Arzthaftung: Abgrenzung eines Diagnoseirrtums von einem Befunderhebungsfehler; Beweislastumkehr
Leitsatz
1. Dem Arzt ist kein Diagnoseirrtum, sondern ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen, wenn die unrichtige diagnostische Einstufung einer Erkrankung ihren Grund bereits darin hat, dass der Arzt die nach dem medizinischen Standard gebotenen Untersuchungen erst gar nicht veranlasst hat.
2. Eine Beweislastumkehr nimmt einer Partei, der sie zum Nachteil gereicht, nicht die Möglichkeit, den Beweis des Gegenteils zu führen.
Gesetze: § 823 Abs 1 BGB
Instanzenzug: Az: 24 U 1801/13vorgehend LG Kempten Az: 3 O 2832/04
Tatbestand
1Der Kläger macht, soweit im Revisionsverfahren von Interesse, gegen den Beklagten zu 2 (künftig: Beklagter), einen niedergelassenen Frauenarzt und Belegarzt, Ansprüche wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung im Zusammenhang mit seiner Geburt geltend. Er wirft dem Beklagten vor, in der Spätphase der Schwangerschaft der Mutter des Klägers ein HELLP-Syndrom nicht erkannt zu haben, was beim Kläger zu einer Sauerstoffunterversorgung und in der Folge zu schwersten Gesundheitsschäden geführt habe. Das Landgericht hat der Klage gegen den Beklagten überwiegend stattgegeben. Die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte seinen Antrag auf vollständige Abweisung der Klage weiter.
Gründe
I.
2Das Berufungsgericht ist auf der Grundlage des Gutachtens des Gerichtssachverständigen und dessen Anhörung davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr wegen eines (einfachen) Befunderhebungsfehlers des Beklagten vorliegen. Der Beklagte hätte sich wegen der ihm bekannten Umstände (erhöhter Blutdruck, massives Nasenbluten und eine erhöhte Eiweißausscheidung im Urin der Mutter) nicht mit der Diagnose "leichte Blutdruckerhöhung" zufrieden geben dürfen. Vielmehr hätte er weitere Befunde erheben müssen, von denen das Blutbild mit einer Wahrscheinlichkeit von deutlich über 50 % Hinweise auf ein HELLP-Syndrom ergeben hätte. Danach wäre es grob fehlerhaft gewesen, die Schwangerschaft nicht sofort zu beenden. Nach dem Sachverständigengutachten wäre bei einer frühen Entbindung der Gesundheitsschaden des Klägers vermutlich verhindert worden. Dies reiche zur Bejahung der Kausalität aus, denn wahrscheinlich brauche der Eintritt eines solchen Erfolges nicht zu sein. Eine Umkehr der Beweislast sei nur ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich sei. Auch wenn der Sachverständige in seinem Gutachten festgestellt habe, dass weitere Klarheit zur Kausalität des Befunderhebungsfehlers des Beklagten für die Gesundheitsschäden des Klägers möglicherweise durch Einholung eines neonatologischen Sachverständigengutachtens gewonnen werden könnte, sei die Einholung eines solchen Gutachtens nicht erforderlich. Denn eine Umkehr der Beweislast würde nur ausscheiden, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich sei. Dies werde aber vom Gerichtssachverständigen zum einen verneint, der lediglich nicht habe ausschließen können, dass der Hirnschaden möglicherweise auch postpartal verursacht worden sein könne, und zum anderen werde dies vom Beklagten auch nicht explizit behauptet. Dieser habe lediglich gerügt, dass der Anregung des Sachverständigen auf weitere Klärung, wann der Hirnschaden genau entstanden sei, nicht nachgegangen worden sei.
II.
3Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Revision rügt mit Recht, dass es das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft versäumt hat, die Kausalität des Behandlungsfehlers durch Einholung eines neonatologischen Sachverständigengutachtens zu klären.
41. Das Berufungsgericht ist im Ansatz der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats gefolgt, wonach auch ein einfacher Befunderhebungsfehler zu einer Beweislastumkehr hinsichtlich dessen Kausalität für den eingetretenen Gesundheitsschaden führen kann, wenn sich bei der gebotenen Abklärung der Symptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde und dieser Fehler generell geeignet ist, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen (vgl. etwa , VersR 2013, 1174 Rn. 11 mwN und vom - VI ZR 476/14, juris Rn. 17).
52. Das Berufungsgericht ist auch ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass nach den von ihm getroffenen Feststellungen die Voraussetzungen für eine solche Beweislastumkehr im Streitfall vorliegen. Es ist auf der Grundlage des Gutachtens des Gerichtssachverständigen zu dem Ergebnis gelangt, dass der Beklagte weitere Befunde hätte erheben müssen. Das danach zu fordernde Blutbild hätte mit einer Wahrscheinlichkeit von deutlich über 50 % Hinweise auf ein HELLP-Syndrom ergeben, wonach es grob fehlerhaft gewesen wäre, die Schwangerschaft nicht sofort zu beenden. Bei einer frühen Entbindung wäre der Gesundheitsschaden des Klägers vermutlich verhindert worden.
63. Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht nicht eine "Sperrwirkung" des Diagnosefehlers für die Annahme eines Befunderhebungsfehlers verkannt. Ein Befunderhebungsfehler ist gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird. Im Unterschied dazu liegt ein Diagnoseirrtum vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs gebotenen - therapeutischen oder diagnostischen - Maßnahmen ergreift (vgl. , BGHZ 188, 28, 35 Rn. 13; vom - VI ZR 78/13, VersR 2014, 374 Rn. 19; vom - VI ZR 39/87, VersR 1988, 293, 294; vom - VI ZR 26/92, VersR 1993, 836, 838; vom - VI ZR 205/93, VersR 1995, 46; vom - VI ZR 304/02, VersR 2003, 1256, 1257 und vom - VI ZR 221/06, VersR 2008, 644 Rn. 7). Ein Diagnoseirrtum setzt aber voraus, dass der Arzt die medizinisch notwendigen Befunde überhaupt erhoben hat, um sich eine ausreichende Basis für die Einordnung der Krankheitssymptome zu verschaffen. Hat dagegen die unrichtige diagnostische Einstufung einer Erkrankung ihren Grund bereits darin, dass der Arzt die nach dem medizinischen Standard gebotenen Untersuchungen erst gar nicht veranlasst hat - er mithin aufgrund unzureichender Untersuchungen vorschnell zu einer Diagnose gelangt, ohne diese durch die medizinisch gebotenen Befunderhebungen abzuklären - dann ist dem Arzt ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen. Denn bei einer solchen Sachlage geht es im Kern nicht um die Fehlinterpretation von Befunden, sondern um deren Nichterhebung (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 304/02, VersR 2003, 1256, 1257; vom - VI ZR 253/97, VersR 1999, 231, 232; vom - VI ZR 39/87, VersR 1988, 293, juris Rn. 14; Bischoff, Festschrift für Geiß, 2000, S. 345 ff.).
7So liegt der Fall hier. Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Berufungsgerichts hätte sich der Beklagte wegen der ihm bekannten Umstände (erhöhter Blutdruck, massives Nasenbluten und eine erhöhte Eiweißausscheidung im Urin der Mutter) nicht mit der Diagnose "leichte Blutdruckerhöhung" zufrieden geben dürfen, sondern hätte dem aufgrund der konkreten Symptome naheliegenden Verdacht auf eine Gestose mit den üblichen, dem Standard entsprechenden Befunderhebungen nachgehen müssen.
84. Erfolgreich rügt jedoch die Revision, dass das Berufungsgericht trotz eines entsprechenden Beweisantrags des Beklagten die Kausalität des Behandlungsfehlers nicht durch Einholung eines neonatologischen Sachverständigengutachtens weiter aufgeklärt hat. Der Gerichtssachverständige hat zwar, worauf sich das Berufungsgericht stützt, wegen des vorliegenden HELLP-Syndroms angenommen, dass eine frühere Entbindung den Gesundheitsschaden des Klägers vermutlich verhindert hätte. Er hat aber in seinem Gutachten auch geäußert, dass weitere Klarheit zur Kausalität möglicherweise durch Einholung eines neonatologischen Sachverständigengutachtens gewonnen werden könnte. Dabei stand als alternative Ursache der Hirnschädigung eine Infektion im Blick, die der Kläger während seines stationären Aufenthalts in der Kinderklinik erlitten hatte, welche antibiotisch behandelt werden musste und die ebenfalls zu den Gesundheitsschäden des Klägers hätte führen können. Hierauf hat sich der Beklagte gestützt und in der Berufungsinstanz gerügt, dass der Anregung des Sachverständigen auf weitere Klärung, wann der Hirnschaden genau entstanden sei, nicht nachgegangen worden sei. Das Berufungsgericht ist zwar im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass es für die Beweislastumkehr wegen des festgestellten Befunderhebungsfehlers des Klägers grundsätzlich ausreicht, dass eine frühere Beendigung der Schwangerschaft generell geeignet gewesen wäre, den Gesundheitsschaden zu verhindern. Es hat aber verkannt, dass eine Beweislastumkehr einer Partei, der sie zum Nachteil gereicht, nicht die Möglichkeit nimmt, den Beweis des Gegenteils zu führen (vgl. etwa Senatsurteil vom - VI ZR 144/10, VersR 2011, 1400 Rn. 10). Deshalb durfte das Berufungsgericht den Beweisantrag des Beklagten auf Einholung eines neonatologischen Sachverständigengutachtens zu der Behauptung, dass die Schädigung des Klägers postpartal durch eine Infektion in der Kinderklinik aufgetreten sei, nicht übergehen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts bedurfte es hierzu auch keiner "expliziten" Behauptung des Klägers, nachdem der Gerichtssachverständige diese Möglichkeit offengelassen und sogar selbst angeregt hatte, weitere Klarheit durch Einholung eines neonatologischen Sachverständigengutachtens zu gewinnen. Dies wird das Berufungsgericht in neuer Verhandlung nachzuholen haben.
Galke Wellner Stöhr
von Pentz Oehler
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2016:260116UVIZR146.14.0
Fundstelle(n):
NJW 2016 S. 1447 Nr. 20
IAAAF-70955