Verletzung der Mitwirkungspflichten im Kindergeldrecht; Ausschluss grober Fahrlässigkeit bei schwerer Alkoholerkrankung
Gesetze: AO § 173 Abs. 1 Nr. 2
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betrieb von September 1999 bis an ihrem Wohnort eine Gaststätte. Sie bezog für ihre am geborene Tochter G zunächst Kindergeld.
Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) konnte im Jahr 2000 jedoch das Kindergeld an die Klägerin nicht vollständig auszahlen, da diese trotz Aufforderung ihre aktuelle Bankverbindung nicht mitteilte und auch die Zahlungsanweisungen zur Verrechnung bei der X-Bank nicht einlöste. Anfang des Jahres 2001 stellte die Familienkasse daher die Kindergeldzahlungen an die Klägerin vorläufig ein.
Im Januar 2002 beantragte die Klägerin, ihr weiterhin Kindergeld für G zu gewähren. In dem Antragsformular beantwortete sie die Frage, ob sie in den letzten fünf Jahren vor der Antragstellung außerhalb Deutschlands als Arbeitnehmerin, Selbständige, Entwicklungshelferin oder anderweitig tätig gewesen sei, mit „Ja” und gab hierzu ergänzend an, vom bis zum in der Gastronomie tätig gewesen zu sein.
Am forderte die Familienkasse die Klägerin auf, ergänzend zu ihrem Kindergeldantrag die genaue Anschrift ihres Arbeitgebers außerhalb Deutschlands anzugeben. Eine Antwort blieb aus. Am erinnerte die Familienkasse die Klägerin an die noch offene Rückfrage und verwies darauf, dass die Kindergeldfestsetzung für G bei Ausbleiben einer Antwort ab September 1999 aufgehoben werden müsse. Auch auf dieses Schreiben reagierte die Klägerin nicht. Am erinnerte die Familienkasse die Klägerin erneut an die Beantwortung ihrer Fragen. Hierzu äußerte sich die Klägerin gleichfalls nicht.
Die Familienkasse hob daraufhin mit Bescheid vom die Kindergeldfestsetzung ab September 1999 auf und forderte das von September 1999 bis Oktober 2000 gezahlte Kindergeld für G von der Klägerin zurück. Der Bescheid wurde bestandskräftig.
In dem vom Arbeitsamt anschließend eingeleiteten Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung schrieb die Klägerin, dass sie noch nie im Ausland gearbeitet habe oder für einen ausländischen Arbeitgeber tätig gewesen sei. Wegen dieses Missverständnisses erhalte sie seit kein Kindergeld mehr, obwohl sie dringend darauf angewiesen sei, weil die Tochter noch immer bei ihr, der Klägerin, wohne. Das Arbeitsamt sah in dem Schreiben einen Antrag auf Kindergeld und übersandte es zuständigkeitshalber an die Familienkasse.
Da die Klägerin trotz mehrfacher Aufforderung kein Antragsformular und keine Haushaltsbescheinigung einreichte, lehnte die Familienkasse mit Bescheid vom den Antrag auf Kindergeld ab.
Innerhalb der Einspruchsfrist reichte die Klägerin die erbetene Haushaltsbescheinigung ein und teilte mit, sie sei erst jetzt in der Lage, in ihren Kindergeldangelegenheiten aktiv zu werden, da sie wegen ihrer Alkoholerkrankung jeglichen Überblick über ihre Post verloren habe. Im November 2001 habe sie nach einem Verkehrsunfall entschieden, eine Entziehungskur zu machen. Sie sei deshalb mehrere Monate in Therapie gewesen. Während dieser Zeit habe sie auch unter einer starken Depression gelitten. Sie sei erst jetzt imstande, die Dinge wieder selbst in die Hand zu nehmen. Ihr Ehemann habe sich um viele andere Dinge gekümmert. Sie würde weiterhin ambulant von der Caritas betreut und hoffe, alles geregelt zu bekommen.
Mit Bescheid vom setzte die Familienkasse ab September 2002 Kindergeld für die Tochter in Höhe von 154 € fest. Eine Korrektur des Aufhebungsbescheides vom lehnte die Familienkasse dagegen mit weiterem Bescheid vom ab. Der Bescheid könne nicht aufgehoben werden, da die Klägerin die entscheidungserheblichen Tatsachen erst nachträglich mitgeteilt habe. Der Einspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg.
Im anschließenden Klageverfahren reichte die Klägerin verschiedene Unterlagen ein, um ihre Alkoholerkrankung nachzuweisen.
Nach dem ärztlichen Bericht zum Rehabilitationsantrag der Rentenversicherung vom leidet die Klägerin an einer chronischen Alkoholkrankheit mit Kontrollverlust. Es bestehe eine zunehmende Gefährdung der Erwerbsfähigkeit. Eine lang andauernde Behandlung sei zwingend erforderlich.
Aus einer weiteren ärztlichen Bescheinigung vom geht hervor, dass bei der Klägerin seit Anfang des Jahres 2002 bis Oktober 2002 dauernder Alkoholmissbrauch mit zwischenzeitlich auftretenden deliranten Symptomen bestanden habe. Die kognitiven Leistungen der Klägerin seien deutlich eingeschränkt gewesen. Daher sei im Oktober 2002 ein Antrag auf Durchführung einer stationären Entgiftungsbehandlung gestellt worden.
Ferner legte die Klägerin die Stellungnahme einer sie betreuenden Sozialpädagogin vom vor, in der diese den Krankheitsverlauf insbesondere zu Beginn des Jahres 2002 im Detail schilderte. Nach dieser Darstellung weigerte die Krankenkasse sich zunächst, eine Entgiftungsbehandlung der Klägerin zu finanzieren, weil diese Anfang des Jahres 2002 nicht die erforderlichen Angaben gemacht habe.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage, mit der die Klägerin Kindergeld für den Zeitraum September 1999 bis August 2002 begehrte, ab. Es führte im Wesentlichen aus, eine Änderung des Aufhebungsbescheides nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) scheitere an dem groben Verschulden der Klägerin. Sie habe grob schuldhaft gehandelt, weil sie auf die Frage im Antragsformular nach einer Auslandstätigkeit ein falsches Kästchen angekreuzt und diesen Irrtum trotz mehrerer Rückfragen der Familienkasse erst nach Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen sie aufgeklärt habe. Eine Erkrankung könne das grobe Verschulden bei der Verletzung von Sorgfaltspflichten nur entschuldigen, wenn der Betroffene unfähig sei, sich selbst mit dem Streitgegenstand auseinander zu setzen und wenn er darüber hinaus außerstande sei, einen Bevollmächtigten zu informieren und mit der Wahrnehmung seiner Interessen zu beauftragen (vgl. , BFH/NV 2001, 1600). Aus den vorgelegten Bescheinigungen ergebe sich nicht, dass die Klägerin von Anfang des Jahres 2002 bis Oktober 2002 aufgrund ihrer Alkoholerkrankung über mehrere Monate nicht in der Lage gewesen sei, vernunftgesteuert zu handeln. Sie hätte ihren Ehemann bevollmächtigen können, sie gegenüber der Familienkasse wegen des Kindergeldes für ihre Tochter zu vertreten, zumal dieser sich —wie die Klägerin selbst eingeräumt habe— in dieser Zeit um viele Dinge gekümmert habe.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung der dem FG obliegenden Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
Ob die Klägerin aufgrund ihrer chronischen Alkoholerkrankung nicht in der Lage gewesen sei, vernunftgesteuert zu handeln, sei eine Frage, die ausschließlich durch ein Sachverständigengutachten geklärt werden könne. Das FG hätte somit darauf hinwirken müssen, ein Sachverständigengutachten einzuholen. Die Bereitschaft dazu habe die Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom erklärt.
Darüber hinaus habe das FG seine Hinweispflichten verletzt. Nachdem die Stellungnahme der Therapeuten und die ärztliche Bescheinigung vorgelegt worden seien, wäre das FG verpflichtet gewesen, der Klägerin mitzuteilen, dass es diese Unterlagen für unzureichend erachtet. Die Klägerin wäre dann in der Lage gewesen, den geforderten Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu führen. Das Urteil beruhe auf diesem Verfahrensfehler. Das Sachverständigengutachten hätte bewiesen, dass die Klägerin kein grobes Verschulden treffe.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Familienkasse zu verpflichten, ihr für die Tochter von September 1999 bis August 2002 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO).
Da im Streitfall die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO (Erfordernis einer Entscheidung des BFH zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung) vorliegen, ist der Senat gemäß § 118 Abs. 3 FGO nicht auf eine Entscheidung über die geltend gemachten Verfahrensmängel beschränkt, sondern kann die Vorentscheidung auch materiell-rechtlich überprüfen und in der Sache entscheiden (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 118 Rz 72, m.w.N.).
Das FG hat den Rechtsbegriff des groben Verschuldens i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 unzutreffend ausgelegt, da es an die Voraussetzungen, unter denen eine grobe Verletzung der Sorgfaltspflichten als entschuldbar anzusehen ist, zu hohe Anforderungen gestellt hat. Es hat daher zu Unrecht eine Änderung nach dieser Vorschrift abgelehnt (vgl. , BFH/NV 1993, 147, unter II. 1. b).
1. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 sind bestandskräftige Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.
Die Vorschrift ist auch im Kindergeldrecht anwendbar, da das Kindergeld nach § 31 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) als Steuervergütung gezahlt wird und für Steuervergütungen die Vorschriften der AO 1977 gelten (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AO 1977). Gemäß § 155 Abs. 4 AO 1977 sind die für die Steuerfestsetzung geltenden Vorschriften auf die Festsetzung einer Steuervergütung entsprechend anzuwenden.
2. Im Streitfall sind die Voraussetzungen von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 erfüllt.
a) Der Familienkasse ist aufgrund der Mitteilung der Klägerin Ende November 2002 nach Ergehen des Aufhebungsbescheides vom die entscheidungserhebliche Tatsache bekannt geworden, dass die Klägerin noch nie im Ausland gearbeitet hatte bzw. für einen ausländischen Arbeitgeber tätig gewesen war.
b) Entgegen der Auffassung des FG trifft die Klägerin an dem nachträglichen Bekanntwerden dieser Tatsache kein grobes Verschulden.
aa) Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten.
Eine im Streitfall allein in Betracht kommende grobe Fahrlässigkeit ist nach ständiger Rechtsprechung anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (z.B. , BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264, m.w.N.). Dies ist —wie das FG zutreffend ausgeführt hat— insbesondere der Fall, wenn der Steuerpflichtige seine Erklärungspflicht schlecht erfüllt, indem er unzutreffende oder unvollständige Erklärungen abgibt und bei der Aufklärung des Sachverhalts nicht oder nur schlecht mitwirkt (z.B. , BFHE 157, 22, BStBl II 1989, 920). Eine Pflichtverletzung gilt aber als entschuldbar, wenn sich der Steuerpflichtige vorübergehend in einer ganz besonderen Krisensituation persönlicher oder beruflicher Art befindet, die ausnahmsweise den ansonsten begründeten Vorwurf grober Fahrlässigkeit ausschließt (z.B. BFH-Urteil in BFH/NV 1993, 147; Pahlke/ Koenig, Abgabenordnung, § 173 Rz 115; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 173 AO Rz 77).
bb) Allein das Ankreuzen des falschen Kästchens bei der Frage im Kindergeldantrag nach einer Tätigkeit außerhalb Deutschlands ist noch nicht als grobes Verschulden zu werten. Objektiv betrachtet hat die Klägerin allerdings in grober Weise ihre Sorgfalts- und Mitwirkungspflichten verletzt, weil sie die schriftlichen Anfragen der Familienkasse nicht beantwortet und dadurch den —durch das falsche Ausfüllen des Kindergeldantrags verursachten— Irrtum nicht aufgeklärt hat, was schließlich zur Aufhebung der Kindergeldfestsetzung führte. Dieses Fehlverhalten der Klägerin ist aber aufgrund ihrer Alkoholerkrankung nicht vorwerfbar.
Nach den im finanzgerichtlichen Verfahren vorgelegten Stellungnahmen der Ärzte und der Therapeutin, auf deren Inhalt das FG im Tatbestand seines Urteils Bezug genommen hat, litt die Klägerin an einer chronischen langwierigen Alkoholerkrankung, die sie vorübergehend offenkundig außer Stande setzte, ihre persönlichen Angelegenheiten zu regeln. Anders ist es nicht zu erklären, dass sie der Familienkasse nicht einmal ihre Bankverbindung mitgeteilt hat, damit ihr das Kindergeld überwiesen werden konnte.
Wie sich aus dem ärztlichen Attest vom ergibt, versuchte die Klägerin gerade Anfang des Jahres 2002 nach einem Krankenhausaufenthalt ihr erhebliches Alkoholproblem zunächst im Wege einer ambulanten Behandlung zu bekämpfen. Aus der Bescheinigung der Therapeutin ist ersichtlich, dass die Klägerin in dieser Phase noch nicht einmal imstande war, ihre Krankenkassenunterlagen zu sichten und zu ordnen. Nach den ärztlichen Stellungnahmen bestand im Jahr 2002 ein dauernder Alkoholmissbrauch mit „zwischenzeitlich auftretenden deliranten Symptomen”, was eine „deutliche Einschränkung der kognitiven Leistungen” zur Folge hatte. Daraus erklärt sich, dass die Klägerin selbst einfache Dinge, wie die Beantwortung der Schreiben der Familienkasse, die für sie von finanzieller Bedeutung waren, nicht selbst erledigt und auch ihren Ehemann nicht mit der Erledigung beauftragt hat.
Die von den Ärzten als Folge des Alkoholmissbrauchs beschriebene persönliche Krisensituation der Klägerin führte dazu, dass sie nach ihren persönlichen Verhältnissen und Fähigkeiten vorübergehend nicht in der Lage war, ihre Mitwirkungspflichten im Kindergeldverfahren zu erfüllen, so dass ihr keine grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann.
3. Da die Tatbestandsmerkmale des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 vorliegen, sind die Bescheide, mit denen die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung ab September 1999 aufgehoben bzw. eine Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum September 1999 bis August 2002 abgelehnt hat, aufzuheben. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1, § 64 Abs. 2 Satz 1, § 32 Abs. 3 EStG sind für den Zeitraum von September 1999 bis August 2002 erfüllt: Die Tochter hatte das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet und lebte nach wie vor im Haushalt der Klägerin. Die Familienkasse wird daher verpflichtet, für diesen Zeitraum Kindergeld festzusetzen.
Das Kindergeld errechnet sich wie folgt:
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9/1999 bis 12/1999: | 4 x 250 DM = 1 000 DM = | 511,29 € |
1/2000 bis 12/2001: | 24 x 270 DM = 6 480 DM = | 3 313,17 € |
1/2001 bis 8/2001: | 8 x 154 € = | 1 232,00 € |
insgesamt | 5 056,46 € | |
aufgerundet | 5 057,00 € |
4. Damit erübrigt sich eine Entscheidung über die Rüge der Verletzung der Sachaufklärungs- und Hinweispflicht durch das FG.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 643 Nr. 4
KÖSDI 2007 S. 15424 Nr. 2
VAAAC-38204