BSG Beschluss v. - B 9 SB 11/03 B

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: SGG § 103; SGG § 160 Abs 2 Nr 3; SGG § 160a Abs 2 Satz 3

Instanzenzug:

Gründe

I

Der Rechtsstreit betrifft die Entziehung der Feststellung der gesundheitlichen Merkmale von außergewöhnlicher Gehbehinderung (im Folgenden: Merkzeichen "aG") und Hilflosigkeit (im Folgenden: Merkzeichen "H").

Bei der 1928 geborenen Klägerin wurden erstmals durch Bescheid des Versorgungsamts M. vom das Vorliegen einer Behinderung mit einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 vH sowie die gesundheitlichen Merkmale einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (im Folgenden: Merkzeichen "G") festgestellt. Nachdem die Klägerin im August 1991 einen Schlaganfall erlitten hatte, berücksichtigte das Versorgungsamt M. mit Bescheid vom die nunmehr vorliegende Behinderung und stellte einen Grad der Behinderung (GdB) von insgesamt 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale für die Merkzeichen "H", "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung), "aG" und "G" fest. Im April 1995 leitete es eine Überprüfung von Amts wegen ein und traf durch Bescheid vom ua die Feststellung, die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen lägen hinsichtlich der Merkzeichen "aG" und "H" nicht mehr vor, nachdem bezüglich der Teillähmung nach rechtsseitigem Schlaganfall eine wesentliche Besserung eingetreten sei. Den Widerspruch der Klägerin wies das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung Rheinland-Pfalz durch Bescheid vom zurück.

Klage (Urteil des Sozialgerichts Mainz <SG> vom ) und Berufung der Klägerin (Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz <LSG> vom ) blieben ohne Erfolg. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt: Die Entziehung der Merkzeichen sei nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) rechtmäßig, nachdem in den gesundheitlichen Verhältnissen der Klägerin gegenüber dem Behinderungszustand im Zeitpunkt der früheren Entscheidung (Juni 1992) bis zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung im Juni 1997 eine wesentliche Änderung eingetreten sei. Die Feststellung der Voraussetzungen für die Merkzeichen "aG" und "H" im Juni 1992 sei zwar großzügig, aber vertretbar gewesen. Durch Beschluss vom hat das LSG einen Antrag der Klägerin auf Berichtigung des Tatbestands des Urteils vom gemäß § 139 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) abgelehnt.

Gegen diesen Beschluss sowie die Nichtzulassung der Revision im Berufungsurteil hat die Klägerin beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt.

II

1. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat iS der Zurückverweisung der Sache an das LSG Erfolg. Wie die Klägerin formgerecht (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) und auch im Ergebnis zutreffend gerügt hat, beruht das angegriffene Urteil des LSG iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG auf einer Verletzung des § 103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts vom Amts wegen).

Zur Begründung ihrer Verfahrensrüge hat die Klägerin insbesondere dargelegt, das LSG sei ihren Beweisanträgen ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. Ihre mit dem Berufungsschriftsatz vom gestellten Beweisanträge genügen den gesetzlichen Anforderungen (vgl § 118 Abs 1 SGG iVm §§ 402 ff Zivilprozessordnung <ZPO>). Aus den näheren Umständen des Verfahrens kann auch nicht entnommen werden, dass die Klägerin die schriftsätzlich gestellten Anträge nicht mehr aufrechterhalten wollte (vgl dazu BSG SozR 1500 § 160 Nr 12). Allerdings hat am die mündliche Verhandlung vor dem LSG stattgefunden, in der sich die Klägerin durch ihren Sohn M. S. hat vertreten lassen, und dieser hat ausweislich der Sitzungsniederschrift nur den Sachantrag gestellt, aber nicht die schriftsätzlich gestellten Beweisanträge zu Protokoll gegeben oder ausdrücklich darauf Bezug genommen. Daraus können jedoch keine für die Klägerin ungünstigen Schlüsse gezogen werden. Soweit die Rechtsprechung des BSG den Grundsatz verfolgt, dass ein Beweisantrag als nicht aufrechterhalten gilt, wenn der Beteiligte in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG - wie hier - nur einen Sachantrag gestellt hat (vgl Senatsbeschlüsse vom , SozR 3-1500 § 124 Nr 3 S 3, 5; - B 9 SB 63/00 R - mwN; - B 9 V 31/02 B -; - B 9 SB 24/01 B -), geht sie jeweils von einem rechtskundig bzw anwaltlich vertretenen Beteiligten aus (vgl SozR 3-1500 § 160 Nr 35; vom , SozR 3-1500 § 160 Nr 29 S 49 mwN; - B 13 RJ 285/97 B -; - 2 BU 97/89 -; ebenso für den Fall der Rüge einer Gehörsverletzung: SozR 3-1500 § 160 Nr 22 S 34 f; Senatsbeschluss vom - B 9 V 77/01 B; für den Fall des Einverständnisses mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung: Senatsbeschluss vom aaO S 5; allgemein dazu auch BVerfG SozR 3-1500 § 160 Nr 6). Dabei kommt es nach Auffassung des erkennenden Senats nicht auf das Vorhandensein allgemeiner Rechtskenntnisse bei dem betreffenden Beteiligten oder seinem Bevollmächtigten an. Vielmehr kann das Gericht, dessen Vorsitzender in der mündlichen Verhandlung gemäß § 112 Abs 2 SGG auch darauf hinzuwirken hat, dass die Beteiligten sachdienliche Anträge stellen, bei der Beschränkung auf einen Sachantrag im Termin grundsätzlich nur dann davon ausgehen, dass ein schriftsätzlich gestellter Beweisantrag bewusst nicht weiter verfolgt werden soll, wenn es sich einem berufsmäßigen Rechtsvertreter, also insbesondere einem Rechtsanwalt oder einem der in § 166 Abs 2 SGG genannten Prozessbevollmächtigten, gegenübersieht. Da der Sohn der Klägerin nicht zu diesem Personenkreis gehörte, durfte das LSG die im Berufungsschriftsatz gestellten Beweisanträge mithin nicht ohne weitere Nachfrage im Termin als fallengelassen betrachten.

Die Klägerin hat mit dem og Schriftsatz zum Beweis der Tatsache, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen "aG" und "H" bereits im Juni 1992 nicht erfüllt waren, die Einholung sowohl eines neurologischen wie eines orthopädischen "Obergutachtens" auf Grund persönlicher Untersuchung beantragt. Auf diese Beweisfragen kam es aus der Sicht des LSG auch an, das bei der Prüfung der Entziehungsvoraussetzungen nach § 48 Abs 1 SGB X darauf abgestellt hat, ob eine wesentliche Änderung anhand eines Vergleichs "der Verhältnisse im Juni 1997 (letzte Verwaltungsentscheidung) mit dem verbindlich festgestellten objektiven Behinderungszustand zum Zeitpunkt der früheren Entscheidung (Juni 1992) festgestellt werden" kann. Aus dieser Sicht ist der "objektive" Zustand entscheidend, der auch durch entsprechende ärztliche Sachverständigengutachten aufgeklärt werden kann. Soweit das LSG in diesem Zusammenhang unter Hinweis auf das (BSGE 67, 204 ff) ausführt, es sei unerheblich, ob die Feststellung im Jahre 1992 zu Recht oder zu Unrecht erfolgt sei, ergibt sich daraus kein Widerspruch. Gemeint sind hier wegen Anwendung eines fehlerhaften Maßstabs unrichtige Verwaltungsentscheidungen; fallen Tatsachen, die nach diesem fehlerhaften Maßstab wesentlich sind, weg, ist eine wesentliche Änderung iS von § 48 SGB X anzunehmen (vgl BSG aaO S 211). Darauf, dass der Beklagte 1992 nach einem fehlerhaften Maßstab über die gesundheitlichen Merkmale einer außergewöhnlichen Gehbehinderung und Hilflosigkeit entschieden hätte, ist das LSG nicht weiter eingegangen. Anhand der von ihm ausgewerteten Unterlagen ist es zu dem Ergebnis gekommen, dass die damalige Entscheidung des Beklagten zwar großzügig, aber vertretbar gewesen sei. Die Klägerin hat zutreffend darauf hingewiesen, dass diese Feststellung im Widerspruch zu den - vom LSG zitierten - Ausführungen des Sachverständigen Dr. M. im Gutachten vom steht. Unter diesen Umständen hätte es sich dem LSG - wollte es der Bewertung von Dr. M. nicht folgen - aufdrängen müssen, eine kritische fachärztliche Beurteilung der vorliegenden Befunde und Angaben der Klägerin durch einen unabhängigen ärztlichen Sachverständigen vornehmen zu lassen. Jedenfalls ergeben sich auch aus dem Inhalt des Berufungsurteils keine hinreichenden Gründe dafür, warum das LSG den von der Klägerin gestellten Beweisanträgen nicht gefolgt ist (vgl dazu -).

Wenn das LSG - gestützt auf die Zweifelhaftigkeit eines sehr guten Erfolges der Rehabilitation, die Eigenangabe der Klägerin zu den Folgen des Schlaganfalls und die Angabe von Dr. W. im Befundbericht vom (wonach die Klägerin auch in Zukunft auf die Benutzung eines Rollstuhles angewiesen sein werde) - ausgeführt hat, es könne nicht zweifelsfrei festgestellt werden, dass zum Zeitpunkt des Bescheides vom die Voraussetzungen für eine außergewöhnliche Gehbehinderung nicht vorgelegen hätten, genügt dies nicht den Anforderungen des § 103 SGG. Für eine von dem Sachverständigengutachten des Dr. M. abweichende ärztlich-wissenschaftliche Beurteilung hätte sich das LSG mangels ausgewiesener eigener medizinischer Sachkunde auf ein entsprechendes Sachverständigengutachten stützen müssen. Die Prognose von Dr. W. reichte insoweit nicht aus, weil dieser die Klägerin nach der Rehabilitationsmaßnahme nicht mehr gesehen hatte. Auf das vom SG eingeholte, am von Dr. G. erstattete Gutachten hat sich das LSG zu diesem Punkt selbst nicht bezogen.

Entsprechendes gilt hinsichtlich des Merkzeichens "H". Auch insoweit stellt das LSG den Widerspruch zwischen dem von Dr. M. bekundeten Erfolg der Rehabilitation einerseits und den eigenen Angaben der Klägerin sowie denen des Internisten Dr. W. andererseits heraus, ohne indessen die beantragte fachgerechte Beurteilung durch einen medizinischen Sachverständigen zu veranlassen. Die hierzu vom LSG gegebene Begründung, das Fehlen der Voraussetzungen für dieses Merkzeichen im Jahre 1992 sei im Nachhinein nicht zweifelsfrei feststellbar, reicht nicht aus. Damit ist kein Grund genannt, warum nicht durch einen unabhängigen Sachverständigen die Angaben im Gutachten von Dr. M. - ggf nach weiterer Sachaufklärung - einer kritischen fachärztlichen Überprüfung unterzogen werden können.

Auf diesem Verfahrensmangel kann die angefochtene Entscheidung beruhen. Hätte das LSG die beantragte Beweiserhebung durch Einholung eines fachärztlichen Gutachtens durchgeführt, wäre es möglicherweise zu einer für die Klägerin günstigeren Entscheidung gelangt. Es besteht eine nicht nur geringe Möglichkeit, dass die Klägerin bereits zum Zeitpunkt des Bescheides vom nicht mehr derart an den Folgen des Schlaganfalls gelitten hat, dass die Feststellung der vorgenannten gesundheitlichen Merkmale gerechtfertigt gewesen wäre. Soweit dann eine Korrektur dieser Feststellungen im Wege des § 45 SGB X nicht mehr möglich sein sollte, wäre das Vertrauen der Klägerin in den Fortbestand der Feststellungen geschützt. Erweist sich der - bindende - Ursprungsbescheid als rechtswidrig, weil gesundheitliche Merkmale zu Unrecht festgestellt worden sind, darf die Anwendung von § 48 Abs 1 SGB X zu keiner Korrektur des ungerechtfertigten Vorteils führen; auch bei einer (weiteren) Besserung des Gesundheitszustandes bleibt es bei den zuerkannten Merkmalen (vgl dazu näher Kasseler Komm-Steinwedel, § 48 SGB X RdNr 29 mwN).

Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG somit vorliegen, steht es im Ermessen des erkennenden Gerichts, nach § 160a Abs 5 SGG zu verfahren; insoweit ist der Senat nicht an die gestellten Anträge gebunden (Senatsbeschlüsse vom - B 9 SB 60/02 B -, und - B 9 SB 62/02 B -). Da es im Rechtsstreit hauptsächlich um die Tatsachenfeststellungen zu den gesundheitlichen Voraussetzungen der streitigen Merkmale geht, sprechen prozessökonomische Gründe für eine unmittelbare Zurückverweisung der Sache, zumal auch ein durch Zulassung eröffnetes Revisionsverfahren zu keinem anderen Ergebnis führen könnte. Bei seiner weiteren Behandlung der Sache wird das LSG auch die neuere Rechtsprechung des erkennenden Senats zu den Voraussetzungen der streitigen Merkmale zu berücksichtigen haben (zum Merkzeichen "aG": Urteil vom - B 9 SB 7/01 R -, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen <grundsätzlich keine Orientierung an einer in Metern ausgedrückten Wegstrecke>; zum Merkzeichen "H": Urteile vom , - B 9 V 3/01 R -, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen; - B 9 SB 1/02 R -, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).

2. Soweit sich die Klägerin gegen den wendet, ist die Beschwerde unzulässig (Argument aus § 177 SGG). Für eine "außerordentliche Beschwerde" (vgl zur Frage außerordentlicher Rechtsmittel grundsätzlich: Urteil des Plenums des - mit zahlreichen Nachweisen) ist hier ein Rechtsschutzbedürfnis nicht zu bejahen; zum einen ist ein Fall greifbarer Rechtswidrigkeit nicht anzunehmen (zum Problem einer fehlenden Mitwirkung der Richterin S. - bei der Beschlussfassung des LSG vgl allerdings Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand März 1991, § 139 SGG RdNr 23), zum anderen hat die Klägerin erfolgreich von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, ihre Rechte mit der Nichtzulassungsbeschwerde zu verfolgen (vgl -).

Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Fundstelle(n):
LAAAC-14447