach wie vor umstrittenen Urteil zum allgemeinen Unterlassungsanspruch (Urt. v. , BB 1983 S. 1724) u. a. darauf verwiesen, daß in Gestalt des Nachteilsausgleichs gem. § 113 bereits eine ausreichende Sanktion gegen mitbestimmungswidriges Verhalten vorhanden sei.
VII. Interessenausgleich und Sozialplan im Konkurs
Auch im Konkurs des Unternehmens muß ein Interessenausgleich verhandelt und ein Sozialplan abgeschlossen werden. Mißachtet der Konkursverwalter diese Pflichten, haftet er ebenso wie der ArbG außerhalb des Konkurses auf den Nachteilsausgleich nach § 113 ( DB 1989 S. 2026). Nachteilsausgleichsforderungen, die während des Konkursverfahrens durch mitbestimmungswidriges Verhalten des Konkursverwalters entstehen, sind Masseschulden i. S. von § 59 Abs. 1 Nr. 1 KO ( BB 1988 S. 2387).
Für das Volumen des Sozialplans und den Rang von Sozialplanforderungen gelten gesetzliche Besonderheiten: Nach § 2 des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und Vergleichsverfahren vom 20. 2. 1985 (BGBl I S. 369) darf das Volumen eines nach Konkurseröffnung aufgestellten Sozialplans das 21/2fache der Bruttomonatsverdienste der von einer Entlassung betroffenen AN nicht übersteigen.
Ferner sind Sozialplanforderungen nach § 4 des vorgenannten Gesetzes nur insoweit erstrangige Konkursforderung, als sie insgesamt nicht mehr als ein Drittel der für die Verteilung an die Konkursgläubiger insgesamt zur Verfügung stehenden Konkursmasse ausmachen. Der darüber hinausgehende Teil ist letztrangige Konkursforderung nach § 61 Abs. 1 Nr. 6 KO (Otto a. a. O. S. 91). Die Begrenzung auf ein Drittel der zur Verteilung stehenden Konkursmasse schränkt lediglich die Berichtigung von Sozialplanforderungen ein. Sie berechtigt den Konkursverwalter nicht, Sozialplanforderungen allein deshalb zu bestreiten, weil die Höhe der zur Verteilung kommenden Konkursmasse noch nicht feststeht. Die Begrenzung erlangt erst bei der Verteilung ihre Bedeutung ( BB 1989 S. 500).
Fundstelle(n):
NWB Fach 26 Seite 2449 - 2456
NWB1993 Seite 3959 - 3966
NWB UAAAA-83722