Aussetzung des Klageverfahrens im Hinblick auf anhängiges Verfahren beim Bundesverfassungsgericht wegen Verfassungswidrigkeit einer Norm
Gesetze: FGO § 74, AO § 165, EStG § 32c
Instanzenzug:
Gründe
Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) werden zur Einkommensteuer des Streitjahres 1996 zusammenveranlagt. Der Kläger erzielte Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit; die Klägerin ist nicht berufstätig.
Nach Abschluss eines Einspruchsverfahrens begehrten die Kläger mit der Klage erstmals, die Steuerfestsetzung hinsichtlich der Anwendung des § 32c des Einkommensteuergesetzes (EStG) für vorläufig zu erklären. Sie verwiesen dabei auf verschiedene Verwaltungsanweisungen, wonach Einkommensteuer-Festsetzungen wegen eines vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängigen Musterverfahrens (vgl. , BFHE 188, 69, BStBl II 1999, 450) für Veranlagungszeiträume ab 1994 insoweit vorläufig vorzunehmen seien (vgl. , BStBl I 2000, 309, und vom IV D 6 -S 0338- 28/00, BStBl I 2000, 438). Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) lehnte es ab, den Einkommensteuerbescheid für 1996 nachträglich für vorläufig zu erklären. Es stimmte jedoch dem Antrag der Kläger zu, das gerichtliche Verfahren bis zur Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit des § 32c EStG (Az. des Normenkontrollverfahrens: 2 BvL 2/99) ruhen zu lassen.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage gleichwohl ab. Die Sache sei spruchreif. Das Verfahren sei nicht bis zur Entscheidung des BVerfG auszusetzen; denn das Normenkontrollverfahren 2 BvL 2/99 sei für den Streitfall ohne Bedeutung. Es fehle auch an einem wichtigen Grund für ein Ruhen des Verfahrens (§ 251 der Zivilprozessordnung —ZPO—). Insoweit liege nur eine verschleierte Vertagungsvereinbarung beider Beteiligten vor; dies stelle aber keinen erheblichen Grund für eine Terminsverschiebung dar.
Das —hilfsweise beantragte— Verpflichtungsbegehren der Kläger, den Einkommensteuerbescheid für 1996 für teilweise vorläufig zu erklären, sei unbegründet. Das FA habe es zu Recht abgelehnt, den streitbefangenen Einkommensteuerbescheid mit einem Vorläufigkeitsvermerk zu versehen. Der Kläger gehöre nicht zu dem durch die Vorschrift des § 32c EStG begünstigten Personenkreis. Die Möglichkeit, dass das BVerfG bei einer Verfassungswidrigkeit des § 32c EStG zu einer Begünstigung des Klägers gelange, sei fernliegend. Auch eine rückwirkende gesetzliche Regelung sei aus haushaltspolitischen Gründen unvertretbar.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde rügen die Kläger Verletzung materiellen und formellen Rechts.
Die Beschwerde ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
1. Das BMF hat bis in jüngste Zeit im Hinblick auf § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO 1977) —allgemein und mit Bindungswirkung für die Finanzämter— verfügt, dass Einkommensteuer-Festsetzungen hinsichtlich der Anwendung des § 32c EStG für die Veranlagungszeiträume 1994 bis 2000 vorläufig vorzunehmen sind (zuletzt: , BStBl I 2005, 952). Entgegen der Auffassung des FA und des FG ergibt sich aus den einschlägigen Verwaltungsanweisungen nicht, dass dieser Vorläufigkeitsvermerk bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit ausscheidet. Vielmehr ergibt sich auch aus der vom FG angeführten , dass —so wörtlich— „der Vorläufigkeitsvermerk hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 32c EStG…unabhängig von der Art der erzielten Einkünfte sämtlichen Einkommensteuerbescheiden beizufügen (ist)”. Entgegen der Ansicht des FG ist auch nicht erkennbar, dass die Regelung in der AO-Kartei Baden-Württemberg (Karte 1 zu § 165 AO) Einschränkungen bezüglich der Anbringung eines Vorläufigkeitsvermerks enthält.
Die Finanzverwaltung hat mit den einschlägigen Anweisungen zum Ausdruck gebracht, dass das vor dem BVerfG schwebende Musterverfahren zur Tarifvergünstigung des § 32c EStG —auch für die bzw. den Kläger— nicht von vornherein aussichtslos ist bzw. Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Tragweite einer diesbezüglichen verfassungsgerichtlichen Entscheidung besteht. Die Verwaltungsanweisungen berücksichtigen augenscheinlich Meinungen in der Literatur, dass eine solche Entscheidung unter Umständen allgemein Auswirkungen auf die Gestaltung des Einkommensteuertarifs haben könnte (umfassend hierzu und mit zahlreichen Literatur-Nachweisen: Gosch in Blümich, Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, Kommentar, § 32c Rz. 12 ff., 16; derselbe in Die steuerliche Betriebsprüfung —StBp— 2000, 124; vgl. auch Wendt in Finanz-Rundschau —FR— 2000, 332, 333).
2. Angesichts dieses Befundes bestehen keine hinreichenden Gründe dafür, dass das FG die Klage abgewiesen hat. Sachgerechter Rechtsschutzgewährung entsprach es vielmehr, die Entscheidung des BVerfG im Verfahren 2 BvL 2/99 abzuwarten und das vorliegende Klageverfahren auszusetzen (vgl. hierzu auch Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 74 FGO Tz. 17 ff.; Stöcker in Beermann/Gosch, Steuerliches Verfahrensrecht, Kommentar, § 74 FGO Rz. 17; Frotscher in Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, § 165 Rz. 15; , BFHE 202, 49, BStBl II 2003, 719; vgl. auch , Entscheidungen der Finanzgerichte —EFG— 2005, 1620). Mit der Zurückverweisung der Sache erhält das FG die Gelegenheit, dies nachzuholen. Ob es darüber hinaus ermessensgerecht war, den übereinstimmenden Anträgen der Beteiligten auf Ruhen des Verfahrens nicht zu entsprechen, bedarf keiner Entscheidung mehr.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2006 S. 784 Nr. 4
IAAAB-76994