NWB Nr. 16 vom Seite 1073

Kommt auch noch die Veranlagungswelle?

Dr. Lukas Hilbert | Diplom-Kaufmann, M.I.Tax, Bonn | Herausgeber des Steuer-Stichwort-Kommentars Hartz/Meeßen/Wolf, ABC-Führer Lohnsteuer | www.lhilbert.de

Erklärungspflichten und Nachzahlung bei Kurzarbeit und Entschädigungen

Seit über einem Jahr beutelt uns die Pandemie in immer neuen Schüben. Wer seither in Kurzarbeit oder Quarantäne musste, für die oder den wurden über Kurzarbeitergeld, etwaige Arbeitgeber-Zuschüsse zu diesem und durch die Entschädigungen nach dem Infektionsschutzgesetz hoffentlich zumindest größere Teile der wirtschaftlichen Einbußen kompensiert. All diese Leistungen sind – teils unter bestimmten Voraussetzungen – steuerfrei; im Fall der Zuschüsse gilt dies bekanntlich über eine eigens in Reaktion auf die Corona-Krise geschaffene befristete Befreiung (vgl. insgesamt § 3 Nr. 2 Buchst. a, Nr. 25 und Nr. 28a EStG). Diese Freistellungen wirken entlastend und teilweise zudem verwaltungsvereinfachend. Man denke etwa an entschädigungsberechtigte Selbständige: Sollte hier ansonsten etwa die auszahlende Einheit „eine Art Lohnsteuereinbehalt“ vornehmen müssen oder vor Auszahlung immer die Finanzverwaltung eingebunden werden? Dies wäre wohl kaum praktikabel und würde die ohnehin schon komplizierten sowie nicht selten langwierigen Erstattungsverfahren nur noch weiter erschweren.

In einem zweiten, für die Steuerpflichtigen unerfreulichen Schritt kommt allerdings ein Aspekt der Systematik des deutschen Einkommensteuerrechts zum Tragen: Steuerfreie Leistungen, die (ansonsten erzielte) steuerpflichtige Einkünfte ersetzen sollen, sind in stringenter Betrachtung bei Bemessung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im Gesetzessinne zu berücksichtigen. Dem trägt der Progressionsvorbehalt in § 32b EStG Rechnung, nach dem – grob gesprochen – auf das zu versteuernde Einkommen der (höhere) Steuersatz anzuwenden ist, der sich ergeben würde, wenn die bezogenen Leistungen nicht steuerfrei wären. Dass der Gesetzgeber anscheinend bemüht ist, dieses Prinzip möglichst umfassend greifen zu lassen, zeigt allein schon die über die Jahre stete Erweiterung der der Norm unterfallenden Tatbestände (vgl. illustrativ zur Rechtsentwicklung die in Kürze erscheinende Neubearbeitung zum „Progressionsvorbehalt“ im Hartz/Meeßen/Wolf, ABC-Führer Lohnsteuer). Die oben genannten steuerfreien Leistungen unterliegen nach den Buchst. a, e und g des § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG dem Progressionsvorbehalt. Damit einher geht im Arbeitnehmerbereich ferner eine Veranlagungspflicht, wenn „die positive Summe der Einkünfte und Leistungen, die dem Progressionsvorbehalt unterliegen, jeweils mehr als 410 € beträgt“ (§ 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG). Obwohl das Abgeltungsprinzip der Lohnsteuer über die Zeit ohnehin immer löchriger geworden ist, dürfte dies gleichwohl eine nicht unwesentliche Zahl von Bürgern zusätzlich in die Erklärungspflicht ziehen. Beraterinnen und Beratern ist all dies keineswegs neu, manche Arbeitnehmer werden es aber gerade in der derzeitigen Lage nicht unbedingt „auf dem Schirm“ (gehabt) haben. Entsprechende vorsorgliche Hinweise auch von Seiten der Arbeitgeber sowie der leistenden Stellen und Einrichtungen scheinen – sofern nicht schon gegeben – ratsam.

Steuersystematisch wirkt die dargestellte Behandlung zwar durchaus schlüssig, politisch indes war und ist sie aber bereits in Diskussion (vgl. z. B. BT-Drucks. 19/19501). Nach jetzigem Stand jedoch wird uns Corona damit im steuerlichen Sektor noch eine weitere administrative sowie eine gewisse Nachzahlungswelle bescheren.

Lukas Hilbert

Fundstelle(n):
NWB 2021 Seite 1073
EAAAH-76678