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WP Praxis Nr. 3 vom Seite 96

Bilanzdelikte und -fälschungen – Eine Einordnung in den operativen Kontext bilanzieller Audits

Roger Odenthal

Bilanzdelikte (oder -skandale) sind ein verlässlich wiederkehrendes, sich häufig lediglich in Nuancen unterscheidendes Phänomen kaufmännischen Wirtschaftens und hiermit verbundener Aufzeichnungen. Sie gleichen Scheinriesen, deren kriminellen Aktivtäten man zunächst mit großem Respekt entgegenschaut, die jedoch auf ein überschaubares, oft banales Maß zusammenschrumpfen, sobald man sich ihnen nähert. Je nach Umfang erzeugen sie eine mehr oder weniger spürbare Erschütterung des fein verwobenen Geflechts wirtschaftlicher Aktivitäten mit unterschiedlichsten Geschädigten und Profiteuren. Neben den Blutzoll der Anleger, Investoren, Lieferanten, Arbeitnehmer und Banken gesellen sich in fortwährendem Nullsummen-Spiel die Gewinne der Täter, beratender Aufräumer, Resteverwerter, Leerverkäufer und einer hierüber berichtenden Presse.

Über die ethische Verurteilung wirtschaftskriminellen Verhaltens hinaus stellt sich in diesem Zusammenhang stets die Frage, warum betrieblichen Kontrollinstanzen, Aufsichtsstellen sowie insbesondere den hierzu beauftragten Wirtschaftsprüfern die vielfach unübersehbaren Manipulationsanzeichen im Vorfeld entgangen sind. Gibt es hierfür nachvollziehbare Gründe oder eröffnet bereits der reichlich bemühte Verweis auf die „kriminelle Energie“ des verantwortlichen Managements ausreichende Exkulpationsmöglichkeiten? Warum erschöpft sich die intellektuelle Auseinandersetzung mit den Kontroll- und Prüfungsthemen oftmals in der Beschreibung einzelner Vorfälle, ohne wirkliche Besserungsperspektiven? Diesen und weiteren Fragen möchte sich der Autor in den folgenden Ausführungen unter verschiedenen Blickwinkeln nähern.

I. Mehr Schein als Sein

Bilanzprüfung beinhaltet immer ein wertendes Urteil und einen sich hierauf beziehenden Maßstab. Hierfür stehen idealerweise die Prinzipien der„Bilanzwahrheit und -klarheit“. Die in der Bilanz beabsichtigte Abbildung wirtschaftlicher Realität ist somit nach überwiegendem Verständnis Gegenstand der prüferischen Beurteilung. Bereits diese sehr allgemeine Umschreibung der prüferischen Aufgabe wird aber zum Gegenstand sophistischer Erörterungen, sobald sich ein erteiltes Testat als objektiv unzutreffend herausstellt. Über die ansonsten öffentlichkeitswirksam eingeforderte Wertschätzung des prüfenden Berufsstandes hinaus treten hierbei die Fragen nach Inhalt und Zielgruppe seiner Tätigkeit in den Vordergrund. Wer (Vorstand, Aufsichtsrat, Inhaber, Anteilseigner, Geschäftspartner etc.) durfte bei einer beauftragten Abschlussprüfung worauf vertrauen? Die sich hieraus entwickelnde Diskussion spiegelt sich unmittelbar in alternativen Umschreibungen der über einen längeren Zeitraum wahrheitswidrigen Bilanzierungen als „Bilanzdelikt“, „Bilanzfälschung“, „Bilanzkosmetik“, „Bilanztrick“ oder„Bilanzskandal“ wider. Der Hintergrund ist klar. Schließlich geht es um viel Geld, wenn Abschlussprüfer einerseits kreative, bis hart an die Legalitätsgrenze reichende bilanzielle Gestaltungsoptionen zugunsten ihrer Auftraggeber zunächst gutheißen und andererseits nachvollziehbare Ansprüche später hierdurch Geschädigter mit Verweis auf den engen formalen Adressatenkreis ihrer Prüfungsaktivitäten zurückweisen. Allerdings dürften entsprechende Ziselierungen, die sich gemeinhin hinter dem euphemistischen Begriff „Erwartungslücke“ versammeln, denjenigen, die im Vertrauen auf vorliegende Bilanztestate eine Geschäftsverbindung mit Unternehmen eingehen oder vermeintlich sichere Kredite an diese ausreichen, weitgehend fremd bleiben. Im Folgenden wird daher jede gehaltvolle, unerkannt abweichende oder irreführende bilanziell testierte Darstellung als fehlerhaftes prüferisches Urteil eingeordnet.