Leitsatz
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: SGB V § 13 Abs 3 Satz 1; SGB V § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3; SGB V § 31 Abs 1 Satz 1
Instanzenzug: SG Itzehoe, S 1 KR 217/03 vom
Gründe
I
Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattung für das auf Privatrezept verordnete, selbst beschaffte, außerhalb seines bestimmungsgemäßen Indikationsgebiets angewandte Arzneimittel Venimmun (Off-Label-Use) zur Behandlung einer Multiplen Sklerose (MS).
Bei der 1969 geborenen, bei der beklagten Ersatzkasse versicherten Klägerin traten erstmals 1990 neurologische Störungen auf. 1996 wurden bei bildgebenden Verfahren einzelne Entmarkungsherde entdeckt und eine Encephalomyelitis disseminata (Multiple Sklerose - MS) festgestellt, die bisher nicht zu wesentlichen Ausfallerscheinungen (zB Lähmungen, Störungen der Beweglichkeit oder Motorik) führte. Nach einer Abklärung von Störungen der Gesichtsmuskulatur und Missempfindungen der linken Körperseite im Jahre 2002 ging der die Klägerin behandelnde Vertragsarzt Neurologe F. von einer klinisch gesicherten MS (Typ: G.35.0) aus, die er mit intravenös zu verabreichenden Immunglobulinen (IVIG) behandeln wollte. Er sah hiervon zunächst wegen Schwangerschaft der Klägerin ab, sprach sich aber in einer schriftlichen Therapieempfehlung vom für eine Behandlung mit Immunglobulinen nach der Entbindung aus. Die Klägerin wurde am entbunden und noch während des stationären Krankenhausaufenthalts ab dem auf die Empfehlung des Neurologen F. von den Krankenhausärzten dreimal intravenös mit dem zur Behandlung von MS nicht zugelassenen, zur Gruppe der Immunglobuline gehörenden Fertigarzneimittel Venimmun behandelt. Damit sollte - so der Neurologe - eine nach der Entbindung zu erwartende Krankheitsaktivitätssteigerung mit Schub verhindert werden, zumal Venimmun - anders als die zur MS-Behandlung zugelassenen Interferone und das Arzneimittel Copaxone - ohne zeitliche Verzögerung wirke und während der Stillphase ohne Beeinträchtigung des Kindes verabreicht werden könne.
Nach Entlassung der Klägerin aus dem Krankenhaus bat der Neurologe F. die Beklagte unter dem (Eingang ) um eine Bestätigung, sie möge bei weiteren Verordnungen von IVIG über einen Zeitraum von sechs Monaten von einem Prüfantrag wegen sonstigen Schadens absehen. Die Beklagte lehnte dies nach Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) gegenüber dem Neurologen ab und übersandte der Klägerin eine Mehrfertigung des Bescheides vom , gegen den die Klägerin "Widerspruch" einlegte. Die Beklagte wies diesen als unzulässig zurück, weil der Klägerin gegenüber eine Ablehnung der Therapie nicht erfolgt sei. Sie wertete das "Widerspruchsschreiben" jedoch als Antrag, lehnte diesen ab (Bescheid vom ) und wies den vorsorglich erneut eingelegten Widerspruch der Klägerin zurück (Widerspruchsbescheid vom ).
Die Klägerin erhielt während der Stillzeit vom bis zum alle vier Wochen "Venimmun N 10 g" von dem Neurologen F. auf Privatrezept verordnet. Im Klageverfahren hat sie beantragt, ihr die Kosten für das selbst beschaffte Arzneimittel in Höhe von insgesamt 11.302 Euro zu erstatten. Das Sozialgericht (SG) hat ein neurologisches Sachverständigengutachten (Dr. K. ) eingeholt und die Beklagte zur Kostenerstattung verurteilt. Die Beklagte müsse sich den Antrag des Neurologen F. vom wie einen eigenen Antrag der Klägerin zurechnen lassen. Der Klägerin sei es auch nicht zumutbar gewesen, die Antwort abzuwarten. Sie habe Anspruch auf die Versorgung mit den Immunglobulinen nach den Grundsätzen des sog Off-Label-Use gehabt. Der Sachverständige habe aufgezeigt, dass keine andere Therapie zur Verfügung gestanden habe, zumal beim Arzneimittel Copaxone laut Hinweiszettel "während der Stillzeit Vorsicht geboten" sei.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten nach Einholung eines weiteren neurologischen Gutachtens (F. ) zurückgewiesen. Der Anspruch der Klägerin ergebe sich aus der Rechtsprechung des , BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5). Diese Rechtsprechung sei vom Bundessozialgericht (BSG) über lebensbedrohliche und regelmäßig tödlich verlaufende Krankheiten hinaus auf sonstige, ganz gravierende gesundheitliche Beeinträchtigungen erweitert worden. Bei MS handele es sich um eine solche, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung. Eine andere Therapie als mit IVIG habe nicht zur Verfügung gestanden, da eine Behandlung mit Copaxone wegen Stillens nicht möglich gewesen sei. Der Wunsch der Klägerin, ihr Kind zu stillen, sei zu respektieren. Sämtliche "ernst zu nehmenden" medizinischen einschließlich psychologischen Einschätzungen gingen dahin, dass das Stillen eines Kindes für Kind und Mutter die optimale Versorgung seien. Eine alternative Behandlungsmöglichkeit mit Copaxone oder mit Interferonen habe auch deshalb nicht bestanden, weil diese Arzneimittel erst mit drei- bis sechsmonatiger Verzögerung wirkten, Immunglobuline jedoch sofort. Gerade nach der Geburt sei die Gefahr von Schüben der MS groß. Auch habe eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder spürbare positive Entwicklung auf den Krankheitsverlauf bestanden. Auch der MDK habe eingeräumt, dass "gute Gründe für die Wirksamkeit von Immunglobulinen" im Hinblick auf MS bestünden, jedoch eine klinische Prüfung der Phase III als unmittelbare Voraussetzung einer Arzneimittelzulassung nicht erreicht werde (Urteil vom ).
Die Beklagte rügt mit ihrer Revision eine Verletzung von § 13 Abs 3 Satz 1 iVm § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 und § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V. Bei der Klägerin lägen weder die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use bei MS noch eine notstandsähnliche Situation vor.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom sowie das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend. Sie trägt ua vor, aus den Grundrechten des Art 2 Abs 1 und Art 6 Abs 2 und 4 GG folge, dass von einer Mutter nicht verlangt werden könne, auf das Stillen ihres Kindes zu verzichten, wenn hierfür kein zwingender Grund vorliege. Allein die verhältnismäßig geringe finanzielle Zusatzbelastung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in Höhe von rund 11.000 Euro stelle keinen solchen Grund dar. Das Interesse der Mutter, ihr Kind zu stillen und dadurch für sich und das Kind gesundheitliche Vorteile zu erlangen, überwiege das Allgemeininteresse an Einsparungen im Bereich der GKV. Das Stillen sei die natürliche Art der Ernährung eines Kleinkindes und es sei allgemein bekannt, dass das Stillen gesundheitliche Vorteile für Mutter und Kind bringe.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Zu Unrecht haben die Vorinstanzen die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin die Kosten des ihr auf Privatrezept verordneten und von ihr selbst beschafften, außerhalb seines bestimmungsgemäßen Indikationsgebiets angewandten Fertigarzneimittels Venimmun zu erstatten. Der eine Kostenerstattung ablehnende Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
Die Voraussetzungen des allein in Betracht kommenden Kostenerstattungsanspruchs aus § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 2 SGB V (hier anzuwenden in der seit geltenden Fassung von Art 5 Nr 7 Buchst b Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - vom , BGBl I 1046) sind nicht erfüllt. Danach ist eine Krankenkasse (KK) zur Kostenerstattung verpflichtet, wenn sie eine Leistung abgelehnt hat, dadurch dem Versicherten Kosten entstanden sind und die Leistungsablehnung zu Unrecht erfolgt ist. Zwar hat die Beklagte die Versorgung der Klägerin mit dem begehrten Arzneimittel abgelehnt, jedoch fehlt es an der Kausalität zwischen der ablehnenden Entscheidung der Beklagten und dem Kostenaufwand der Klägerin (dazu 1). Darüber hinaus scheitert ein Erstattungsanspruch der Klägerin daran, dass die Ablehnung ihrer Versorgung mit dem begehrten Arzneimittel nicht zu Unrecht erfolgt ist. Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, zur ambulanten Behandlung ihrer MS zu Lasten der Beklagten mit dem Arzneimittel Venimmun versorgt zu werden (dazu 2).
1. Die Aufwendungen der Klägerin für das Arzneimittel Venimmun sind nicht ursächlich auf eine Leistungsablehnung der Beklagten zurückzuführen. Ein auf die Verweigerung der Sachleistung gestützter Erstattungsanspruch scheidet nach der ständigen Rechtsprechung des BSG aus, wenn sich der Versicherte die Leistung besorgt hat, ohne die KK einzuschalten und ihre Entscheidung abzuwarten.
a) § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 2 SGB V gewährt einen Erstattungsanspruch für den Ausnahmefall, dass eine von der KK geschuldete notwendige Behandlung infolge eines Mangels im Leistungssystem der GKV als Dienst- oder Sachleistung nicht oder nicht in der gebotenen Zeit zur Verfügung gestellt werden kann. Nach Wortlaut und Zweck der Vorschrift muss zwischen dem die Haftung der KK begründenden Umstand (rechtswidrige Ablehnung) und dem Nachteil des Versicherten (Kostenlast) ein Ursachenzusammenhang bestehen. Daran fehlt es, wenn die KK vor Inanspruchnahme der Behandlung mit dem Leistungsbegehren gar nicht befasst wurde, obwohl dies möglich gewesen wäre (BSG SozR 3-2500 § 13 Nr 15 S 74 mwN; SozR 3-2500 § 13 Nr 22 S 105 f; SozR 4-2500 § 135 Nr 10; SozR 4-2500 § 13 Nr 8 RdNr 23, 24; SozR 4-2500 § 13 Nr 12 RdNr 10 - Mercurius). So liegt der Fall hier.
Die Klägerin hatte bei der Beklagten noch keinen Antrag auf Versorgung mit dem begehrten Arzneimittel gestellt, als sie sich nach ihrer Entlassung aus der stationären Krankenhausbehandlung ab dem in ambulanter Behandlung mit dem auf Privatrezept verordneten Arzneimittel Venimmun versorgen ließ. Vielmehr wandte sie sich erstmals unter dem an die Beklagte (Eingang ), als sie gegen den an ihren Neurologen gerichteten Bescheid der Beklagten vom Widerspruch erhob; mit diesem "Widerspruch" deutete sie sinngemäß an, sie wünsche die von dem Neurologen empfohlene Behandlung mit IVIG zu Lasten der Beklagten. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Neurologe F. die auf seine Empfehlung während des stationären Krankenhausaufenthalts begonnene und auf die Dauer der Stillzeit angelegte Behandlung mit Venimmun bereits aufgenommen. Der unter dem (Eingang bei der Beklagten ) gestellte Antrag des Neurologen, die Beklagte möge bei der Behandlung der Klägerin mit Immunglobulinen als Sachleistung bei ihm von der Stellung eines "Prüfantrages wegen sonstigen Schadens" absehen, betraf nur seinen eigenen Rechtskreis als Vertragsarzt.
Dieser Antrag des Neurologen in "eigener Sache" ist kein zugleich für die Klägerin wirkender Leistungsantrag auf Versorgung mit IVIG; er kann einem Versicherten-Antrag weder gleichgestellt werden noch einen solchen ersetzen. Denn das LSG hat keine Tatsachenfeststellungen dazu getroffen, dass dem Antrag des Neurologen zu entnehmen ist, der Arzt habe damit zugleich als Vertreter oder Bevollmächtigter der Klägerin handeln und deren Rechtsposition verbessern, für sie Kostenerstattung für das bereits am auf Privatrezept verabreichte Venimmun beantragen oder einen Antrag auf die Übernahme künftiger Arzneimittelkosten stellen wollen. Die Beklagte müsste sich den Antrag des Neurologen nur dann als eigenen Leistungsantrag der Klägerin zurechnen lassen, wenn es selbstverständlich und naheliegend wäre, dass jeder Versicherte bei Behandlung mit einem nicht zugelassenen und auf Privatrezept verordneten Arzneimittel einen Anspruch auf Kostenerstattung oder Leistungserbringung im Wege der Sachleistung gegenüber seiner KK durchzusetzen versucht. Hiervon kann indessen keine Rede sein, zumal der Versicherte bei Ausstellung eines Privatrezepts in aller Regel weiß und jedenfalls vom Arzt darauf hingewiesen werden muss, dass er die Kosten hierfür selbst tragen muss. Um die "GKV-Fremdheit" der Leistung zu kennzeichnen, erfolgen solche Arzneimittelverordnungen auf Privatrezept. Ein Privatrezept wird ausgestellt, wenn der Versicherte die Verordnung ausdrücklich als Privatbehandlung iS von § 18 Abs 8 Nr 2 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä), § 21 Abs 8 Nr 2 Ersatzkassenvertrag-Ärzte (EKV-Ä) - dh nicht als Natural- oder Kostenerstattungsleistung - wünscht oder wenn ein in der GKV Versicherter die Verordnung von Arzneimitteln verlangt/wünscht, die aus der Leistungspflicht der KK ausgeschlossen oder für die Behandlung nicht notwendig sind (vgl § 29 Abs 8 BMV-Ä, § 15 Abs 6 EKV-Ä; zum Ganzen vgl BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 12 RdNr 16 - Mercurius).
Nach allem hätte die Klägerin bereits nach Ausstellung der schriftlichen Therapieempfehlung vom Gelegenheit und bis zur Entbindung im Mai 2003 hinreichend Zeit gehabt, sich mit ihrem Anliegen an die Beklagte zu wenden. Vor allem aber hätte es nahe gelegen, dass der sie behandelnde Neurologe nicht nur Maßnahmen zur Abwendung eines Arzneimittelregresses in eigenen Angelegenheiten einleitete, sondern in erster Linie die Klägerin auf ihre Kostenlast bei Privatrezepten sowie das Erfordernis hinwies, sich noch vor Beginn der beabsichtigten Behandlung zwecks Leistungserbringung als Sachleistung an die Beklagte zu wenden.
b) An der erforderlichen Kausalität zwischen der Leistungsablehnung und den Aufwendungen der Klägerin fehlt es nicht nur hinsichtlich der am erfolgten Versorgung mit Venimmun, sondern auch insoweit, als es um die Verordnung und den Kauf von Venimmun in der Zeit nach dem ging. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob bereits auf den Tag der Antragstellung ( "Widerspruchsschreiben") oder - was näher liegt - auf den Ablauf einer hier eingehaltenen angemessenen Bearbeitungsfrist bei der KK abzustellen ist (hier: Bescheid der Beklagten). Die Versorgung der Klägerin mit Venimmun stellt sich während der gesamten Stillzeit der Klägerin - auch wenn Injektionen nur alle vier Wochen erfolgten und das Arzneimittel jeweils neu beschafft werden musste - aufgrund der ärztlichen Vorgehensweise, ihrer ärztlichen Begründung und des tatsächlichen Geschehensablaufs als einheitliche Behandlung dar (vgl dazu allgemein BSGE 79, 125, 128 = SozR 3-2500 § 13 Nr 11 S 52 f; BSG SozR 3-2500 § 28 Nr 6 S 35 f mwN). Von dem Neurologen F. wurde die Behandlung mit IVIG bereits vor Aufnahme der Klägerin zur stationären Entbindung für die gesamte Stillzeit geplant, durch Empfehlungen auch gegenüber den Krankenhausärzten in die Wege geleitet und bereits während des stationären Krankenhausaufenthalts begonnen. Die Versorgung mit Venimmun beruht insoweit auf der Einschätzung des Neurologen F. , dass die zur Behandlung der MS zugelassenen Interferone und das Arzneimittel Copaxone vor der Entbindung der Klägerin nicht verabreicht werden sollten und diese Arzneimittel nach der Entbindung erst mit einer Verzögerung von drei bis sechs Monaten wirkten, während das Arzneimittel Venimmun sofortige Wirkung entfalten könne. Eine Umstellung der Behandlung von Venimmun auf Copaxone oder ein Interferon wäre bei diesem Ausgangspunkt des behandelnden Arztes - unabhängig von der Leistungsablehnung - nach Beginn der Behandlung mit Venimmun somit von der Wirkweise der Mittel her nicht mehr möglich gewesen. Eine Umstellung war - auch nach der ablehnenden Entscheidung der Beklagten - von der Klägerin weder gewollt noch beabsichtigt.
2. Die Beklagte hat die Versorgung mit dem begehrten Arzneimittel in der hier betroffenen Zeit darüber hinaus aber auch nicht zu Unrecht abgelehnt. Das begehrte Fertigarzneimittel besitzt weder die zur Behandlung der MS erforderliche Zulassung (dazu a) noch kommt eine Versorgung der Klägerin mit Venimmun nach den Grundsätzen des Off-Label-Use (dazu b) in Betracht. Ein sog Seltenheitsfalls, der den Wirksamkeitsnachweis eines Arzneimittels im Rahmen des Off-Label-Use erleichtern könnte (dazu c), liegt ebenso wenig vor wie ein Anwendungsfall, in dem nach den Vorgaben des BVerfG leistungseinschränkende Vorschriften des SGB V verfassungskonform auszulegen sind (dazu d). Die in Art 6 Abs 4 GG getroffene Wertentscheidung vermag ein anderes Ergebnis ebenfalls nicht zu rechtfertigen (dazu e).
a) Der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch des Versicherten gegen seine KK. Er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die KKn allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (stRspr, vgl zB BSGE 79, 125, 126 f = SozR 3-2500 § 13 Nr 11 S 51 f mwN; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 8 Idebenone; speziell zum Leistungsanspruch bei MS vgl ). Zu diesen Leistungen gehört die Versorgung mit dem Fertigarzneimittel "Venimmun N 10 g" nicht.
Arzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs 1 Satz 1, § 12 Abs 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 und 3, § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs 1 Arzneimittelgesetz <AMG>) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (vgl zB BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr 7 RdNr 22 mwN - D-Ribose; vgl auch Hauck, "Off-Label-Use" in der Rspr des BSG, A&R 2006, 147 ff). Dies ist hier der Fall. "Venimmun N 10 g" ist zwar ua als Substitutionstherapie bei primären Immunmangelkrankheiten, zur Behandlung von AIDS bei Kindern und rezidivierenden Infektionen als Arzneimittel zugelassen. Die Arzneimittelzulassung erstreckt sich jedoch nicht auf die Behandlung der MS (vgl BAnz vom Nr 202 S 13243).
b) Eine zulassungsüberschreitende Anwendung des Fertigarzneimittels "Venimmun N 10 g" auf Kosten der GKV (sog Off-Label-Use) scheidet ebenfalls aus. Der Senat hat in seinem Sando-globulin-Urteil vom (BSGE 89, 184 ff = SozR 3-2500 § 31 Nr 8) die allgemeinen Voraussetzungen für einen Off-Label-Use aufgezeigt sowie zuletzt mit Urteil vom (B 1 KR 17/06 R) den Anspruch auf eine intravenöse Verabreichung von Immunglobulinen speziell für einen an MS leidenden Versicherten verneint. Ein Off-Label-Use kommt danach nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (ebenso - diese Rspr auch gegen Kritik aus dem Schrifttum verteidigend - zB BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 5 RdNr 17 f - Ilomedin). Abzustellen ist dabei auf die bereits im Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (vgl BSGE 95, 132 RdNr 20 = SozR 4-2500 § 31 Nr 3 RdNr 27 mwN - Wobe-Mugos E; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 10 RdNr 24 mwN - Neuropsychologische Therapie). Die vom SG sinngemäß vertretene Ansicht, ein Off-Label-Use komme in Betracht, solange die Unwirksamkeit eines Arzneimittel nicht belegt sei, ist unzutreffend. Vielmehr bedarf es eines positiven Wirksamkeitsnachweises nach den oben genannten und nachfolgend näher aufzuzeigenden Maßstäben. An der insoweit erforderlichen begründeten Aussicht auf einen Behandlungserfolg fehlt es hier.
Auch wenn es sich bei der bei der Klägerin bestehenden MS um eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Krankheit handelt und es - was hier keiner Entscheidung bedarf - zumutbare Behandlungsmöglichkeiten mit Interferonen und Copaxone während der Schwangerschaft wegen nicht abgeklärter Risiken für das ungeborene Kind möglicherweise nicht gab, fehlt es jedenfalls an der für einen Off-Label-Use auf Kosten der GKV erforderlichen Erfolgsaussicht. Im Zeitpunkt der Behandlung (Juni 2003 bis Oktober 2004) bestand aufgrund der damals vorliegenden konkreten Datenlage keine begründete Aussicht darauf, dass gerade mit dem begehrten Arzneimittel Venimmun ein Behandlungserfolg erzielt werden konnte. Von hinreichenden Erfolgsaussichten ist nach der Rechtsprechung des BSG zum Off-Label-Use nur dann auszugehen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das (konkrete) Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann.
Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (BSGE 89, 184, 192 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 6 RdNr 12 f mwN - restless legs). Hieran fehlte es im hier maßgeblichen Zeitraum (Juni 2003 bis Oktober 2004).
Die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Behandlungserfolg, die für eine zulassungsüberschreitende Pharmakotherapie auf Kosten der GKV nachgewiesen sein muss, entspricht derjenigen für die Zulassungsreife des Arzneimittels im betroffenen Indikationsbereich. Sie ist während und außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens regelmäßig gleich. Der Schutzbedarf der Patienten, der dem gesamten Arzneimittelrecht zugrunde liegt und - wie dargelegt - in das Leistungsrecht der GKV einstrahlt, unterscheidet sich in beiden Situationen nicht. Für den Schutz der Patienten ist es gleichgültig, ob die erforderlichen Erkenntnisse innerhalb oder außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens gewonnen worden sind (vgl BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 5 RdNr 24 - Ilomedin).
Die Anforderungen knüpfen an die arzneimittelrechtlichen Zulassungsvoraussetzungen der §§ 21 ff AMG an und berücksichtigen ua, dass für den Regelfall des § 22 Abs 2 AMG das Arzneimittel nach dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ausreichend geprüft und die angegebene therapeutische Wirksamkeit nach dem jeweils gesicherten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse vom Antragsteller zureichend begründet sein muss (vgl im Einzelnen § 25 Abs 2 Nr 2 und 4 AMG). Obwohl sich die Phasen der klinischen Prüfung überschneiden können, müssen nach diesen Grundsätzen stets alle drei Phasen einer klinischen Prüfung durchlaufen werden und mit erfolgreichen Studien beendet sein. Ergibt die Überprüfung einer durchgeführten Studie - auch der Phase III - keinen hinreichenden Beleg für einen zu erwartenden Behandlungserfolg, ist regelmäßig die dritte Voraussetzung für einen Off-Label-Use zu Lasten der GKV nicht erfüllt (vgl näher , SozR 4-2500 § 31 Nr 6 RdNr 13 ff mwN - restless legs).
An der erforderlichen Zulassungsreife der MS-Therapie mit Venimmun fehlt es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme des LSG. Dies ergibt sich aus den im Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten, vor allem aber der Stellungnahme des Paul-Ehrlich-Instituts von Oktober 2005 und sowie dem Gutachten der "Sozialmedizinischen Expertengruppe des MDK Nord zum Einsatz von Immunglobulinen bei MS - Update Dezember 2005", die von der Beklagten ins Berufungsverfahren eingeführt worden sind. Zu einer abgeschlossenen, veröffentlichten Studie der Phase III zu Venimmun ist es danach nicht gekommen. Im Gegenteil räumt der im Berufungsverfahren als medizinischer Sachverständiger tätig gewordene Neurologe F. selbst noch in seinem Gutachten von Dezember 2006 ein, dass insgesamt eine heterogene, zum Teil widersprüchliche Studienlage sowie eine nicht geklärte Datenlage bezüglich der Immunglobulin-Therapie existiere. Das deckt sich mit der Einschätzung des Paul-Ehrlich-Instituts von Oktober 2005. Dort wird nach Auswertung einer auch vom gerichtlichen Sachverständigen zitierten Arbeit von Achiron aus dem Jahr 2004 ausgeführt, den "heute publizierten Studien" könnten zwar noch stärker als bisher Hinweise auf eine Wirksamkeit der Immunglobuline bei Behandlung der schubförmigen MS abgeleitet werden, es fehle aber an einer kontrollierten, adäquat durchgeführten Phase III-Studie. Diese Ausführungen beziehen sich generell auf die Therapie mit Immunglobulinen, gelten damit aber erst recht für das spezielle, hier interessierende Mittel "Venimmun". Die Sozialmedizinische Expertengruppe des MDK Nord zum Einsatz von Immunglobulinen bei MS berichtet damit übereinstimmend, dass die Zulassung von Immunglobulinen zur Behandlung von MS weder in den USA noch bei den zuständigen deutschen oder europäischen Stellen (Paul-Ehrlich-Institut und Europäische Arzneimittelagentur) beantragt worden sei. Die einzige veröffentlichte Phase III-Studie aus dem Jahre 1997 von Fazekas könne wegen methodischer Mängel nicht als ausreichender Wirksamkeitsnachweis angesehen werden. Weitere randomisierte, placebokontrollierte Studien seien bisher ebenso wenig publiziert wie eine Studie über eine "historische Kontrollgruppe", die 173 Frauen vor und kurz nach der Geburt umfasse. Für die Anwendung von Immunglobulinen während der Schwangerschaft und danach (postpartal) zur Prophylaxe postpartaler Schübe gebe es keinen Konsens. Diese Aussage beruht auch darauf, dass in der Vergangenheit gefährliche Nebenwirkungen der IVIG-Therapie (zB Hepatitisinfektionen) auftraten und es keine hinreichenden Studien zu den Nebenwirkungen dieser Therapie, ua in der Stillzeit, gibt.
Nach allem sind vom LSG keine Forschungsergebnisse festgestellt worden, die erwarten lassen, dass das (konkrete) Arzneimittel (hier: Venimmun) für die betreffende Indikation (MS) zugelassen werden könnte (zum nicht hinreichenden Wirksamkeitsnachweis von Immunglobulin für die Behandlung von MS bereits BSGE 89, 184, 192 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 S 37 - Sandoglobulin; - RdNr 16).
c) Es handelt sich bei MS auch nicht um einen sog Seltenheitsfall einer Krankheit, die weltweit nur extrem selten auftritt, die deshalb im nationalen wie im internationalen Rahmen weder systematisch erforscht noch systematisch behandelt werden kann und bei der somit für den Wirksamkeitsnachweis positive Forschungsergebnisse bzw einem bestimmten Standard entsprechende wissenschaftliche Fachveröffentlichungen nicht verlangt werden können (vgl dazu BSGE 93, 236 = SozR 4-2500 § 27 Nr 1, jeweils RdNr 21 - Visudyne).
d) Entgegen der Ansicht des LSG ergibt sich der Anspruch der Klägerin auf Versorgung mit dem Arzneimittel Venimmun auch nicht aus der Rechtsprechung des BVerfG zum Erfordernis einer verfassungskonformen Auslegung leistungsbeschränkender Vorschriften des SGB V (vgl , BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5).
Das entschieden, dass es mit den Grundrechten aus Art 2 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip und aus Art 2 Abs 2 Satz 1 GG nicht vereinbar ist, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende medizinische Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
Nach der hieran anschließenden Rechtsprechung des 1. Senats des BSG gilt die verfassungsrechtliche Konkretisierung der Leistungsansprüche von Versicherten der GKV bei lebensbedrohenden, tödlich verlaufenden Erkrankungen entsprechend dieser Rechtsprechung des BVerfG sinngemäß auch für die Versorgung mit Arzneimitteln (vgl BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4 - Tomudex, SozR 4-2500 § 31 Nr 5 - Ilomedin).
Eine verfassungskonforme Auslegung leistungsbeschränkender Vorschriften des SGB V kann zur Folge haben, dass im Rahmen der Anspruchsvoraussetzungen von § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 und § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit ausnahmsweise bejaht werden müssen, obwohl ein Mittel bzw eine Behandlungsmethode an sich von der Versorgung zu Lasten der GKV ausgeschlossen ist. Als Konsequenz hieraus hat der erkennende Senat bisher zB den Einzelimport von in Deutschland oder EU-weit nicht zugelassenen Arzneimitteln zu Lasten der GKV für möglich erachtet (BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4 - Tomudex). Die verfassungskonforme Auslegung setzt jedoch ua voraus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende (vgl BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4 - RdNr 21 und 30 mwN - Tomudex) oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt (vgl BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 7 RdNr 31 f - D-Ribose). Daran fehlt es.
Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats sind insoweit an das Krankheits-Kriterium strengere Voraussetzungen gestellt, als sie mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung des Off-Label-Use formuliert sind (vgl - SozR 4-2500 § 31 Nr 8 RdNr 17 ff - Idebenone). Denn hieran knüpfen weitergehende Folgen an. Ohne einschränkende Auslegung ließen sich sonst fast beliebig vom Gesetzgeber bewusst gezogene Grenzen überschreiten. Entscheidend ist, dass das vom BVerfG herangezogene Kriterium bei weiter Auslegung sinnentleert würde, weil nahezu jede schwere Krankheit ohne therapeutische Einwirkung irgendwann auch einmal lebensbedrohende Konsequenzen nach sich zieht. Das kann aber ersichtlich nicht ausreichen, das Leistungsrecht des SGB V und die dazu ergangenen untergesetzlichen Regelungen nicht mehr als maßgebenden rechtlichen Maßstab für die Leistungsansprüche der Versicherten anzusehen (vgl auch BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 10 RdNr 34 - Neuropsychologische Therapie).
Bereits die Anforderungen an das Bestehen einer "schwerwiegenden" Erkrankung für einen Off-Label-Use sind erheblich. Nicht jede Art von Erkrankung kann den Anspruch auf eine Behandlung mit dazu nicht zugelassenen Arzneimitteln begründen, sondern nur eine solche, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt. Auch ein Off-Label-Use bedeutet nämlich, Arzneimittel für bestimmte Indikationen ohne die arzneimittelrechtlich vorgesehene Kontrolle der Sicherheit und Qualität einzusetzen, die in erster Linie Patienten vor inakzeptablen unkalkulierbaren Risiken für die Gesundheit schützen soll. Ausnahmen können schon insoweit nur in engen Grenzen aufgrund einer Güterabwägung anerkannt werden, die der Gefahr einer krankenversicherungsrechtlichen Umgehung arzneimittelrechtlicher Zulassungserfordernisse entgegenwirkt, die Anforderungen des Rechts der GKV an Qualität und Wirksamkeit der Arzneimittel (§ 2 Abs 1 und § 12 Abs 1 SGB V) beachtet und den Funktionsdefiziten des Arzneimittelrechts in Fällen eines unabweisbaren, anders nicht zu befriedigenden Bedarfs Rechnung trägt (so zum Ganzen BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 8 RdNr 18 mwN - Idebenone).
Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen daher nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches kann für den ggf gleichzustellenden, akut drohenden und nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten (BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 12 RdNr 21 - LITT; BSGE 96, 170 = SozR 4-2500 § 31 Nr 4 jeweils RdNr 30 - Tomudex; BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr 7 RdNr 31 f - D-Ribose; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 8 RdNr 16 mwN - Idebenone). Solches ist nach der Rechtsprechung des Senats selbst bei einer bestehenden MS in sekundär-progredienter Verlaufsform in schweren Krankheitsfällen nicht anzunehmen (vgl - RdNr 23 - Multiple Sklerose).
Eine besonders schwere Erkrankung in diesem Sinne ("Notstandssituation") aufgrund der MS hat das LSG bei der Klägerin nicht festgestellt. Bei der Klägerin liegt eine allenfalls sehr langsam voranschreitende Verschlimmerung ihrer MS vor, zumal bereits 1990 neurologische Störungen auftraten, die Erkrankung aber bisher nicht zu wesentlichen Ausfallerscheinungen (zB Lähmungen, Störungen der Beweglichkeit oder Motorik) geführt hat. Die allenfalls langsame Krankheitsprogredienz wird im Übrigen dadurch bestätigt, dass 2004 bei bildgebenden Verfahren gegenüber 1996 keine signifikanten Änderungen bzgl Anzahl und Größe der einzelnen Entmarkungsherde festgestellt wurden und von Dr. M. im Gegenteil berichtet wird, im Vergleich zu 1996 tauchten einzelne Herde jetzt nicht mehr auf.
e) Der geltend gemachte Erstattungsanspruch ergibt sich entgegen der Ansicht des LSG auch nicht unter Berücksichtigung der Wertungen des Art 6 Abs 4 GG. Auch diese rechtfertigen es nicht, den bei der Klägerin bestehenden Krankheitszustand in Verbindung mit ihrem Bedürfnis, ihr Kind trotz medikamentöser Behandlung ihrer MS zu stillen, einer tödlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit gleichzustellen.
Nach Art 6 Abs 4 GG hat jede werdende Mutter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft. Der Schutz des Art 6 Abs 4 GG erfasst Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit. Neben dem verbindlichen Verfassungsauftrag an den Gesetzgeber, der vor allem die Gewährung einer Schonzeit vor und nach der Geburt fordert (vgl zB Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 9. Aufl 2007, Art 6 RdNr 50), ist die Verfassungsnorm Ausdruck einer verfassungsrechtlichen Wertentscheidung, die für den gesamten Bereich des öffentlichen und privaten Rechts verbindlich ist (vgl BVerfGE 32, 273, 277; 47, 1, 20; 52, 357, 365; BVerfG 2. Senat, 3. Kammer Beschluss vom - 2 BvR 785/04, NJW 2005, 2382, Juris RdNr 26 mwN). Auch unter Berücksichtigung dieser Wertentscheidung kann das Bedürfnis der Klägerin, ihre Tochter zu stillen und dennoch zur Vermeidung unmittelbar nach der Geburt ihres Kindes erwarteter Schübe mit dem Arzneimittel Venimmun behandelt zu werden, einer notstandsähnlichen Situation Schwerstkranker nicht gleichgestellt werden. Eine Gleichstellung hätte nämlich zur Folge, dass das Fertigarzneimittel Venimmun für die Indikation MS dann ohne die arzneimittelrechtlich vorgesehene Kontrolle der Sicherheit und Qualität eingesetzt werden könnte. Das geschilderte Interesse der Klägerin muss insoweit hinter dem Anliegen des Gesetzes an einem wirksamen Patientenschutz vor inakzeptablen unkalkulierbaren Risiken für die Gesundheit zurücktreten. Besonderes Gewicht hat dabei der Umstand, dass es vorliegend nicht nur um Gesundheitsrisiken für die Klägerin selbst geht, sondern während der Stillzeit auch um Gesundheitsrisiken für ihr Kind. Solche können mangels ausreichender Studienlage für Venimmun nicht ausgeschlossen werden, während das Neugeborene auch auf andere Weise ohne solche durch die Krankheit der Klägerin bedingte Gefahren ernährt werden konnte.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
GAAAC-78739