Steuerbescheid kann nicht allein deshalb geändert werden, weil das Finanzamt im Hinblick auf gemeinschaftsrechtliche Zweifel an der deutschen Gesetzeslage ihn für vorläufig hätte erklären müssen
Gesetze: AO § 130, AO § 165, EG Art. 10 Abs. 1, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 1
Instanzenzug:
Gründe
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob bestandskräftige Steuerbescheide zu Gunsten der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) zu ändern sind.
Die Klägerin ist eine GmbH. Ihre alleinige Gesellschafterin war in den Streitjahren (1995 und 1996) die X, eine dänische Kapitalgesellschaft. Die Klägerin zahlte an X u.a. Zinsen für ein Darlehen.
Während einer Betriebsprüfung vertrat der Prüfer die Ansicht, dass die Zinsen als verdeckte Gewinnausschüttungen (vGA) i.S. des § 8a des Körperschaftsteuergesetzes in den für die Streitjahre geltenden Fassungen (KStG 1991/96) anzusehen seien. Daraufhin kam es am zu einer schriftlich niedergelegten und vom Vertreter der Klägerin unterzeichneten tatsächlichen Verständigung des Inhalts, dass die Leistung der Darlehenszinsen zu vGA in einer näher bestimmten Höhe geführt habe. In einem Schreiben vom selben Tag teilte die Klägerin mit, dass sie zur Vermeidung eines Rechtsverlustes die Veranlagungen in diesem Punkt im Rechtsmittelverfahren offen halten werde, bis der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) über die steuerrechtliche Behandlung der Gesellschafter-Fremdfinanzierung entschieden habe. Am erließ der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) Steuerbescheide, in denen u.a. das Ergebnis der „tatsächlichen Verständigung” umgesetzt wurde; diese Bescheide ergingen nicht gemäß § 165 der Abgabenordnung (AO) vorläufig und wurden nicht innerhalb der Rechtsbehelfsfrist angefochten.
Mit Schreiben vom beantragte die Klägerin unter Hinweis auf die zwischenzeitlich ergangene Entscheidung des , „Lankhorst-Hohorst”, Internationales Steuerrecht —IStR— 2003, 55), die fehlende Begründung für das Unterlassen vorläufiger Steuerfestsetzungen nachzuholen und die zuvor ergangenen Steuerbescheide zu ihren Gunsten zu ändern. Diesen Antrag lehnte das FA ab. Die deshalb erhobene Klage hat das Finanzgericht (FG) abgewiesen, ohne die Revision gegen sein Urteil zuzulassen.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin geltend, dass die Revision nach § 115 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zuzulassen sei.
Das FA ist der Nichtzulassungsbeschwerde entgegengetreten.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet. Die Rechtssache hat nicht die von der Klägerin geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung. Es ist nicht klärungsbedürftig, dass die gegenüber der Klägerin ergangenen Steuerbescheide aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht geändert werden können und dass diese Rechtslage mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Die von der Klägerin geltend gemachte Abweichung des angefochtenen Urteils von der Rechtsprechung des EuGH und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) liegt ebenfalls nicht vor.
1. Die Bescheide vom sind nach den bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) wirksam ergangen und nicht mit Rechtsbehelfen angefochten worden. Die Frist für ihre Anfechtung war, als die Klägerin erstmals die Änderung der Bescheide beantragte, abgelaufen. Auch enthielten die Bescheide keine Nebenbestimmung, auf Grund derer das FA zu einer späteren Änderung berechtigt gewesen wäre. Sie können daher unabhängig von ihrer inhaltlichen Rechtmäßigkeit nicht geändert werden. Das alles ergibt sich unmittelbar aus den einschlägigen gesetzlichen Vorschriften und wird von der Klägerin nicht in Frage gestellt.
2. Die Klägerin meint jedoch, das FA sei rechtlich verpflichtet gewesen, die Steuerfestsetzungen gemäß § 165 Abs. 1 AO vorläufig vorzunehmen. Dadurch wäre die Möglichkeit eröffnet worden, im Anschluss an das Ergehen der seinerzeit erwarteten EuGH-Entscheidung „Lankhorst-Hohorst” (in IStR 2003, 55) die Bescheide vom zu Gunsten der Klägerin zu ändern (§ 165 Abs. 2 AO) und dem Urteil des EuGH inhaltlich Rechnung zu tragen. Es bedarf jedoch keiner Klärung durch ein Revisionsverfahren, dass die Klägerin nicht so gestellt werden muss, als wären die Bescheide gemäß § 165 Abs. 1 AO vorläufig ergangen.
a) Der Klägerin ist zwar zuzugeben, dass die von ihr angesprochene vorläufige Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Satz 2 Nr. 3 AO zulässig gewesen wäre. Es mag sogar nicht ausgeschlossen sein, dass das FA in der seinerzeit bestehenden Situation verpflichtet war, das ihm insoweit zustehende Ermessen (vgl. dazu Bundesfinanzhof —BFH—, Beschluss vom IV B 174/86, BFHE 152, 43, BStBl II 1988, 234) im Sinne einer vorläufigen Steuerfestsetzung auszuüben. Diese Frage muss aber im Streitfall nicht abschließend erörtert werden. Denn jedenfalls kann die in § 165 Abs. 2 Satz 1 AO bezeichnete Rechtsfolge nur dann eintreten, wenn eine Vorläufigkeit tatsächlich angeordnet worden ist (Buciek in Beermann/Gosch, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 165 AO Rz 100, m.w.N.). Daran fehlt es im Streitfall. Angesichts dessen geht ersichtlich auch die Klägerin davon aus, dass die einschlägigen deutschen Rechtsnormen die von ihr begehrte Änderung der Bescheide nicht gestatten.
b) Für grundsätzlich bedeutsam hält die Klägerin deshalb nur die Frage, ob die geschilderte deutsche Rechtslage mit Art. 10 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) vereinbar ist. Diese Frage ist indessen jedenfalls insoweit durch die Rechtsprechung des EuGH und des BFH geklärt, als unter den im Streitfall obwaltenden Umständen die strikte Anwendung des deutschen Rechts nicht gegen Art. 10 EGV verstößt.
aa) Nach Art. 10 Abs. 1 Satz 1 EGV treffen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich u.a. aus dem EGV ergeben. Daraus folgt u.a. eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, unter bestimmten Voraussetzungen einen bestandskräftigen Verwaltungsakt zu überprüfen und ggf. zurückzunehmen oder zu ändern, wenn er gegen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts verstößt (, „Kühne & Heitz”, Slg. 2004, I-837). Zu diesen Voraussetzungen zählt aber u.a., dass die Behörde nach nationalem Recht zur Rücknahme des Verwaltungsakts befugt und dass der Verwaltungsakt in Folge einer Entscheidung eines in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist. An beidem fehlt es im Streitfall: Das deutsche Verfahrensrecht sieht —wie dargelegt— eine Änderung des in Rede stehenden Steuerbescheids nicht vor, und dieser ist auch nicht durch ein letztinstanzlich entscheidendes Gericht bestätigt worden, sondern vielmehr ohne Anfechtung bestandskräftig geworden. In einem solchen Fall ist der in der Entscheidung „Kühne & Heitz” entwickelte Rechtssatz nicht anwendbar ( und C-422/04, „i-21 Germany und Arcor”, Slg. 2006, I-8559, Tz. 54).
Statt dessen greift im Streitfall der Grundsatz durch, dass das Gemeinschaftsrecht nicht die Möglichkeit einer Rücknahme von Verwaltungsakten fordert, die nach Ablauf angemessener Fristen bestandskräftig geworden sind (EuGH-Urteil in Slg. 2006, I-8559, Tz. 51; , „Willy Kempter”, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2008, 148; , BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436; s. dazu auch , Deutsches Steuerrecht/ Entscheidungsdienst 2009, 60). Denn die Klägerin hätte, nachdem die ihr gegenüber ergangenen Bescheide keinen Vorbehaltsvermerk enthielten, diese Bescheide anfechten und auf diese Weise die ihr nachteiligen Wirkungen der Bestandskraft verhindern können. Das hat sie unterlassen. Sie hat damit von einem ihr zur Verfügung stehenden Rechtsbehelf nicht Gebrauch gemacht. Daher greifen die vom EuGH für diese Konstellation entwickelten Grundsätze im Streitfall unmittelbar ein, was die Annahme eines Klärungsbedürfnisses ausschließt.
bb) Ein solches lässt sich entgegen den Ausführungen der Klägerin insbesondere nicht daraus ableiten, dass der EuGH die Möglichkeit einer vorläufigen Steuerfestsetzung oder einer damit vergleichbaren verfahrensrechtlichen Handhabung noch nicht erörtert hat. Denn es mag zwar richtig sein, dass die Spruchpraxis des EuGH von einer einzelfallbezogenen Betrachtung ausgeht und ein in sich geschlossenes System erst im Lauf der Zeit entwickelt (vgl. dazu Jahndorf/Oellerich, Der Betrieb 2008, 2559). Jedoch beruht die vom EuGH getroffene Unterscheidung im Kern auf dem Gedanken, dass es in erster Linie Sache des Einzelnen ist, seine Chance zur Herbeiführung einer Korrektur eines ihn belastenden Verwaltungsakts durch Einlegung von Rechtsbehelfen zu wahren (vgl. dazu auch , BFH/NV 2008, 1889). Nur wer diese Chance nach Kräften genutzt hat, soll ggf. einen gemeinschaftsrechtlichen Anspruch auf eine ihm günstige Entscheidung haben, den ihm das nationale Recht nicht einräumt; wer einen ihm zur Verfügung stehenden Rechtsbehelf nicht einlegt, handelt dagegen auf eigenes Risiko: das ist die systematisch eindeutige und wiederholt bestätigte Trennungslinie in der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH. Vor diesem Hintergrund ist weder zweifelhaft noch klärungsbedürftig, dass die im Streitfall eingetretene Unabänderlichkeit des Bescheids nicht aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen korrigiert werden muss.
3. Aus vergleichbaren Überlegungen heraus kann die Klägerin mit ihrem Vortrag zur Anwendung der §§ 130 f. AO auf den Streitfall keinen Erfolg haben. Auf nähere Ausführungen dazu wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO verzichtet. Dasselbe gilt im Hinblick auf die Überlegungen der Klägerin zu § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2009 S. 1779 Nr. 11
AAAAD-28271