BGH Urteil v. - VI ZR 152/10

Haftungsprivileg bei Arbeitsunfall: Begriff der gemeinsamen Betriebsstätte

Leitsatz

Gesetze: § 106 Abs 3 Alt 3 SGB 7

Instanzenzug: Az: 52 S 9/10 Urteilvorgehend AG Köpenick Az: 17 C 321/08

Tatbestand

1Der Kläger fuhr mit einem Kleintransporter seines Arbeitgebers zu einem Baumarkt. Dort kaufte er für seinen Arbeitgeber sechs Säcke Estrichzement. Nach der Bezahlung ging er zur Ladezone für Warenabholer. Er übergab dem dort als Arbeitnehmer des Baumarkts tätigen Beklagten den Kaufbeleg. Daraufhin holte dieser mit einem Gabelstapler aus dem Lager eine Palette mit ca. 1,5 Tonnen Estrichzement. Er fuhr den Gabelstapler bis auf zwei Meter an den in der Ladezone geparkten Kleintransporter heran, damit die Säcke eingeladen werden konnten. Sodann stieg er aus dem Gabelstapler aus. Dieser setzte sich danach in Bewegung und verletzte den mit dem Rücken zu dem Gabelstapler an dem Kleintransporter stehenden Kläger.

2Der Unfall ist von dem Unfallversicherer als Arbeitsunfall des Klägers anerkannt. Die Parteien streiten darum, ob die zivilrechtliche Haftung für den Personenschaden ausgeschlossen ist, weil es sich um einen Unfall auf einer "gemeinsamen Betriebsstätte" gehandelt hat (§ 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII). Der Kläger hat in diesem Zusammenhang behauptet, der Beklagte sei nach dem Abstellen des Gabelstaplers zurück ins Lager gegangen; der Beklagte hat geltend gemacht, er habe dem Kläger beim Einladen der Zementsäcke helfen wollen, jedoch habe sich der Gabelstapler sofort nach dem Aussteigen in Bewegung gesetzt.

3Der Kläger hat wegen der erlittenen Unfallverletzungen die Zahlung eines Schmerzensgeldes verlangt. Erstinstanzlich hat er im Wege der offenen Teilklage einen Teilbetrag von 900 € geltend gemacht. Das Landgericht hat den Beklagten antragsgemäß verurteilt. Dagegen hat der Beklagte Berufung eingelegt. Der Kläger hat in der Berufungsinstanz die Klage erweitert und beantragt, den Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von insgesamt nicht unter 3.000 € zu verurteilen. Das Berufungsgericht hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und ihn auf die Anschlussberufung - unter deren teilweiser Zurückweisung - verurteilt, ein Schmerzensgeld von 2.500 € zu zahlen. Dagegen richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision des Beklagten.

Gründe

I.

4Das Berufungsgericht hat im Wesentlichen ausgeführt:

5Der Beklagte hafte für die vom Kläger erlittenen Verletzungen, weil er es versäumt habe, den Gabelstapler ausreichend gegen ein Losrollen zu sichern. Im Hinblick auf die Schwere der Verletzungen und die Dauer des Heilungsprozesses sowie der Minderung der Erwerbsfähigkeit sei insgesamt ein Schmerzensgeld von 2.500 € angemessen.

6Eine Haftungsbeschränkung gemäß § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII sei zu verneinen, da der Einladevorgang keine betriebliche Tätigkeit auf einer "gemeinsamen Betriebsstätte" dargestellt habe. Das allgemeine gegenüber jedem Kunden ausgesprochene Angebot des Baumarkts, den Kunden durch Beschäftigte Einladehilfe zu leisten, reiche dafür nicht aus. Auf die vom Beklagten beim Aussteigen verfolgten Absichten komme es nicht an. Darüber, ob er - wie der Beklagte behaupte - die Absicht gehabt habe, dem Kläger im Weiteren beim Einladen zu helfen, müsse deshalb kein Beweis erhoben werden. Gegen die Anwendung des § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII spreche auch, dass bei einem Kaufvertrag, wie er hier vorgelegen habe, jeder Beteiligte für eigene Zwecke als Käufer und Verkäufer handele und Unfälle bei einem vom Verkäufer angebotenen Einladeservice von Sinn und Zweck der Haftungsbeschränkung nicht erfasst würden.

7Der in der Berufungsinstanz erweiterte Klageantrag sei gemäß §§ 524, 533 ZPO als Anschlussberufung zulässig und im zugesprochenen Umfang auch begründet.

II.

8Die dagegen gerichtete Revision des Beklagten ist unbegründet.

91. Ohne Erfolg beanstandet die Revision, dass das Berufungsgericht die Klageerweiterung im Berufungsverfahren für zulässig gehalten hat. Es entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass eine Klage im Wege der Anschlussberufung erweitert werden kann, auch wenn der Anschlussberufungskläger durch das erstinstanzliche Urteil nicht beschwert ist (, BGHZ 4, 229, 234; vom - IX ZR 51/93, NJW 1994, 944, 945; ebenso MünchKomm-ZPO/Rimmelspacher, 3. Aufl., § 524 Rn. 13; Musielak/Ball, ZPO, 7. Aufl., § 524 Rn. 10; Lemke in Prütting/Gehrlein, ZPO, 3. Aufl., § 524 Rn. 13; a.A. Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, 21. Aufl., § 521 a.F. Rn. 6, 7; unklar Zöller/Heßler, ZPO, § 524 Rn. 31 einerseits und Rn. 33 zur Zulässigkeit der Klageerweiterung andererseits).

10Aus dem Urteil des I. Zivilsenats des , BGHZ 181, 98 Rn. 12, 13) kann nichts anderes hergeleitet werden. Soweit dort ausgeführt wird, dass eine zulässige Klageerweiterung in der Berufungsinstanz ein zulässiges Rechtsmittel voraussetzt, liegt darin keine Abweichung. Der in der ersten Instanz voll obsiegende Kläger kann sich - wie hier - der (zulässigen) gegnerischen Berufung zum Zwecke der Klageerweiterung anschließen; die Anschließung scheitert dann nicht an der fehlenden Beschwer (vgl. - und vom - IX ZR 51/93, aaO).

112. Unbegründet ist die Revision auch, soweit sie sich dagegen wendet, dass das Berufungsgericht einen Haftungsausschluss gemäß § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII verneint hat, weil die Parteien nicht auf einer "gemeinsamen Betriebsstätte" tätig gewesen seien.

12a) Nach der gefestigten Rechtsprechung des erkennenden Senats erfasst der Begriff der "gemeinsamen Betriebsstätte" betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinander greifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt. Erforderlich ist ein bewusstes Miteinander im Betriebsablauf, das sich zumindest tatsächlich als ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen darstellt. Die Tätigkeit der Mitwirkenden muss im faktischen Miteinander der Beteiligten aufeinander bezogen, miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung oder Unterstützung ausgerichtet sein (vgl. , BGHZ 145, 331, 336; vom - VI ZR 434/01, BGHZ 155, 205, 207 f.; vom - VI ZR 103/03, BGHZ 157, 213, 216 f.; vom - VI ZR 257/06, BGHZ 177, 97 Rn. 19; vom - VI ZR 227/09, VersR 2011, 500 Rn. 7 jeweils mwN). § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII ist nicht schon dann anwendbar, wenn Versicherte zweier Unternehmen auf derselben Betriebsstätte aufeinandertreffen. Eine "gemeinsame" Betriebsstätte ist nach allgemeinem Verständnis mehr als "dieselbe" Betriebsstätte; das bloße Zusammentreffen von Risikosphären mehrerer Unternehmen erfüllt den Tatbestand der Norm nicht. Parallele Tätigkeiten, die sich beziehungslos nebeneinander vollziehen, genügen ebenso wenig wie eine bloße Arbeitsberührung. Erforderlich ist vielmehr eine gewisse Verbindung zwischen den Tätigkeiten als solchen in der konkreten Unfallsituation, die eine Bewertung als "gemeinsame" Betriebsstätte rechtfertigt (vgl. , VersR 2001, 372, 373; vom - VI ZR 32/04, VersR 2004, 1604 f.; vom - VI ZR 147/09, VersR 2010, 1190 Rn. 14.; vom - VI ZR 227/09, aaO).

13b) Nach diesen Grundsätzen ist die Beurteilung des Berufungsgerichts, im Unfallzeitpunkt habe keine "gemeinsame Betriebsstätte" vorgelegen, rechtsfehlerfrei.

14aa) Allerdings kann dies entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht damit begründet werden, dass zwischen den Arbeitgebern der Parteien lediglich ein Kaufvertrag geschlossen worden sei und die bei dessen Erfüllung erbrachte Ladehilfe des Verkäufers keine "gemeinsame Betriebsstätte" begründen könne. Die vertraglichen oder sonstigen Beziehungen, die zu dem Tätigwerden der Arbeitnehmer der verschiedenen Unternehmen geführt haben, spielen für die Beurteilung, ob eine gemeinsame Betriebsstätte vorliegt, keine Rolle. Der Haftungsausschluss knüpft alleine an die oben dargestellten Merkmale an und ist (alleine) im Hinblick auf die zwischen den Arbeitnehmern bestehende Gefahrengemeinschaft gerechtfertigt (vgl. dazu Senatsurteil vom - VI ZR 103/03, aaO S. 218 mwN).

15bb) Aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden ist aber die Annahme des Berufungsgerichts, es habe nicht die für eine "gemeinsame Betriebsstätte" typische Gefahr bestanden, dass sich die Beteiligten bei den versicherten Tätigkeiten "ablaufbedingt in die Quere kommen" (vgl. dazu Senatsurteil vom - VI ZR 103/03, aaO S. 217). Es ist zu beachten, dass sich die Beurteilung, ob eine "gemeinsame Betriebsstätte" vorlag, auf konkrete Arbeitsvorgänge beziehen muss (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 227/09, aaO Rn. 7, 9).

16Im Streitfall ist bezogen auf den Unfallzeitpunkt noch kein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen festzustellen, bei dem die Tätigkeit der Mitwirkenden im faktischen Miteinander der Beteiligten aufeinander bezogen, miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung oder Unterstützung ausgerichtet war und sich die Beteiligten bei den versicherten Tätigkeiten ablaufbedingt in die Quere kommen konnten. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hatte der Beklagte den Gabelstapler mit den zu verladenden Säcken aus dem Lager herangefahren und ca. zwei Meter von dem Kleintransporter entfernt abgestellt. Dabei handelte es sich lediglich um die Bereitstellung der Ware zur Abholung durch den Kläger. Ein etwaiges auf den Ladevorgang bezogenes Zusammenwirken der Parteien hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht begonnen.

17Die von dem Beklagten behauptete Absprache, dem Kläger beim Verladen der Ware zu helfen, hat sich auf den vorliegenden Unfallverlauf nicht ausgewirkt. Dass bereits das Heranfahren der Ware und das Abstellen des Gabelstaplers auf einer Absprache der Parteien beruht habe, macht die Revision nicht geltend.

Galke                                        Zoll                                          Diederichsen

                     Pauge                                    von Pentz

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:




Fundstelle(n):
NJW 2011 S. 3298 Nr. 45
UAAAD-84630