BGH Beschluss v. - IX ZB 34/16

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Nichtbescheidung des ersten Antrags auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist

Leitsatz

1. Ein Rechtsanwalt darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass einem ersten Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist stattgegeben wird, sofern er erhebliche Gründe wie Arbeitsüberlastung oder Urlaubsabwesenheit dargelegt hat.

2. Der Rechtsanwalt muss sich nicht darüber vergewissern, ob seinem erstmaligen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist stattgegeben wurde, wenn er nach dem Inhalt der mitgeteilten Gründe auf eine Verlängerung vertrauen durfte.

Gesetze: § 233 Abs 1 S 1 ZPO, § 520 Abs 2 S 3 ZPO

Instanzenzug: Az: 4 S 236/14vorgehend Az: 13 C 232/11

Gründe

I.

1Die klagende Versicherungsgesellschaft nimmt den beklagten Rechtsanwalt auf Erstattung von Vorschusszahlungen in Anspruch, die sie an ihn für die Vertretung einer Versicherungsnehmerin in einem gerichtlichen Verfahren entrichtet hatte. Das Amtsgericht hat den Beklagten mit Urteil vom zur Zahlung von 1.048,15 € nebst Zinsen sowie vorgerichtlicher Kosten von 98,55 € verurteilt. Gegen das ihm am zugestellte Urteil hat der Beklagte mit Schriftsatz vom , der am selben Tag bei dem Landgericht Bremen eingegangen ist, Berufung eingelegt. Durch am verfassten und dem Landgericht zugegangenen Schriftsatz hat er unter Hinweis auf urlaubsbedingte Abwesenheit und damit einhergehende Arbeitsüberlastung beantragt, die Berufungsbegründungsfrist um einen Monat zu verlängern. Schließlich hat der Kläger mit Schriftsatz vom , ebenfalls an diesem Tage bei dem Landgericht eingegangen, die Berufung begründet und die Abweisung der Klage beantragt. Das Landgericht hat den Parteien durch Hinweisbeschluss vom mitgeteilt, dass es die Berufung des Beklagten als begründet erachte, und den Abschluss eines Vergleichs vorgeschlagen.

2Durch Verfügung vom hat der Vorsitzende der Berufungskammer den Beklagten dahin unterrichtet, dass der Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nicht bewilligt worden sei, weil sich die Akte noch bei dem Amtsgericht befunden habe. Folglich sei die Berufung nicht rechtzeitig begründet worden. Diese Verfügung ist dem Beklagten am zugegangen. Mit am verfassten und beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz hat der Beklagte einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gestellt und begründet. Zwischenzeitlich hat das Landgericht die Berufung des Beklagten durch Beschluss vom als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Beklagten.

II.

3Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, denn die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des Senats (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Der angefochtene Beschluss verletzt den Kläger in seinem verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip). Dieser verbietet es, einer Partei den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz aufgrund von Anforderungen zu versagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen die Partei auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Gerichts nicht rechnen musste (, NJW-RR 2005, 792 mwN).

41. Das Berufungsgericht hat gemeint, die Berufung des Beklagten sei unzulässig, weil sie nicht fristgerecht begründet worden sei. Da die Berufungsbegründungsfrist nicht verlängert worden sei, sei die Frist zur Begründung der Berufung mit Ablauf des verstrichen. Binnen dieser Frist sei keine Berufungsbegründung eingegangen. Vielmehr sei die Berufungsbegründung erst nach Fristablauf am eingereicht worden.

52. Diese Ausführungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand.

6a) Das Berufungsgericht hat nicht beachtet, dass die Berufung des Beklagten nur dann wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen werden durfte, wenn sein Antrag auf Verlängerung dieser Frist abgelehnt worden war ( IVb ZB 19/88, NJW-RR 1988, 581; vom - VII ZB 37/00, NJW-RR 2001, 931; vom , aaO). Über die beantragte Fristverlängerung hat gemäß § 520 Abs. 2 Satz 2 ZPO der Vorsitzende des Berufungsspruchkörpers zu entscheiden. An einer ablehnenden - ebenso wie einer stattgebenden - Entscheidung fehlt es indessen.

7Eine Entscheidung über den Verlängerungsantrag ist durch den Vorsitzenden nicht ergangen. Entsprechend seiner Mitteilung vom ist die beantragte Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nicht bewilligt worden, weil sich die Akte nach Eingang des Antrags noch bei dem Amtsgericht befunden hat. Demgemäß hat der Vorsitzende zwar keine Fristverlängerung gewährt, diese aber auch nicht abgelehnt. In dem Hinweis, dass dem Antrag nicht entsprochen worden sei, liegt keine Ablehnung der begehrten Fristverlängerung ( aaO S. 793). Eine Entscheidung über den Antrag auf Verlängerung einer Berufungsbegründungsfrist kann grundsätzlich auch nach deren Ablauf ergehen, sofern der Antrag rechtzeitig gestellt worden ist ( IVb ZR 86/86, BGHZ 102, 37, 40; Beschluss vom , aaO). Im Streitfall ist der Verlängerungsantrag fristgerecht am vor Ablauf der am Montag, dem endenden Berufungsbegründungsfrist angebracht worden. Bei dieser Sachlage ist die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um eine Entscheidung über das Fristverlängerungsgesuch zu treffen.

8b) Sollte eine Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum im Streitfall ungeachtet der geltend gemachten erheblichen Gründe abgelehnt werden, würde sich die Frage einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stellen, die gemäß § 236 Abs. 2 ZPO auch von Amts wegen zu gewähren sein kann ( aaO).

9aa) Vorliegend durfte sich der Beklagte für die Entscheidung über seinen Berufungsbegründungsfristverlängerungsantrag auf die gefestigte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verlassen, wonach seinem ersten Fristverlängerungsantrag auf der Grundlage der geltend gemachten Gründe hätte stattgegeben werden müssen.

10Zwar muss der Rechtsmittelführer grundsätzlich damit rechnen, dass der Vorsitzende des Rechtsmittelgerichts in Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens eine beantragte Verlängerung der Rechtsmittelbegründungsfrist versagt. Der Rechtsanwalt kann jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Allgemeinen erwarten, dass einem ersten Verlängerungsantrag dann entsprochen wird, wenn ein erheblicher Grund (§ 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO) vorgetragen wird (vgl. , VersR 2001, 1579, 1580; vom - II ZB 16/99, VersR 2000, 1433, 1434; vom - VIII ZB 24/01, VersR 2002, 1576; vom - VI ZB 52/05, VersR 2006, 568 Rn. 6; vom - VI ZB 65/06, NJW-RR 2008, 367 Rn. 9). Der erstmalige Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist war auf die als erheblich anerkannten Gründe der Arbeitsüberlastung (, NJW 1991, 2080, 2081; vom , aaO; vom - VIII ZB 55/06, NJW-RR 2009, 933 Rn. 12) sowie der Urlaubsabwesenheit ( aaO; vom , aaO; vom - VI ZB 16/12, NJW 2012, 2522 Rn. 7) gestützt worden. Mithin durfte der Beklagte darauf vertrauen, dass seinem Gesuch entsprochen wird.

11bb) Entgegen der Auffassung der Klägerin war der Beklagte nicht verpflichtet, sich vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist über eine Verlängerung dieser Frist durch Nachfrage bei Gericht zu vergewissern.

12Eine Nachfragepflicht kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn hierfür ein konkreter Anlass besteht. Ein solcher konkreter Anlass ist nicht schon dann gegeben, wenn der Anwalt in der noch laufenden Berufungsbegründungsfrist noch keine auf seinen Schriftsatz bezogene Verfügung des Gerichts erhält. Der Rechtsanwalt muss sich nicht darüber vergewissern, ob seinem Antrag stattgegeben wurde. Für eine solche Rückfrage besteht kein erkennbarer Anlass, wenn der Anwalt - wie im Streitfall - mit der Verlängerung der Frist rechnen konnte (, VersR 1999, 1559, 1560; vom - VI ZB 52/05, VersR 2006, 568 Rn. 7; vom - VI ZB 65/06, NJW-RR 2008, 367 Rn. 9; vom , aaO Rn. 11). Über einen rechtzeitig bei Gericht eingegangen Fristverlängerungsantrag kann - wie ausgeführt - auch noch nach Ablauf der Frist entschieden werden, so dass nicht entscheidend ist, ob der Antrag am letzten Tag der Frist tatsächlich bearbeitet worden wäre ( aaO). Mithin dürfte den Beklagten kein Verschulden an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist treffen.

13cc) Die versäumte Rechtshandlung wurde jedenfalls mit der am bei dem Landgericht eingegangenen Berufungsbegründung innerhalb der insoweit maßgeblichen Frist von einem Monat (§ 236 Abs. 2 Satz 2, § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO) nach Ende der am abgelaufenen Berufungsbegründungsfrist nachgeholt.

14dd) Nachdem dem Beklagten am die gerichtliche Verfügung vom über die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zugegangen ist, hat er am innerhalb der Frist von einem Monat (§ 236 Abs. 2 Satz 2, § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO) nach Wegfall des Hindernisses (§ 234 Abs. 2 ZPO) einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Die Gewährung von Wiedereinsetzung scheitert nicht daran, dass vom Ende der versäumten Frist am bis zur Stellung des Wiedereinsetzungsantrags am ein Zeitraum von einem Jahr verstrichen war (§ 234 Abs. 3 ZPO).

15Dem Beklagten ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bereits gemäß § 236 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO von Amts wegen zu gewähren, ohne dass es auf die Beachtung der Jahresfrist des § 234 Abs. 3 ZPO ankommt (vgl. Prütting/Gehrlein/Milger/Kazele, ZPO, 8. Aufl., § 234 Rn. 17). Eines fristgebundenen Wiedereinsetzungsantrags bedurfte es nicht, weil der Beklagte mit seinem Schriftsatz vom die versäumte Prozesshandlung innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO nachgeholt hatte und die Gründe für die unverschuldete Fristversäumung aktenkundig waren (, NJW-RR 2000, 1590; vom - XII ZB 169/12, NJW 2013, 471 Rn. 17). Im Streitfall sind diese Voraussetzungen erfüllt, weil das Gericht den rechtzeitig eingelegten Fristverlängerungsantrag nicht rechtzeitig beschieden hat, der Anwalt aber nach den von ihm dargelegten Gründen davon ausgehen durfte, dass seinem Gesuch stattgegeben wird.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2017:260117BIXZB34.16.0

Fundstelle(n):
BB 2017 S. 514 Nr. 10
DB 2017 S. 606 Nr. 11
DB 2017 S. 7 Nr. 9
NJW 2017 S. 9 Nr. 11
NJW-RR 2017 S. 564 Nr. 9
NWB-Eilnachricht Nr. 10/2017 S. 704
StuB-Bilanzreport Nr. 18/2017 S. 728
WM 2018 S. 145 Nr. 3
QAAAG-38412