Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Stiefbruder des 1952 geborenen A. Dieser leidet seit seiner Geburt am sog. Down-Syndrom, ist zu 100 v.H. behindert und lebt im Haushalt des Klägers. Der Kläger ist seit Juli 1998 Betreuer seines Stiefbruders; zuvor oblag die Betreuung dem Onkel des Klägers. In der Vergangenheit hatte der Kläger für seinen Stiefbruder Kindergeld nach der für die Zeit vor dem geltenden Rechtslage erhalten.
Nachdem 1995 die Mutter des Klägers und seines Stiefbruders verstorben war, wurde diese jeweils zu einem Drittel vom Kläger, seiner Schwester und seinem Stiefbruder A beerbt. Die Erbengemeinschaft wurde mit notarieller Beurkundung 1997 aufgehoben und das vorhandene Grundvermögen unter den drei Erben aufgeteilt, sodass sich für jeden ein Erbteil in Höhe von ca. ... DM ergab. Der Anteil von A beinhaltete Grundstücke im Wert von ... DM und eine Ausgleichszahlung von ... DM.
Ausweislich einer im November 1997 bei dem Beklagten und Revisionskläger (Beklagter) eingegangenen Erklärung des Klägers beliefen sich die Einnahmen seines Stiefbruders im Jahr 1996 auf ... DM und setzten sich aus Zinseinnahmen in Höhe von ... DM sowie Einnahmen aus der Verpachtung land- und forstwirtschaftlichen Grundbesitzes in Höhe von ... DM zusammen. In den darauffolgenden Jahren erhöhten sich die Einnahmen nur geringfügig; im Jahre 2000 betrugen die Pachteinnahmen ... DM und die Einnahmen aus Kapitalvermögen ... DM.
Mit Bescheid vom Januar 1998 hob der Beklagte die Kindergeldfestsetzung für den Stiefbruder des Klägers mit Wirkung ab Januar 1997 auf, da dieser aufgrund seines Einkommens und Vermögens in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten, und gab dem Kläger mit Schreiben vom selben Tage gemäß § 91 der Abgabenordnung (AO 1977) Gelegenheit, zu einer etwaigen Rückforderung des Kindergeldes für den Zeitraum Januar 1997 bis Januar 1998 in Höhe von 2 860 DM Stellung zu nehmen. Auf den Einspruch des Klägers änderte der Beklagte den ursprünglichen Aufhebungsbescheid vom zwar dahin, dass die Kindergeldfestsetzung erst ab Februar 1998 aufgehoben wurde; im Übrigen wies der Beklagte den Einspruch jedoch als unbegründet zurück.
Die dagegen erhobene Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) entschied, der Stiefbruder des Klägers sei nicht im Stande gewesen, sich selbst zu unterhalten. Die Einkünfte des Pflegekindes A hätten weder den Grundfreibetrag für 1998 noch den Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auch nur annähernd erreicht; das Vermögen des behinderten Stiefbruders sei in diesem Zusammenhang nicht zu berücksichtigen.
Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine fehlerhafte Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG.
Er beantragt,
das aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger war im Revisionsverfahren nicht vertreten.
II. Die Revision des Beklagten ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das FG hat rechtsfehlerfrei entschieden, dass das Vermögen des behinderten Stiefbruders des Klägers bei der Beurteilung der Frage, ob dieser wegen seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, nicht zu berücksichtigen ist.
1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 1997 (i.d.F. der Bekanntmachung vom , BGBl I 1997, 821, BStBl I 1997, 415) setzt der Anspruch auf Kindergeld für ein behindertes Pflegekind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, u.a. voraus, dass der Steuerpflichtige mit ihm durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, —d.h. in der Regel, dass er das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat—, das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht und der Steuerpflichtige das Kind mindestens zu einem nicht unwesentlichen Teil auf seine Kosten unterhält. Diese Voraussetzungen sind unstreitig erfüllt, da die Eltern des behinderten A verstorben sind, dieser in einem familienähnlichen Bande im Haushalt des Klägers, seines Stiefbruders, lebt und zu einem wesentlichen Teil vom Kläger unterhalten wird.
2. Ferner muss das Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Die Ursächlichkeit der Behinderung von A für dessen Unfähigkeit zum Selbstunterhalt ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Denn Ursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) grundsätzlich anzunehmen, wenn der Grad der Behinderung 50 v.H. oder mehr beträgt und besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheint (vgl. , BFHE 196, 161, BStBl II 2001, 832; , BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486; ebenso die im Streitjahr anzuwendende Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes —DA-FamEStG— 63.3.6.4 Abs. 4, BStBl I 1998, 389, 422). Im Streitfall leidet A seit seiner Geburt am sog. Down-Syndrom und ist laut Schwerbehindertenausweis zu 100 v.H. behindert. Damit liegt eine i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigende —vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetretene— Behinderung vor (vgl. BFH-Urteil in BFHE 196, 161, BStBl II 2001, 832 zu dem Erfordernis des Eintritts der Behinderung vor dem 27. Lebensjahr).
3. Angesichts von Einkünften von allenfalls ca. ... DM in den Streitjahren war A auch ”außerstande, sich selbst zu unterhalten” i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG.
a) Das Tatbestandsmerkmal ”außerstande sein, sich selbst zu unterhalten” ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Durch die Verweisung in § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG auf § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG hat der Gesetzgeber aber klargestellt, dass der steuerrechtliche Begriff des Außerstandeseins zum Selbstunterhalt seit der Systemumstellung zum auch im Kindergeldrecht anzuwenden und somit eine einheitliche steuerrechtliche Auslegung geboten ist. Auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Bundeskindergeldgesetz in der bis zum geltenden Fassung (BKGG a.F.), das für das Kindergeld und für den Kinderfreibetrag eine unterschiedliche rechtliche Beurteilung zugrunde gelegt hat (vgl. , Sozialrecht 3. Folge —SozR 3— 5870 § 11a BKGG Nr. 10) kann daher nicht zurückgegriffen werden. Denn das Kindergeld dient seit dem —ebenso wie der Kinderfreibetrag— in erster Linie der steuerrechtlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes bei den Eltern.
b) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Dies ist der Fall, wenn die Behinderung einer Erwerbstätigkeit entgegensteht und das Kind über keine anderen Einkünfte und Bezüge verfügt (, BFH/NV 1997, 343, und vom III R 13/94, BFHE 181, 128, BStBl II 1997, 173).
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG stellt nicht allein darauf ab, dass ein Kind körperlich, geistig oder seelisch behindert ist; vielmehr muss es wegen seiner Behinderung außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Ist das Kind trotz seiner Behinderung (z.B. aufgrund hoher Einkünfte oder Bezüge) in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu.
Nur diese Auslegung entspricht dem gesetzgeberischen Willen, bei hinreichender Leistungsfähigkeit des behinderten Kindes kein Kindergeld bzw. keinen Kinderfreibetrag zu gewähren (, BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72).
c) Nach der Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind erst dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensbedarfs ausreicht (vgl. Urteile in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, und vom VI R 40/98, BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75). Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist folglich anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich des gesamten Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits, zu prüfen. Erst wenn sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes ergibt, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerrechtliche Leistungsfähigkeit mindert (vgl. , 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60, 87, BStBl II 1990, 653, 658). Dann ist es auch gerechtfertigt, für behinderte Kinder kein Kindergeld und keinen Kinderfreibetrag zu gewähren.
Wie der BFH in seinem Urteil in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72 dargelegt hat, setzt sich der gesamte existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Für das Jahr 1998 ist der Grundbedarf mit 12 360 DM zu bemessen (BFH-Beschluss in BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486; zur allgemeinen Bemessung dieses am Existenzminimum orientierten Betrages nach dem im Sozialhilferecht jeweils anerkannten Mindestbedarf vgl. , 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182, 191, zu C. II.). Hinzu kommt ein individueller behinderungsbedingter Mehraufwand, den gesunde Kinder nicht haben. Zu diesem gehören alle mit einer Behinderung unmittelbar und typisch zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen, z.B. Wäsche, Hilfeleistungen, Erholung, typische Erschwernisaufwendungen (vgl. Schmidt/Glanegger, Einkommensteuergesetz, 21. Aufl., 2002, § 33b Rz. 5). Erbringt der Steuerpflichtige insoweit keinen Einzelnachweis, kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen.
4. In Anwendung der vorstehenden Grundsätze bestehen keine Zweifel, dass A nicht über ausreichende Mittel verfügte, um seinen gesamten existenziellen Lebensbedarf zu decken. Selbst wenn man den Gesamtbedarf des behinderten Kindes nur mit dem Grundbedarf von 12 360 DM und dem Behinderten-Pauschbetrag des § 33b EStG von 2 760 DM ansetzt, bleibt —angesichts von Einkünften von allenfalls ... DM im Jahr— ein durch Mittel des behinderten Kindes nicht gedeckter Grundbedarf von mehr als 10 000 DM. Ob darüber hinaus ein zusätzlicher behinderungsbedingter Mehrbedarf zu berücksichtigen wäre, kann daher dahingestellt bleiben.
Dabei kann der Senat offen lassen, ob er der vom VI. Senat des BFH in seinen Urteilen in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, in BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75 und vom VI R 182/98, BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79 angewandten Berechnungsmethode in allen Einzelheiten folgen könnte. Denn das gleiche Ergebnis ergibt sich, wenn man —wie die Verwaltung— in Anlehnung an § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG darauf abstellt, ob das behinderte Kind über eigene Einkünfte oder zur Bestreitung seines Lebensunterhalts bestimmte oder geeignete Bezüge von mehr als 12 360 DM verfügt (vgl. , BStBl I 1998, 347, 349, Tz. 16 ff.; DA-FamEStG— 63.3.6.3 Abs. 2 und 63.4.2.3 Abs. 1 Sätze 2 und 3, BStBl I 1998, 389, 428).
Angesichts der geringen Einkünfte des A von allenfalls ... DM p.a. wird der schädliche Jahresgrenzbetrag von 12 360 DM bei weitem nicht erreicht, sodass A auch nach Auffassung des Beklagten außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
5. Entgegen der Ansicht des Beklagten ist bei der Prüfung, ob der behinderte A imstande ist, sich selbst zu unterhalten, dessen Vermögen nicht zu berücksichtigen.
a) Der Beklagte kann sich für seine gegenteilige Auffassung nicht auf den Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG berufen. Hätte der Gesetzgeber die Einbeziehung von Kindesvermögen im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG beabsichtigt, hätte es nahe gelegen, dies —wie in § 33a Abs. 1 Satz 3 EStG geschehen— in der Vorschrift selbst unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen und zugleich zu regeln, unter welchen Voraussetzungen das Vermögen berücksichtigt werden soll. Da dies nicht geschehen ist, lässt der Wortlaut der Vorschrift auch die Auslegung zu, dass das Kindesvermögen bei der Beurteilung der Frage, ob das behinderte Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, außer Betracht bleiben soll.
Die zivilrechtliche Regelung in § 1602 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) kann für die Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG nicht herangezogen werden. Zwar entspricht die in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG verwendete Formulierung ”außerstande ..., sich selbst zu unterhalten” im Wesentlichen der des § 1602 Abs. 1 BGB. Nach der Regelung des § 1602 BGB muss ein volljähriger Unterhaltsberechtigter zur Deckung seines Lebensbedarfs grundsätzlich eigenes Vermögen einsetzen; die Einschränkung des § 1602 Abs. 2 BGB, nach der bei minderjährigen unverheirateten Kindern das Vermögen außer Betracht zu bleiben hat, gilt bei volljährigen Kindern nicht (vgl. IVb ZR 49/82, Neue Juristische Wochenschrift —NJW— 1984, 1813; vom XII ZR 20/96, NJW 1998, 978).
Die bürgerlich-rechtliche Belastung des Steuerpflichtigen durch Unterhaltspflichten ist jedoch für das Einkommensteuerrecht nicht maßgebend (ebenso das zu § 33a Abs. 1 Satz 2 EStG 1990 ergangene , BFHE 184, 315, BStBl II 1998, 241). Vielmehr regelt § 32 Abs. 4 EStG eigenständig die Leistungsfähigkeit bestimmter Gruppen von Kindern, die das 18. Lebensjahr vollendet haben. Das ergibt sich schon daraus, dass im Einkommensteuerrecht Kinder —von dem Ausnahmefall des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG abgesehen— grundsätzlich nur bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres berücksichtigt werden können; das gilt unabhängig davon, ob die in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG genannten Tatbestände bei Vollendung des 27. Lebensjahres des Kindes noch andauern. Das Zivilrecht kennt eine solche zeitliche Grenze für die Unterhaltspflicht der Eltern nicht.
b) Der Senat setzt sich mit dieser Auffassung nicht in Widerspruch zu den BFH-Urteilen in BFHE 181, 128, BStBl II 1997, 173 und in BFH/NV 1997, 343. Zwar hat der BFH in diesen zu § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 7, Abs. 5 EStG 1990 ergangenen Entscheidungen die Ansicht vertreten, bei Prüfung der Frage, ob ein behindertes Kinde sich selbst unterhalten könne, sei —ebenso wie im Zivilrecht— das Vermögen des Kindes zu berücksichtigen. Diese Rechtsprechung kann für die Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG n.F. schon deshalb nicht herangezogen werden, weil sie zu der Rechtslage vor der Systemumstellung des Kindergeldrechts durch das Jahressteuergesetz 1996 (JStG 1996) ergangen ist. Im Gegensatz zum geltenden Recht (wie auch der bis zum Veranlagungszeitraum 1974 maßgeblichen Rechtslage: vgl. § 32 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 1964 —StÄndG 1964— vom , BGBl I 1964, 885) war nach § 32 EStG 1990 die Berücksichtigung von Kindern zwischen 18 und 27 Jahren weder davon abhängig, dass der Steuerpflichtige das Kind überwiegend auf eigene Kosten unterhielt, noch davon, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes einen bestimmten Grenzbetrag nicht überschritten. Wie der Senat bereits unter II. 3. a der Gründe ausgeführt hat, dient das Kindergeld nach der Systemumstellung zum —ebenso wie der Kinderfreibetrag— in erster Linie der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes bei den Eltern. Das Tatbestandsmerkmal des Außerstandeseins zum Selbstunterhalt ist seitdem auch im Kindergeldrecht anzuwenden. Wegen dieser Systemumstellung und insbesondere nach Einfügung der Regelung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG durch das JStG 1996 (vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen unter 5. c) ist die Rechtsfrage, ob ein behindertes Kind außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten, nicht mehr in gleicher Weise zu beurteilen wie unter der Geltung des EStG 1990 (vgl. BFH-Urteil in BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75, unter II. 4.).
c) Gegen die Einbeziehung des Kindesvermögens bei der Anwendung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG spricht vor allem der systematische Zusammenhang der Regelung mit § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG.
aa) Nach dieser Vorschrift werden nicht behinderte Kinder einkommensteuerrechtlich nur berücksichtigt, wenn ihre ”Einkünfte und Bezüge” den gesetzlich bestimmten Jahresgrenzbetrag nicht übersteigen. Aus § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ergibt sich nichts dafür, dass auch das Kindesvermögen bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Kindes am Maßstab des Jahresgrenzbetrags zu berücksichtigen ist. Die Einbeziehung des Vermögens in die Bestimmung der Leistungsfähigkeit des Kindes hätte einer klaren gesetzlichen Regelung bedurft, wie sie der Gesetzgeber für den Bereich der außergewöhnlichen Belastung in § 33a Abs. 1 Satz 3 EStG getroffen hat.
bb) Für behinderte Kinder hat der Gesetzgeber zwar keinen festen Grenzbetrag bestimmt, bei dessen Überschreitung der Anspruch auf Kindergeld entfällt, denn § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG gilt nach seinem Wortlaut nur für die Tatbestände des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG. Aus § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ergibt sich jedoch, dass das Kindergeld und der Kinderfreibetrag nicht beansprucht werden können, wenn das behinderte Kind elterlicher Unterstützung nicht bedarf, weil es imstande ist, sich selbst zu unterhalten. Der VI. Senat des BFH hat hieraus gefolgert, § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG sei als gesetzliche Wertentscheidung und aus Gründen der Gleichbehandlung von behinderten und nicht behinderten Kindern auch für die Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals ”außerstande…sich selbst zu unterhalten” in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu beachten (BFH-Urteile in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, unter 3. a und in BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75). Der Kindergeldanspruch für ein behindertes Kind entfalle deshalb, wenn das Kind —unter Berücksichtigung etwaigen behinderungsbedingten Mehrbedarfs— über Einkünfte und zum Unterhalt bestimmte Bezüge verfüge, die den Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überstiegen.
Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. Sie beruht auf der zutreffenden Erwägung, dass alle Berücksichtigungstatbestände des § 32 Abs. 4 EStG in gleicher Weise der einkommensteuerlichen Freistellung des Existenzminimums der Kinder bei den Eltern dienen. Dieser Belastungssituation hat der Gesetzgeber durch eine am Existenzminimum eines Alleinstehenden orientierte Einkünfte- und Bezügegrenze typisierend Rechnung getragen mit der Folge, dass bei Überschreiten des gesetzlichen Grenzbetrags eine steuerrechtliche Entlastung der Eltern nicht mehr geboten ist.
cc) Da sich der Gesetzgeber bei den Tatbeständen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG in typisierender Betrachtung dafür entschieden hat, bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit nicht behinderter Kinder —abweichend von der Rechtslage im Zivilrecht— das Vermögen der Kinder außer Betracht zu lassen, kann nach den vorstehenden Ausführungen (unter 5. c bb) für behinderte Kinder nichts anderes gelten. Unter Berücksichtigung des allen Tatbeständen des § 32 Abs. 4 EStG gemeinsamen Zwecks sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber den typisierenden Charakter des § 32 Abs. 4 EStG punktuell, d.h. beschränkt auf den Tatbestand des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG, zugunsten einer umfassenden Prüfung der Leistungsfähigkeit des behinderten Kindes (einschließlich seines Vermögens) aufgeben wollte (im Ergebnis ebenso: , Entscheidungen der Finanzgerichte —EFG— 2001, 287; , EFG 2001, 982; , EFG 2001, 286; Greite in Korn, Einkommensteuergesetz, § 32 Rz. 62; Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, Kommentar, 21. Aufl., § 32 EStG, Anm. 118; Schmidt/Glanegger, a.a.O., § 32 Rz. 51; Jachmann in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 32 Rdnr. C 35; a.A. , EFG 2001, 1458; DA-FamEStG 63.3.6.3 Abs. 4, BStBl I 1998, 389, 421; Berlebach, Familienleistungsausgleich Fach A, I. Kommentierung, § 32 EStG, Rz. 116; Dürr in Frotscher, Einkommensteuergesetz, § 32 Rz. 83; Stache in Bordewin/Brandt, Einkommensteuergesetz, § 32 Rz. 132 a).
dd) Dass behinderte Kinder anders als nicht behinderte auch über das 27. Lebensjahr hinaus berücksichtigt werden können, steht dem nicht entgegen. Der Gesetzgeber trägt insoweit lediglich dem Umstand Rechnung, dass —anders als bei den Tatbeständen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG— in den Fällen der Behinderung in der Regel eine dauernde Bedürftigkeit der Kinder und damit eine dauernde Belastung der Eltern gegeben ist. Auch mit Rücksicht auf diese besondere Belastungssituation hätte es deshalb einer ausdrücklichen Regelung des Gesetzgebers bedurft, wenn er den Anspruch auf Kindergeld —in Durchbrechung des allgemeinen typisierenden Regelungsanliegens des § 32 Abs. 4 EStG— an die konkrete zivilrechtliche Unterhaltslage binden wollte.
d) Da bei systematisch-teleologischer Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG das Vermögen behinderter Kinder bei der Prüfung ihrer Leistungsfähigkeit nicht zu berücksichtigen ist, bedarf es keiner Erörterung, ob der Gesetzgeber ohne Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes befugt wäre, beschränkt auf den Kreis der behinderten Kinder die Einbeziehung des Vermögens anzuordnen, oder ob er gehalten wäre, insoweit eine differenzierende Regelung dergestalt zu treffen, dass für behinderte Kinder, die das 27. Lebensjahr vollendet haben, andere Regeln gelten als für Kinder unterhalb dieser Altersgrenze.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2003 S. 449
BFH/NV 2003 S. 449 Nr. 4
SAAAA-71340