BSG Urteil v. - B 8 SO 16/08 R

Leitsatz

Leitsatz:

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Instanzenzug: LSG Baden-Württemberg, L 7 SO 217/07 vom SG Karlsruhe, S 4 SO 1576/06 vom

Gründe

I

Im Streit ist die nachträgliche Zahlung von Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) für die Zeit von August 2002 bis April 2004 unter entsprechender rückwirkender Korrektur bestandskräftiger Bewilligungsbescheide.

Der 1975 geborene Kläger befand sich in der Zeit vom bis in Haft. Seinen Antrag auf Hilfe zur Überwindung sozialer Schwierigkeiten zur Einlagerung seiner Möbel und des Hausrates bis zum Ende der Haft bzw auf Zahlung der Kosten der Unterkunft lehnte der Beklagte ebenso ab (bestandskräftige Bescheide vom und ) wie nach der Haftentlassung Hilfe zum Lebensunterhalt für den Monat April 2004 (bestandskräftiger Bescheid vom ). Am stellte der Kläger beim Beklagten erfolglos einen Überprüfungsantrag (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ; Urteil des Sozialgerichts [SG] Karlsruhe vom ; Beschluss des Landessozialgerichts [LSG] Baden-Württemberg vom ). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, dass dem Begehren des Klägers die Bestandskraft der ablehnenden Bescheide entgegenstehe. Eine Überprüfung der Bescheide nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) scheide mangels Anwendbarkeit dieser Regelung im Bereich des BSHG aus.

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 44 SGB X. Zu Unrecht gehe das LSG davon aus, dass § 44 SGB X keine Anwendung finde.

Der Kläger hat sinngemäß schriftlich beantragt,

den Beschluss des LSG und das Urteil des SG sowie den Bescheid des Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom , den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom und den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom zurückzunehmen und für die Zeit von August 2002 bis April 2004 Sozialhilfeleistungen zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

II

Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des Beschlusses des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Zu Unrecht hat das LSG die Anwendbarkeit des § 44 SGB X verneint. Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen (§ 163 SGG) kann der Senat jedoch nicht in der Sache entscheiden.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom (§ 95 SGG), mit dem der Beklagte die Korrektur der die Zeit von August 2002 bis April 2004 betreffenden bestandskräftigen Bescheide abgelehnt hat. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 4, § 56 SGG (vgl zur Klageart bei der Korrektur bestandskräftiger Ablehnungsbescheide: BSGE 76, 156, 157 f = SozR 3-4100 § 249e Nr 7 S 52; BSGE 99, 137 ff RdNr 13 = SozR 4-1300 § 44 Nr 11; BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 8 S 19).

Die Begründetheit der Revision misst sich an § 44 SGB X. Nach dessen Abs 1 ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.

Der Senat hat bereits entschieden, dass eine rückwirkende Korrektur bestandskräftiger rechtswidriger Leistungsablehnungen im Recht des BSHG über § 44 SGB X grundsätzlich möglich ist (BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 15 RdNr 19). Der Verfassung ist kein Rechtssatz zu entnehmen, der dies verbietet (aA offenbar Hochheim, NZS 2009, 24 ff); dass die Verfassung nur ein Gebot enthält, in gegenwärtiger Not zu helfen, steht auf einem anderen Blatt. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zur Nichtanwendung des § 44 SGB X hat der Senat in dieser Entscheidung ausdrücklich weder für das Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) noch für das BSHG aufrechterhalten. Entgegen der Rechtsprechung des BVerwG (BVerwGE 58, 68, 69; 60, 236, 238; 68, 285, 289) existiert, wie auch § 9 Abs 3 Asylbewerberleistungsgesetz für den Bereich des Asylbewerberleistungsrechts deutlich macht, kein über § 37 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) dem § 44 SGB X generell vorgehendes normatives Strukturprinzip - "keine Leistungen für die Vergangenheit; Bedarfsdeckungsgrundsatz; Aktualitätsprinzip" - (dies zu Unrecht kritisierend Hochheim aaO). Dies gilt auch für den so genannten Kenntnisgrundsatz des § 5 BSHG - heute § 18 SGB XII - (BSG, aaO, RdNr 20; Rothkegel ZfSH/SGB 2002, 8, 10 f; Mrozynski, ZfSH/SGB 2007, 463, 473 f; aA noch BVerwGE 60, 236, 237 f, und 68, 285 ff).

Eine abschließende Entscheidung ist dem Senat aber verwehrt, weil - aus der Sicht des LSG folgerichtig - jegliche tatsächlichen Feststellungen zu Leistungsansprüchen nach dem BSHG fehlen. Für einen Anspruch auf rückwirkende Erbringung von Sozialhilfeleistungen genügt es allerdings nicht, dass bei Erlass der (bestandskräftigen) Verwaltungsakte Sozialleistungen zu Unrecht vorenthalten worden sind. Nach § 44 Abs 4 SGB X werden Sozialleistungen nämlich (nur) "nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs" (längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme) erbracht, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist. Die Worte "nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs" lassen insoweit erkennen, dass den Besonderheiten des jeweiligen Leistungsrechts Rechnung getragen werden muss (vgl auch Wahrendorf in Festschrift für Friedrich E. Schnapp zum 70. Geburtstag, 2008, S 577, 580).

Im Bereich der Sozialhilfe ist insoweit zu berücksichtigen, dass die Sozialhilfe nur der Behebung einer gegenwärtigen Notlage dient (so genanntes Gegenwärtigkeitsprinzip) und nicht als nachträgliche Geldleistung ausgestaltet ist (, Breithaupt 2005, 803, 805; BVerwGE 60, 236, 238; 66, 335, 338; 69, 5, 7; 79, 46, 49; Rothkegel, ZfSH/SGB 2003, 643, 645; ders, Die Strukturprinzipien des Sozialhilferechts, 2000, S 68). Davon gehen § 1 Abs 2 BSHG, § 1 SGB XII aus, die die Aufgabe der Sozialhilfe nur darin sehen, den Leistungsberechtigen die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht, sowie § 2 Abs 1 BSHG, § 2 SGB XII, wonach Sozialhilfe nicht erhält, wer sich ... (etwa) durch Einsatz ... seines Einkommens und Vermögens selbst helfen kann. Auch § 5 Abs 1 BSHG, § 18 SGB XII folgen dieser Vorstellung. Danach setzt die Sozialhilfe (schon, aber auch erst) ein, wenn dem Träger der Sozialhilfe bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen. Die Leistung ist also nicht von einem Antrag abhängig, sondern von einer Notlage und der Kenntnis hierüber (wobei allerdings die erforderliche Kenntnis in der Regel durch einen Antrag - selbst bei einem unzuständigen Leistungsträger - vermittelt werden kann, vgl BSG SozR 4-3500 § 18 Nr 1 RdNr 23). All dies knüpft denknotwendig im Grundsatz an einen aktuellen Hilfebedarf an.

Deshalb müssen Sozialhilfeleistungen nach der ständigen Rechtsprechung zum Sozialhilferecht für einen zurückliegenden Zeitraum auch nur dann erbracht werden, wenn die Notlage im Zeitpunkt der beanspruchten Hilfeleistung noch besteht, sie also den Bedarf des Hilfebedürftigen noch decken kann ("keine Sozialhilfe für die Vergangenheit"; BVerwGE 40, 343, 346; 57, 237, 238; 60, 236, 237 f; 66, 335, 338; 90, 154, 156; Rothkegel, ZfSH/SGB 2002, 8, 10). Dies setzt nicht nur einen punktuellen Bedarf, sondern auch aktuelle Bedürftigkeit des Hilfesuchenden voraus. Allerdings hat schon das BVerwG zu Recht eine Vielzahl von Ausnahmen davon gemacht, insbesondere nach rechtswidriger Ablehnung der Hilfegewährung und zwischenzeitlicher Bedarfsdeckung im Wege der Selbsthilfe oder Hilfe Dritter, wenn der Hilfesuchende innerhalb der gesetzlichen Fristen einen Rechtsbehelf einlegt und im Rechtsbehelfsverfahren die Hilfegewährung erst erstreiten muss (vgl: BVerwGE 40, 343, 346; 58, 68, 74; 90, 154, 156; 90, 160, 162; 94, 127, 133; 96, 18, 19). Die Einklagbarkeit abgelehnter Sozialhilfe wäre nämlich uneffektiv, wenn der Träger der Sozialhilfe durch unberechtigtes Bestreiten des Anspruchs den Beginn der Sozialhilfeleistung auf Jahre hinausschieben oder gar den mit dem bekanntgewordenen Bedarf entstandenen Anspruch vereiteln könnte. Aus Billigkeitsgründen (Rothkegel, ZfSH/SGB 2002 8, 10) ist deshalb in diesem Fall auch bei (inzwischen) fehlender gegenwärtiger Bedürftigkeit der Garantie effektiven Rechtsschutzes Vorrang zu geben; Sozialhilfe ist dann auch für die Vergangenheit zu gewähren (BVerwG aaO).

Der Vorrang des effektiven Rechtsschutzes muss bei der Anwendung der Zugunstenregelung des § 44 SGB X hingegen gegenüber den im Rahmen des § 44 Abs 4 SGB X aufgezeigten Besonderheiten des Sozialhilferechts regelmäßig zurücktreten. Denn der Garantie des effektiven Rechtsschutzes ist schon dadurch Rechnung getragen, dass der Antragsteller nach Erlass des Bescheides die Möglichkeit hatte, Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen, oder sich gegen den Bescheid gewehrt hat und in dem anschließenden Rechtsbehelfs- bzw Klageverfahren unterlegen war. § 44 SGB X dient demgegenüber nur der materiellen Gerechtigkeit zu Gunsten des Bürgers auf Kosten der Bindungswirkung von zu seinen Ungunsten ergangenen Verwaltungsakten (BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 21 S 43). Das Gebot der materiellen Gerechtigkeit verlangt unter den genannten sozialhilferechtlichen Aspekten gerade nicht, dem (früher einmal) Hilfebedürftigen eine Leistung zu gewähren, der er nicht (mehr) bedarf. Ausnahmen sind nur in Einzelfällen denkbar, in denen es schlechthin unbillig wäre, wenn der Sozialhilfeträger wegen (zwischenzeitlichen) Bedarfswegfalls die Rücknahme der rechtswidrigen Ablehnung bzw die Zahlung zu Unrecht vorenthaltener Sozialhilfeleistungen verweigern dürfte. Mit dieser Auslegung des § 44 SGB X ist sicher gestellt, dass die nachträglich zu erbringende Leistung - entgegen dem Vorwurf von Seiten der Sozialhilfeträger - nicht den Charakter einer Entschädigung erhält.

Bei der Entscheidung, ob Leistungen für die Vergangenheit im Rahmen des § 44 Abs 4 SGB X noch zu erbringen sind, ergeben sich in erster Linie folgende Fallkonstellationen:

(1) Es wurden Leistungen für Bedarfe abgelehnt, die entgegen prognostischer Sicht überhaupt nicht angefallen sind, etwa für Einmalleistungen (zB Klassenfahrt nach § 21 Abs 1a BSHG, § 31 Abs 1 Nr 3 SGB XII) oder Mehrbedarfe, bei denen nur die Höhe des Bedarfs, nicht aber der (nachzuweisende) Bedarf als solcher vom Gesetzgeber typisierend unterstellt wird (zB für kostenaufwändige Ernährung nach § 23 Abs 4 BSHG, § 30 Abs 5 SGB XII), bzw die Bedarfslage hat sich als solche verändert (zB Entfallen eines Einmalbedarfs durch Wohnungswechsel). Hat der Schüler wegen der rechtswidrigen Leistungsablehnung nicht an der Klassenfahrt teilgenommen oder der Kranke auf die kostenaufwändige Ernährung verzichtet, existiert kein durch eine nachträgliche Leistung zu deckender Bedarf. Die Sozialhilfe kann ihren Zweck nicht mehr erfüllen, selbst wenn Bedürftigkeit iS des BSHG bzw des SGB XII oder (inzwischen) des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) fortbesteht. Sozialhilfeleistungen sind dann trotz rechtswidriger Leistungsablehnung nicht nachträglich zu erbringen. Die ablehnenden Bescheide haben sich bereits auf andere Weise erledigt (§ 39 Abs 2 SGB X). Fallen die Voraussetzungen für die Erbringung einer einmaligen Sozialhilfeleistung weg, die nach der gesetzlichen Regelung der Deckung eines konkret nachzuweisenden Bedarfs dient, kann der mit ihr bezweckte Erfolg nicht mehr eintreten. Ein entsprechender Bewilligungsbescheid verliert seine (regelnde) Wirkung, ohne dass es - im Hinblick auf § 39 Abs 2 SGB X - einer Aufhebung durch die Behörde bedarf (vgl dazu - allerdings weiter gehend - BT-Drucks 8/2034, S 33). Als actus contrarius zur Bewilligung erledigt sich auch der eine Leistung ablehnende Verwaltungsakt, wenn der (prognostische) Bedarf, für den die Leistung beansprucht wurde, nicht (mehr) eintreten kann. Insoweit ist dies im eigentlichen Sinne keine Besonderheit des Sozialhilferechts.

(2) Wurden Leistungen rechtswidrig abgelehnt und hat der Hilfebedürftige den (nicht entfallenen) Bedarf in der Folgezeit im Wege der Selbsthilfe (etwa unter Rückgriff auf Schonvermögen oder durch Aufnahme von Schulden) oder Hilfe Dritter gedeckt, die die fehlende Unterstützung durch den Sozialhilfeträger substituiert, ist zu unterscheiden, ob Bedürftigkeit aktuell noch besteht oder zwischenzeitlich entfallen ist (s dazu BVerwGE 90, 154, 156).

Besteht Bedürftigkeit iS des SGB XII oder (inzwischen) des SGB II ununterbrochen fort, sind Sozialhilfeleistungen im Wege des § 44 Abs 4 SGB X (nachträglich) zu erbringen, weil der Sozialhilfeträger bei rechtswidriger Leistungsablehnung nicht dadurch entlastet werden darf, dass der Bedarf anderweitig gedeckt wurde. Die Sozialhilfe kann ihren Zweck noch erfüllen, weil an die Stelle des ursprünglichen Bedarfs eine vergleichbare Belastung als Surrogat getreten ist.

Dabei bedarf es bei pauschalierten Leistungen, die - wie der Regelsatz - typisierend von einer Bedarfsdeckung ausgehen und nicht nur die Höhe des nachzuweisenden Bedarfs typisierend pauschalieren, nicht des Nachweises anderweitiger Bedarfsdeckung, wenn sie nicht nur der Befriedigung eines aktuellen, sondern auch eines zukünftigen und vergangenen Bedarfs dienen (vgl Eicher in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 40 RdNr 3 f). Diese Pauschalen nehmen daher nicht an der von der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung angenommenen "Existenzschwäche" des Sozialhilfeanspruchs (Rothkegel, Sozialhilferecht, 2005, Teil II Kap 5 RdNr 6 f) teil und sind bei fortdauernder Bedürftigkeit im Rahmen von § 44 Abs 4 SGB X nachzuzahlen.

Ist die Bedürftigkeit inzwischen temporär oder auf Dauer entfallen (zum maßgebenden Zeitpunkt siehe unten), etwa weil der Antragsteller ein entsprechendes Einkommen erzielt - dies könnte nach Aktenlage vorliegend der Fall sein - oder Vermögen erworben hat, ist die Nachzahlung in der Regel abzulehnen; ein sozialhilferechtlicher Bedarf besteht mangels fortbestehender Bedürftigkeit nicht mehr. Gleiches muss in einem solchen Fall auch bei allen pauschalierten Leistungen gelten. Die in der Literatur jüngst geäußerte Kritik an der Senatsrechtsprechung zur Anwendung des § 44 SGB X (Hochheim, NZS 2009, 24 ff) verkennt, dass der Senat bereits früher darauf hingewiesen hat, dass bei der Anwendung des § 44 SGB X ein zwischenzeitlicher Bedarfswegfall Berücksichtigung finden muss (BSG SozR 4-1300 § 44 Nr 15 RdNr 23; BSG SozR 4-3520 § 9 Nr 1 RdNr 16). Entgegen der Judikatur des BSG zu § 44 SGB X in anderen Leistungsbereichen (vgl BSGE 57, 209, 210 = SozR 1300 § 44 Nr 13 S 21; BSGE 90, 136, 138 = SozR 3-2600 § 300 Nr 18 S 86; Schütze in von Wulffen, SGB X, 6. Aufl 2008, § 44 RdNr 18) ist im Sozialhilferecht mithin nicht nur darauf abzustellen, ob die Ablehnung einer Leistung zum Zeitpunkt der Entscheidung nach damaliger Sach- und Rechtslage rechtswidrig war, sondern im Hinblick auf § 44 Abs 4 SGB X auch darauf, ob zwischenzeitlich der ursprüngliche Bedarf, der zu Unrecht nicht durch Sozialhilfeleistungen gedeckt wurde, oder die Bedürftigkeit im oben bezeichneten Sinn entfallen sind (ähnlich auch Wahrendorf in Festschrift für Friedrich E. Schnapp zum 70. Geburtstag, 2008, S 577, 580). Maßgebender Zeitpunkt für die zu treffende Entscheidung ist dabei naturgemäß die letzte Tatsacheninstanz; entfällt die Bedürftigkeit erst danach, ist das aus Gründen der Effektivität des Rechtsschutzes hinzunehmen.

Sind Leistungen rückwirkend (überhaupt) nicht mehr zu erbringen, kann regelmäßig trotz Rechtswidrigkeit der bestandskräftigen Bescheide dann aber auch kein Anspruch auf deren Rücknahme nach § 44 Abs 1 SGB X anerkannt werden. Die Regelung zielt im Ergebnis auf die Ersetzung des rechtswidrigen Verwaltungsaktes, mit dem die Leistung zu Unrecht abgelehnt wurde, durch einen die Leistung gewährenden Verwaltungsakt. Einem Antragsteller, der über § 44 SGB X keine Leistungen mehr für die Vergangenheit erhalten kann, kann regelmäßig kein rechtliches Interesse an der Rücknahme iS von § 44 Abs 1 SGB X zugebilligt werden. Die Unanwendbarkeit der "Vollzugsregelung des § 44 Abs 4 SGB X" steht dann einer isolierten Rücknahme entgegen (für Ansprüche, die länger als vier Jahre zurückliegen vgl BSGE 68, 180 ff = SozR 3-1300 § 44 Nr 1).

Das LSG wird vor diesem Hintergrund Bedarfslage und Bedürftigkeit zu prüfen und ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Fundstelle(n):
HAAAD-38142