Diversität und Praxis
Der Begriff der Diversität hat ordentlich Karriere gemacht. Früher einmal stand er neutral für den Befund von Vielfalt, Heterogenität, Unterschiedlichkeit, damit für etwas, das je nach den Umständen positiv (Artenvielfalt) aber auch negativ sein konnte. Heute ist der Begriff normativ aufgeladen. Neben die wünschenswerte Erhaltung der Biodiversität ist nun die erstrebenswerte Förderung der kulturellen oder sozialen Diversität getreten. Diversität ist in solchen Kontexten ein Gegenbegriff zur Zerstörung (Natur) oder Diskriminierung (Politik, Wirtschaft und Gesellschaft). Inzwischen weiß also jeder: Diversität ist gut. Diversität tut Not.
Der Bereich der Rechnungslegung schreitet – mit Ausnahme der ihr angehängten nichtfinanziellen Berichterstattung – offenbar hinterher. „Diversity“ – vor allem – „Diversity in practice“ gilt hier als etwas, das bekämpft, zurückgedrängt, verhindert werden muss, und sei es – wie Beiträge dieser Ausgabe zeigen – um den Preis von Prinzipienbrüchen oder der Aufgabe von Prinzipen zugunsten von Kasuistik.
Im Beitrag von Josef Baumüller ab zur Wesentlichkeit in der nichtfinanziellen Berichterstattung geht es um Prinzipienbrüche. Ausgangspunkt ist der Befund der EU, dass die explizit geforderte Beachtung des Wesentlichkeitsprinzips bei der nichtfinanziellen Berichterstattung in der Praxis in unterschiedlicher Weise erfolgt. Deshalb gelangt die EU-Kommission in einem Konsultationspapier zur Aktualisierung ihrer Leitlinien für die nichtfinanzielle Berichterstattung zu einer neuen, restriktiveren Interpretation des Wesentlichkeitsgrundsatzes. Dass sie sich dabei in Widerspruch zu Gesetz bzw. EU-Richtlinie bringt, wird offenbar in Kauf genommen, weil das Ziel, die Diversität der Praxis zu bekämpfen, legitim erscheint.
Auch im Aufsatz von Lars Ruberg ab zu latenten Steuern bei Leasingverhältnissen nach IFRS 16 geht es im Ausgangspunkt um eine Diversität in der Praxis. Die sog. initial recognition exception des IAS 12, derzufolge außerhalb eines Unternehmenserwerbs solche temporären Differenzen nicht zu latenzieren sind, die schon im Zugangszeitpunkt bestehen, wird in Bezug auf Leasingverhältnisse nach IFRS 16 in der Praxis unterschiedlich gehandhabt. Der IASB will dem entgegentreten. Nach der vorgeschlagenen Neuregelung soll die initial recognition-Ausnahme durch eine Rückausnahme ergänzt werden: Temporäre Differenzen aus der Zugangsbuchung sollen danach zukünftig doch zu latenzieren sein, wenn sie wie beim Leasing zum gleichzeitigen Ansatz eines Vermögenswerts (right-of-use asset) und einer Schuld (lease liability) führen.
Im dritten Beitrag ab behandeln Franz Jürgen Marx und Holger Dallmann die Bilanzierung und Bewertung virtueller Währungen im Jahresabschluss nach IFRS unter Ansatz-, Bewertungs- und Ausweisgesichtspunkten. Nicht überraschen wird, dass auch hier eine „Diversity in practice“ besteht, die sich etwa bei der Bewertung in unterschiedlichen Analogien (zu immateriellen Vermögenswerten, zu Fremdwährungen, zu Finanzinstrumenten) ausdrückt. Über kurz oder lang darf man auch hier einen Eingriff des IASB erwarten, der an die Stelle der Vielfalt der Lösungen die offenbar erstrebenswerte Einheitlichkeit setzen wird.
Beste Grüße
Norbert Lüdenbach
Fundstelle(n):
PiR 5/2019 Seite 1
JAAAH-13050