Leitsatz
Leitsatz:
Art. 39 Abs. 2 EG ist dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, es bei der Besteuerung der Einkünfte eines gebietsfremden Arbeitnehmers, der seine berufliche Tätigkeit während eines Teils des Jahres in diesem Mitgliedstaat ausübte, abzulehnen, diesem Arbeitnehmer unter Berücksichtigung seiner persönlichen Lage und seines Familienstands einen Steuervorteil zu gewähren, mit der Begründung, er habe zwar seine gesamten oder nahezu seine gesamten Einkünfte im fraglichen Zeitraum in diesem Mitgliedstaat erzielt, doch stellten sie nicht den wesentlichen Teil seiner in dem betreffenden Jahr insgesamt zu versteuernden Einkünfte dar. Die Tatsache, dass dieser Arbeitnehmer in einen Drittstaat und nicht in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union umgezogen ist, um dort seine berufliche Tätigkeit auszuüben, hat keine Auswirkung auf diese Auslegung.
Instanzenzug: Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande)
Entscheidungsgründe:
1Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 39 EG (jetzt Art. 45 AEUV).
2Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen) und Herrn Kieback über die Weigerung der niederländischen Steuerverwaltung, auf die Einkünfte, die Herr Kieback im Zeitraum vom 1. Januar bis zum erzielte, in dem er in den Niederlanden abhängig beschäftigt war, Belastungen anzurechnen, die er in diesem Zeitraum aufgrund der Tilgung eines für den Erwerb einer eigenen, in Deutschland belegenen Wohnung aufgenommenen und durch eine Hypothek gesicherten Darlehens zu tragen hatte.
Rechtlicher Rahmen
3In den Niederlanden bestimmt Art. 2.3 der Wet Inkomstenbelasting 2001 (Einkommensteuergesetz 2001, im Folgenden: Gesetz von 2001):
"Die Einkommensteuer wird erhoben auf die vom Steuerpflichtigen im Kalenderjahr erzielten
a) steuerpflichtigen Einkünfte aus Arbeit und Wohnung,
b) steuerpflichtigen Einkünfte aus einer wesentlichen Beteiligung und
c) steuerpflichtigen Einkünfte aus Kapitalvermögen."
4Art. 2.4 des Gesetzes von 2001 sieht in Abs. 1 vor:
"Die steuerpflichtigen Einkünfte aus Arbeit und Wohnung werden bestimmt
a) für inländische Steuerpflichtige nach den Regeln des Kapitels 3;
b) für ausländische Steuerpflichtige nach den Regeln des Abschnitts 7.2 ..."
5In Abs. 1 von Art. 2.5 des Gesetzes von 2001 heißt es:
"Inländische Steuerpflichtige, die nicht während des gesamten Kalenderjahrs in den Niederlanden wohnen, und ausländische Steuerpflichtige, die als Einwohner eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union oder eines durch Ministerialerlass bestimmten anderen Staats, mit dem die Niederlande ein Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung geschlossen haben, das den Austausch von Informationen vorsieht, in die Besteuerung durch diesen Mitgliedstaat oder Drittstaat einbezogen werden, können sich für die Anwendung der Vorschriften entscheiden, die dieses Gesetz für inländische Steuerpflichtige vorsieht. ...
..."
6Nach Art. 3.120 Abs. 1 des Gesetzes von 2001 ist ein Einwohner der Niederlande berechtigt, "negative Einkünfte" aus einer eigenen, in den Niederlanden belegenen Wohnung in Abzug zu bringen.
7Art 7.1 Buchst a des Gesetzes von 2001 sieht vor, dass die Steuer auf die im Kalenderjahr in den Niederlanden erzielten steuerpflichtigen Einkünfte aus Arbeit und Wohnung erhoben wird.
8Nach Art. 7.2 Abs. 2 Buchst. b und f des Gesetzes von 2001 gehören zu den steuerpflichtigen Einkünften aus Arbeit und Wohnung die steuerpflichtigen Bezüge aus einer Beschäftigung, die in den Niederlanden ausgeübt wird oder wurde, und gegebenenfalls die steuerpflichtigen Einkünfte aus einer eigenen Wohnung in den Niederlanden.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
9Herr Kieback ist deutscher Staatsangehöriger. In der Zeit vom 1. Januar bis zum , an dem er in die Vereinigten Staaten umzog, um dort einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen, arbeitete er in den Niederlanden, wohnte jedoch in Deutschland, wo er eine eigene Wohnung besaß.
10Hätte Herr Kieback seine Anstellung in den Niederlanden während des gesamten Jahres 2005 beibehalten, hätte er, obgleich er in diesem Mitgliedstaat Gebietsfremder war, die "negativen Einkünfte" aus seiner Wohnung, die aus den Belastungen durch ein für ihren Erwerb aufgenommenes Darlehen resultierten, auf die steuerpflichtigen Einkünfte aus seiner abhängigen Beschäftigung für dieses Jahr anrechnen können, sofern er den wesentlichen Teil seiner Einkünfte im genannten Jahr in den Niederlanden erzielt hätte.
11Nachdem die niederländische Steuerverwaltung festgestellt hatte, dass Herr Kieback im Jahr 2005 den wesentlichen Teil seiner Einkünfte in den Vereinigten Staaten erzielt hatte, besteuerte sie die von ihm in diesem Jahr in den Niederlanden erzielten Einkünfte, ohne die "negativen Einkünfte" aus seiner Wohnung zu berücksichtigen.
12Nach Zurückweisung seines bei der niederländischen Steuerverwaltung eingelegten Einspruchs erhob Herr Kieback Klage bei der Rechtbank te Breda (Gericht von Breda), die ihr stattgab. Der mit der Berufung befasste Gerechtshof teʼs-Hertogenbosch (Gerichtshof von Den Bosch) bestätigte am die im ersten Rechtszug ergangene Entscheidung.
13Der Staatssecretaris van Financiën legte beim vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde ein und trug vor, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Gewährung von Steuervorteilen, die mit der persönlichen Lage und dem Familienstand in Zusammenhang stünden, die Gleichstellung von Gebietsfremden und Gebietsansässigen nur dann zwingend geboten sei, wenn mindestens 90 % des Welteinkommens des Steuerschuldners in seinem Beschäftigungsstaat der Besteuerung unterlägen, wobei dieses Kriterium dort auf jährlicher Grundlage geprüft werden müsse.
14Das vorlegende Gericht fragt sich, ob in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden für die Beantwortung der Frage, ob der Steuerpflichtige seine gesamten oder nahezu seine gesamten Einkünfte im Beschäftigungsstaat erzielt, nicht auf die Situation während des gesamten Steuerjahrs abzustellen ist, sondern nur auf die Situation während des Zeitraums, in dem der Steuerpflichtige in einem Mitgliedstaat - im vorliegenden Fall der Bundesrepublik Deutschland - wohnte und in einem anderen Mitgliedstaat, dem Königreich der Niederlande, arbeitete. Dieser Ansatz erscheint dem vorlegenden Gericht zwar näherliegend, doch äußert es Zweifel im Hinblick auf die Empfehlung 94/79/EG der Kommission vom betreffend die Besteuerung bestimmter Einkünfte, die von Nichtansässigen in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres Wohnsitzes erzielt werden (ABl. 1994, L 39, S. 22), in deren Art. 2 Abs. 2 auf die gesamten steuerpflichtigen Einkünfte eines Kalenderjahrs abgestellt wird.
15Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 39 EG dahin auszulegen, dass der Mitgliedstaat, in dem ein Steuerpflichtiger abhängig beschäftigt ist, bei der Erhebung der Einkommensteuer die persönliche Lage und den Familienstand des Steuerpflichtigen in einem Fall berücksichtigen muss, in dem dieser Steuerpflichtige nur für einen Teil des Steuerjahrs in diesem Mitgliedstaat arbeitete, während er in einem anderen Mitgliedstaat wohnte, seine gesamten oder nahezu seine gesamten Einkünfte während dieses Zeitraums im Beschäftigungsstaat erzielte, im Lauf dieses Jahres in einen anderen Staat umzog und dann dort arbeitete und über das gesamte Steuerjahr gesehen nicht seine gesamten oder nahezu seine gesamten Einkünfte im erstgenannten Beschäftigungsstaat erzielte?
2. Macht es für die Beantwortung der ersten Frage einen Unterschied, ob der Staat, in den der Arbeitnehmer im Lauf des Steuerjahrs umzog, um dort zu arbeiten, kein Mitgliedstaat der Europäischen Union ist?
Zu den Vorlagefragen
16Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 39 Abs. 2 EG dahin auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat daran hindert, es bei der Besteuerung der Einkünfte eines gebietsfremden Arbeitnehmers, der seine berufliche Tätigkeit während eines Teils des betreffenden Jahres in diesem Mitgliedstaat und sodann in einem anderen Land ausübte, abzulehnen, diesem Arbeitnehmer unter Berücksichtigung seiner persönlichen Lage und seines Familienstands einen Steuervorteil zu gewähren, mit der Begründung, er habe zwar seine gesamten oder nahezu seine gesamten Einkünfte im fraglichen Zeitraum in diesem Mitgliedstaat erzielt, doch stellten sie nicht den wesentlichen Teil seiner in diesem Jahr insgesamt zu versteuernden Einkünfte dar. Das vorlegende Gericht fragt außerdem, ob die Tatsache, dass dieser Arbeitnehmer in einen Drittstaat und nicht in einen anderen Mitgliedstaat der Union umgezogen ist, um dort seine berufliche Tätigkeit auszuüben, Auswirkungen auf diese Auslegung haben kann.
17Einleitend ist erstens klarzustellen, dass das vorlegende Gericht diese Fragen in einer Situation stellt, in der feststeht, dass ein in den Niederlanden wohnender Steuerpflichtiger im Unterschied zu einem Gebietsfremden wie Herrn Kieback die Möglichkeit hat, negative Einkünfte aus einer eigenen, in den Niederlanden belegenen Wohnung geltend zu machen, selbst wenn er im Lauf des Jahres in einen anderen Staat umgezogen ist und deshalb nicht seine gesamten oder nahezu seine gesamten Einkünfte dieses Jahres in den Niederlanden bezogen hat.
18Daher steht fest, dass im vorliegenden Fall die nach dem anwendbaren nationalen Recht für gebietsfremde Steuerpflichtige vorgesehene Behandlung weniger günstig ist als die Behandlung gebietsansässiger Steuerpflichtiger.
19Zweitens ist unstreitig, dass die Berücksichtigung "negativer Einkünfte" aus einer im Wohnmitgliedstaat des betreffenden Steuerpflichtigen belegenen Immobilie, wie die Generalanwältin in Nr. 29 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, einen an die persönliche Lage des Betroffenen geknüpften Steuervorteil darstellt, der für die Beurteilung seiner Gesamtsteuerkraft relevant ist (vgl. in diesem Sinne Urteile Lakebrink und Peters-Lakebrink, C-182/06, EU:C:2007:452, Rn. 34, sowie Renneberg, C-527/06, EU:C:2008:566, Rn. 65 bis 67).
20In diesem Zusammenhang ist in Bezug auf die ungünstigere Behandlung Gebietsfremder durch das betreffende nationale Recht darauf hinzuweisen, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer nach Art. 39 Abs. 2 EG die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen umfasst. Der Gerichtshof hat insbesondere entschieden, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung auf dem Gebiet der Entlohnung seiner Wirkung beraubt wäre, wenn er durch diskriminierende nationale Vorschriften im Bereich der Einkommensteuer beeinträchtigt werden könnte (vgl. u. a. Urteile Schumacker, C-279/93, EU:C:1995:31, Rn. 23, und Sopora, C-512/13, EU:C:2015:108, Rn. 22).
21Eine Diskriminierung kann sich jedoch nur daraus ergeben, dass unterschiedliche Vorschriften auf vergleichbare Situationen angewandt werden oder dass dieselbe Vorschrift auf unterschiedliche Situationen angewandt wird (vgl. insbesondere Urteile Schumacker, C-279/93, EU:C:1995:31, Rn. 30, und Talotta, C-383/05, EU:C:2007:181, Rn. 18).
22Im Bereich der direkten Steuern befinden sich Gebietsansässige und Gebietsfremde in der Regel nicht in einer vergleichbaren Situation, da die Einkünfte, die ein Gebietsfremder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erzielt, meist nur einen Teil seiner Gesamteinkünfte darstellen, deren Schwerpunkt an seinem Wohnort liegt, und da die persönliche Steuerkraft des Gebietsfremden, die sich aus der Berücksichtigung seiner Gesamteinkünfte sowie seiner persönlichen Lage und seines Familienstands ergibt, leichter an dem Ort beurteilt werden kann, an dem der Mittelpunkt seiner persönlichen Interessen und seiner Vermögensinteressen liegt und der in der Regel der Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts ist (vgl. u. a. Urteile Schumacker, C-279/93, EU:C:1995:31, Rn. 31 und 32, und Grünewald, C-559/13, EU:C:2015:109, Rn. 25).
23Der Gerichtshof hat daher in Rn. 34 des Urteils Schumacker (C-279/93, EU:C:1995:31) festgestellt, dass es in Anbetracht der objektiven Unterschiede zwischen der Situation der Gebietsansässigen und derjenigen der Gebietsfremden sowohl hinsichtlich der Einkunftsquelle als auch hinsichtlich der persönlichen Steuerkraft oder der persönlichen Lage und des Familienstands in der Regel nicht diskriminierend ist, wenn ein Mitgliedstaat Gebietsfremden bestimmte Steuervergünstigungen versagt, die er Gebietsansässigen gewährt (vgl. auch Urteil Grünewald, C-559/13, EU:C:2015:109, Rn. 26).
24Gebietsfremde könnten nur dann im Sinne des EG-Vertrags gegenüber Gebietsansässigen diskriminiert werden, wenn ungeachtet ihres Wohnsitzes in verschiedenen Mitgliedstaaten nachgewiesen wäre, dass sich die beiden Gruppen von Steuerpflichtigen in Anbetracht des Zwecks und des Inhalts der fraglichen nationalen Vorschriften in einer vergleichbaren Lage befinden (vgl. Urteil Gschwind, C-391/97, EU:C:1999:409, Rn. 26).
25Dies ist insbesondere der Fall, wenn ein gebietsfremder Steuerpflichtiger in seinem Wohnmitgliedstaat keine nennenswerten Einkünfte hat und sein zu versteuerndes Einkommen im Wesentlichen aus einer Tätigkeit bezieht, die er im Beschäftigungsmitgliedstaat ausübt, so dass der Wohnmitgliedstaat nicht in der Lage ist, ihm die Vergünstigungen zu gewähren, die sich aus der Berücksichtigung seiner persönlichen Lage und seines Familienstands ergeben (vgl. u. a. Urteile Schumacker, C-279/93, EU:C:1995:31, Rn. 36, Lakebrink und Peters-Lakebrink, C-182/06, EU:C:2007:452, Rn. 30, und Renneberg, C-527/06, EU:C:2008:566, Rn. 61).
26In einem solchen Fall besteht die Diskriminierung darin, dass die persönliche Lage und der Familienstand eines Gebietsfremden, der in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Wohnmitgliedstaat den wesentlichen Teil seiner Einkünfte und praktisch seine gesamten Familieneinkünfte erzielt, weder im Wohnmitgliedstaat noch im Beschäftigungsmitgliedstaat berücksichtigt werden (Urteile Schumacker, C-279/93, EU:C:1995:31, Rn. 38, Lakebrink und Peters-Lakebrink, C-182/06, EU:C:2007:452, Rn. 31, und Renneberg, C-527/06, EU:C:2008:566, Rn. 62).
27Der Gerichtshof hat in Rn. 34 des Urteils Lakebrink und Peters-Lakebrink (C-182/06, EU:C:2007:452) klargestellt, dass sich die im Urteil Schumacker entwickelte Rechtsprechung auf alle steuerlichen Vergünstigungen im Zusammenhang mit der Steuerkraft des Gebietsfremden bezieht, die weder im Wohnmitgliedstaat noch im Beschäftigungsmitgliedstaat gewährt werden (Urteil Renneberg, C-527/06, EU:C:2008:566, Rn. 63).
28Im Hinblick auf derartige an die Steuerkraft des betreffenden Steuerpflichtigen anknüpfende Steuervergünstigungen führt der bloße Umstand, dass ein Gebietsfremder im Beschäftigungsstaat unter denselben Bedingungen Einkünfte erzielt hat wie ein in diesem Staat Ansässiger, daher nicht dazu, dass seine Lage mit der des Gebietsansässigen objektiv vergleichbar würde. Für die Feststellung einer solchen objektiven Vergleichbarkeit ist außerdem erforderlich, dass der Wohnmitgliedstaat nicht in der Lage ist, dem Gebietsfremden die Vorteile zu gewähren, die sich aus der Berücksichtigung seiner Gesamteinkünfte sowie seiner persönlichen Lage und seines Familienstands ergeben, weil er den wesentlichen Teil seiner Einkünfte im Beschäftigungsmitgliedstaat bezieht.
29Zieht ein Gebietsfremder im Lauf des Jahres in einen anderen Staat, um seine berufliche Tätigkeit dort auszuüben, spricht nichts für die Annahme, dass der Wohnsitzstaat allein aufgrund dieses Umstands nicht mehr in der Lage wäre, die Gesamteinkünfte sowie die persönliche Lage und den Familienstand des Betroffenen zu berücksichtigen. Da der Betroffene nach seinem Wegzug außerdem nacheinander oder sogar gleichzeitig in mehreren Ländern abhängig tätig sein und den Mittelpunkt seiner persönlichen Interessen und seiner Vermögensinteressen in das eine oder das andere dieser Länder verlegen konnte, kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Staat, in dem er vor seinem Wegzug berufstätig war, diese Lage einfacher beurteilen kann als der Staat oder gegebenenfalls die Staaten, in dem oder denen er nach seinem Wegzug wohnt.
30Etwas anderes könnte nur gelten, wenn sich herausstellte, dass der Betroffene in dem Beschäftigungsstaat, den er im Lauf des Jahres verlassen hat, in diesem Jahr den wesentlichen Teil seiner Einkünfte und praktisch seine gesamten Familieneinkünfte erzielt hat, so dass dieser Staat am besten in der Lage wäre, ihm die Vorteile zu gewähren, die sich aus der Berücksichtigung seiner Gesamteinkünfte sowie seiner persönlichen Lage und seines Familienstands ergeben.
31Um festzustellen, ob dies der Fall ist, müssen alle notwendigen Informationen vorliegen, die es ermöglichen, die Gesamtsteuerkraft des Steuerpflichtigen unter Berücksichtigung der Quelle seiner Einkünfte sowie seiner persönlichen Lage und seines Familienstands zu beurteilen. Damit eine solche Beurteilung insoweit hinreichend relevant ist, muss sich die zu berücksichtigende Lage auf das gesamte betreffende Steuerjahr beziehen, da dieser Zeitraum im Allgemeinen als der Zeitraum anerkannt ist, der in den meisten Mitgliedstaaten zur Festsetzung der Einkommensteuer dient; auch in den Niederlanden ist dies im Übrigen der Fall.
32Dies muss somit insbesondere für die Bestimmung des Teils der vom Betroffenen insgesamt erzielten Familieneinkünfte gelten, den die Einkünfte darstellen, die er im Beschäftigungsstaat erzielt hat, bevor er zur Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit in einen anderen Staat zog.
33Dieser Ansatz scheint im Übrigen bei der Annahme der Empfehlung 94/79 ausschlaggebend gewesen zu sein, deren Art. 2 Abs. 2 vorsieht, dass die Mitgliedstaaten die Einkünfte gebietsfremder natürlicher Personen keiner höheren Steuerbelastung unterwerfen dürfen als die Einkünfte Gebietsansässiger, wenn die in dem Mitgliedstaat, in dem die natürliche Person nicht ansässig ist, zu versteuernden Einkünfte mindestens 75 % des in einem Veranlagungszeitraum steuerpflichtigen Gesamteinkommens ausmachen.
34Daraus folgt, dass ein gebietsfremder Steuerpflichtiger, der im Beschäftigungsstaat nicht seine gesamten oder nahezu seine gesamten Familieneinkünfte des gesamten betreffenden Jahres erzielt hat, sich nicht in einer vergleichbaren Lage wie die in diesem Staat Ansässigen befindet, so dass seine Steuerkraft zum Zweck der Besteuerung seiner Einkünfte dort zu berücksichtigen wäre. Der Mitgliedstaat, in dem der Steuerpflichtige im gesamten betreffenden Jahr nur einen Teil seiner steuerpflichtigen Einkünfte erzielt hat, ist daher nicht verpflichtet, ihm die Vorteile zu gewähren, die er Gebietsansässigen gewährt.
35Dieses Ergebnis kann nicht durch den Umstand in Frage gestellt werden, dass der Betroffene seine Arbeitsstelle in einem Mitgliedstaat aufgegeben hat, um seine berufliche Tätigkeit nicht in einem anderen Mitgliedstaat, sondern in einem Drittstaat auszuüben. Die Auslegung, die Art. 39 Abs. 2 EG in Anbetracht des durch diese Vorschrift geschaffenen Verbots der Benachteiligung eines Arbeitnehmers, der eine berufliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Wohnmitgliedstaat ausübt, zu geben ist, gilt nämlich für alle Mitgliedstaaten. In einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden gilt dies in Bezug auf den Mitgliedstaat, in dem der in einem anderen Mitgliedstaat wohnhafte Arbeitnehmer seine berufliche Tätigkeit ausübte, bevor er in einen anderen Staat zog, um dort beruflich tätig zu werden, auch dann, wenn es sich bei Letzterem nicht um einen Mitgliedstaat, sondern um einen Drittstaat handelt.
36Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 39 Abs. 2 EG dahin auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, es bei der Besteuerung der Einkünfte eines gebietsfremden Arbeitnehmers, der seine berufliche Tätigkeit während eines Teils des Jahres in diesem Mitgliedstaat ausübte, abzulehnen, diesem Arbeitnehmer unter Berücksichtigung seiner persönlichen Lage und seines Familienstands einen Steuervorteil zu gewähren, mit der Begründung, er habe zwar seine gesamten oder nahezu seine gesamten Einkünfte im fraglichen Zeitraum in diesem Mitgliedstaat erzielt, doch stellten sie nicht den wesentlichen Teil seiner in dem betreffenden Jahr insgesamt zu versteuernden Einkünfte dar. Die Tatsache, dass dieser Arbeitnehmer in einen Drittstaat und nicht in einen anderen Mitgliedstaat der Union umgezogen ist, um dort seine berufliche Tätigkeit auszuüben, hat keine Auswirkung auf diese Auslegung.
Kosten
37Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Art. 39 Abs. 2 EG ist dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, es bei der Besteuerung der Einkünfte eines gebietsfremden Arbeitnehmers, der seine berufliche Tätigkeit während eines Teils des Jahres in diesem Mitgliedstaat ausübte, abzulehnen, diesem Arbeitnehmer unter Berücksichtigung seiner persönlichen Lage und seines Familienstands einen Steuervorteil zu gewähren, mit der Begründung, er habe zwar seine gesamten oder nahezu seine gesamten Einkünfte im fraglichen Zeitraum in diesem Mitgliedstaat erzielt, doch stellten sie nicht den wesentlichen Teil seiner in dem betreffenden Jahr insgesamt zu versteuernden Einkünfte dar. Die Tatsache, dass dieser Arbeitnehmer in einen Drittstaat und nicht in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union umgezogen ist, um dort seine berufliche Tätigkeit auszuüben, hat keine Auswirkung auf diese Auslegung.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BB 2015 S. 1685 Nr. 29
BFH/NV 2015 S. 1325 Nr. 9
DStR 2015 S. 6 Nr. 26
DStRE 2015 S. 1233 Nr. 20
IStR 2015 S. 554 Nr. 15
PIStB 2015 S. 207 Nr. 8
RIW 2015 S. 530 Nr. 8
UAAAF-70455