Schätzungsermessen vs. Regulierung
Bei Abfassung des ersten Teils dieses Editorials stand die Veröffentlichung des Quartalsabschlusses der Deutschen Bank unmittelbar vor der Tür. Noch durfte über die Höhe der gebildeten Rückstellung für Rechtsstreitigkeiten und Rechtsverfolgungskosten gerätselt werden. In dieses Szenario passt der von Hermann Kleinmanns perfekt. Dieser befasst sich detailliert auf der Grundlage der US-amerikanischen Rechtslage, die zuvörderst der Alimentierung einer überbordenden Anwaltsindustrie dient, mit dem Erfordernis der Rückstellungsbildung nach IAS 37. Die Darstellung der einschlägigen Rechtslage des nationalen Rechts durch unseren Autor ist beeindruckend. Die Ansatzkriterien in IAS 37.10 für Verbindlichkeitsrückstellungen – bestehende Außenverpflichtung mit wahrscheinlichem Ressourcenabfluss – entsprechen denjenigen nach § 249 Abs. 1 HGB in der dominierenden Auslegung durch den BFH. Ob nun eine Verpflichtung vorliegt oder nicht, weiß man erst hinterher – also nach rechtskräftigem Urteil oder rechtsverbindlichem Vergleich. Gleichwohl ist zu jedem Bilanzstichtag die Frage nach dem Bestehen einer (bilanzrechtlichen) Schuld zu beantworten, die zum Abfluss von Ressourcen führt. Da der Bilanzierer dies zu diesem Zeitpunkt nicht weiß bzw. wissen kann, muss mit Wahrscheinlichkeiten operiert werden. Und hier tut sich eine mathematisch-statistische Hürde auf: Denn eine eigentliche Wahrscheinlichkeitsrechnung auf der Grundlage des Gesetzes der großen Zahl kann auf singuläre Ereignisse wie den Ausgang eines Rechtsstreits nicht angewandt werden. Was dann? Es bedarf der Abwägung des Für und Wider, des Austauschs von Argumenten, um das Abwägen der Wahrscheinlichkeit dingfest zu machen. Und wenn diese Prozedur beendet ist, folgt die nächste Rechenaufgabe, nämlich die Festlegung der Höhe einer wahrscheinlichen Inanspruchnahme, also die Bewertung. Am Schluss allen Räsonierens über die Bilanzierung steht dann die Erkenntnis über das Vorliegen erheblicher und nicht auszuschaltender Ermessensspielräume des Managements. Wenn dem Editor und dem Leser nun die Ergebnisse des Vierteljahresabschlusses der Deutschen Bank bekannt sind, sollten diese Ermessensspielräume von u. U. erheblicher Bandbreite beachtet werden.
Diesem ernüchternden Resultat aus Sicht der „objektiven Bilanzierung“ versucht der IASB kaum mit Verve entgegenzutreten. Standardentwürfe von 2005 und 2010 zur Neufassung oder Ersetzung des IAS 37 wurden sang- und klanglos eingemottet. Anders verhält es sich auf dem Spezialgebiet der fair value-Bestimmung von Beteiligungen. Hier haben sich in der Praxis Beurteilungsspielräume eröffnet, die der Board durch eine Ergänzung des noch recht jungen IFRS 13 einschränken will. Hier soll also das Bilanzierungsermessen reduziert werden, während dieses beim Rückstellungsansatz offen wie ein Scheunentor erscheint. Der von Jens Freiberg nimmt den Entwurf des IASB kritisch unter die Lupe mit der Fragestellung: Was ist die unit of account?
Im weiteren von Patrik Halada wird eine wenigstens dem Editor bisher verborgene Reibungsfläche zwischen den Inhalten eines Konzern- und eines Teilkonzernabschlusses dargestellt. Schon aus Gründen der Fortbildung sollte unsere Leserschaft diesem Aufsatz die gebührende Beachtung schenken. Man sieht hier erneut: Die Summe der Teile entspricht nicht dem Ganzen.
Wolf-Dieter Hoffmann
Fundstelle(n):
PiR 2/2015 Seite 1
NWB CAAAE-83768