BFH Urteil v. - VII R 62/04

Unbilligkeit der Vollstreckung bei angebotenen Ratenzahlungen

Gesetze: AO § 258

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) organisiert, veranstaltet und vermittelt Gruppenreisen. Aufgrund erheblicher Umsatzsteuerrückstände leitete der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—), nachdem er einen Antrag der Klägerin auf Erlass der Steuerschulden sowie einen Antrag auf Vollstreckungsaufschub abgelehnt hatte, Vollstreckungsmaßnahmen ein. Der Versuch einer Sachpfändung sowie der Erlass einer Pfändungs- und Einziehungsverfügung gegenüber einer früheren Geschäftsbank der Klägerin blieben ohne Erfolg. Am stellte die Klägerin erneut einen Antrag auf Vollstreckungsschutz und bot monatliche Ratenzahlungen ab dem in Höhe von 1 000 € an. Dies lehnte das FA am ab. Auch das weitere telefonisch unterbreitete Angebot, die Rate auf 2 000 € zu erhöhen, lehnte das FA am ab. Daraufhin beantragte die Klägerin am , ihr Vollstreckungsschutz in der Weise zu gewähren, dass sie vom 15. Mai bis monatlich jeweils 2 000 € auf die Abgabenrückstände in Höhe von ca. 65 000 € zahle. Ab Mai 2005 sollten entsprechende Zahlungen wieder aufgenommen werden. Am stellte das FA beim zuständigen Amtsgericht (AG) den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Klägerin, den das AG am abwies. Den Antrag auf Gewährung von Vollstreckungsaufschub lehnte das FA am ab. Einspruch und Klage gegen den ablehnenden Bescheid hatten keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) urteilte, dass die Fortführung der Vollstreckungsmaßnahmen im Streitfall nicht unbillig i.S. des § 258 der Abgabenordnung (AO 1977) gewesen sei. Bei einem voraussichtlichen Tilgungszeitraum von über fünf Jahren sei die zu fordernde Kurzfristigkeit für das Zuwarten der Finanzbehörden nicht mehr gegeben. Es sei auch nicht zu beanstanden, dass das FA bei seiner Ermessensausübung davon ausgegangen sei, dass eine Frist von zwölf Monaten die äußerste Grenze für die Gewährung eines Vollstreckungsaufschubes darstelle. Diese Grenze stehe im Einklang mit § 813b der Zivilprozessordnung und § 30a Abs. 1 und § 30c Abs. 1 des Zwangsversteigerungsgesetzes. Aufgrund der aus einer Vielzahl von Fällen gewonnenen Kenntnis des Gerichts sei auch regelmäßig die Erwartung begründet, dass Vollstreckungsschuldner, die nicht in der Lage seien, ihre Rückstände binnen Jahresfrist abzutragen, bei einer Fortführung des Geschäftsbetriebs oftmals neue Rückstände aufbauen würden.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung von Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Sie macht geltend, dass das FA das ihm nach § 258 AO 1977 zustehende Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt habe. Denn es habe den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt, ohne vorher über den Antrag auf Gewährung von Vollstreckungsaufschub entschieden zu haben. Durch die Gewährung von Ratenzahlungen hätte die Einleitung des Insolvenzverfahrens, das für die Klägerin einen unangemessenen Nachteil darstellen würde, vermieden werden können. Zu berücksichtigen sei auch, dass nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens die offenen Steuerforderungen nicht mehr vollstreckt werden könnten. Die Entscheidung sei daher durch das allgemeine öffentliche Interesse nicht mehr gedeckt gewesen. Aus der Ungleichbehandlung der Klägerin im Vergleich mit Großkonzernen, die teilweise nur aufgrund erheblicher staatlicher Subventionsleistungen hätten überleben können, folge ein Verstoß gegen den in Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes normierten Gleichbehandlungsgrundsatz sowie ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung (§ 85 Satz 1 AO 1977). Auf diese Argumente sei das FG in seiner Begründung nicht eingegangen. Schließlich beruhe das erstinstanzliche Urteil auf dem Verfahrensfehler mangelnder Sachaufklärung. Denn die Ausführungen des FG zur Entstehung neuer Abgabenrückstände in Fällen, in denen ein Ausgleich der Rückstände innerhalb von zwölf Monaten nicht erfolge, seien spekulativ und auf die Klägerin nicht übertragbar.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, das Urteil des FG aufzuheben und ihr Vollstreckungsschutz in der Weise zu gewähren, dass ihr die Möglichkeit einer Ratenzahlung von monatlich 2 000 € eingeräumt wird, hilfsweise die Sache an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Es schließt sich im Wesentlichen den Ausführungen des FG an und führt ergänzend aus, dass es der Klägerin bisher nicht gelungen sei, die tatsächliche Möglichkeit einer Darlehensgewährung nachzuweisen.

Die Revision ist unbegründet. Das FG hat zu Recht entschieden, dass das FA das ihm zustehende Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt hat.

1. Soweit die Vollstreckung im Einzelfall unbillig ist, kann die Vollstreckungsbehörde nach § 258 AO 1977 die Vollstreckung einstweilen einstellen oder beschränken oder eine Vollstreckungsmaßnahme aufheben. Solche „einstweiligen” Maßnahmen kommen nur in Betracht, wenn vorübergehende Umstände vorliegen, die eine Vollstreckung unbillig erscheinen lassen. Umstände, die zu einer dauerhaften Einstellung der Vollstreckung Anlass geben, können dagegen nicht berücksichtigt werden, denn eine dauerhafte Unterbindung der Vollstreckung ist in § 258 AO 1977 nicht angelegt (vgl. Senatsbeschluss vom VII B 115/85, BFH/NV 1986, 479, 480, m.w.N.).

Vielmehr zielt der Vollstreckungsschutz nach dieser Vorschrift nur auf vorläufige Maßnahmen ab, die die Beitreibung der rückständigen Steuern nicht auf Dauer behindern oder gefährden. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist eine Unbilligkeit i.S. von § 258 AO 1977 dann anzunehmen, wenn die Vollstreckung oder eine einzelne Vollstreckungsmaßnahme dem Vollstreckungsschuldner einen unangemessenen Nachteil bringen würde, der durch kurzfristiges Zuwarten oder durch eine andere Vollstreckungsmaßnahme vermieden werden könnte (BFH-Entscheidungen vom V S 17/02, BFH/NV 2003, 738; vom VII B 134/87, BFH/NV 1988, 422, und vom VII B 129/85, BFH/NV 1986, 478). Im Falle des Anerbietens von Ratenzahlungen durch den Vollstreckungsschuldner kann sich die Vollstreckung als unbillig erweisen, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann, dass der Vollstreckungsschuldner seine Zusage einhalten wird, und wenn nach der Höhe der angebotenen Raten mit einer zügigen und kurzfristigen Tilgung der Steuerschuld gerechnet werden kann (Senatsbeschluss vom VII B 107/91, BFH/NV 1992, 503, 504). In jedem Fall müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Steuerschulden in absehbarer Zeit durch freiwillige Leistungen des Schuldners zurückgeführt werden können. Von einem absehbaren Zeitraum kann jedenfalls dann nicht mehr ausgegangen werden, wenn der dem FA unterbreitete Tilgungsvorschlag eine vollständige Begleichung der Steuerrückstände erst nach mehreren Jahren erwarten lässt (vgl. BFH-Entscheidung vom VII B 15/01, BFH/NV 2002, 160, und Senatsbeschluss vom VII B 92/92, BFH/NV 1993, 513, in dem der erkennende Senat einen Tilgungszeitraum von sieben Jahren nicht mehr als in diesem Sinne absehbaren Zeitraum erachtet hat).

2. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das FG zutreffend entschieden, dass das FA das ihm zustehende Ermessen weder überschritten noch in einer dem Zweck des § 258 AO 1977 widersprechenden Weise ausgeübt hat.

a) Nach den von der Revision nicht angegriffenen und daher für den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) hat die Klägerin bereits vor der Einleitung des Insolvenzverfahrens durch das FA zwei Anträge auf Gewährung von Vollstreckungsaufschub gestellt. Das erste Angebot sowie das zweite telefonisch unterbreitete Angebot, die Steuerschuld in monatlichen Raten in Höhe von 2 000 € zu tilgen, hat das FA abgelehnt. Da § 258 AO 1977 hinsichtlich der finanzbehördlichen Entscheidung über einen Antrag auf Erlass einer die Vollstreckung aufschiebenden Maßnahme eine Schriftform nicht vorschreibt, kann eine dem Antrag stattgebende oder ablehnende Entscheidung auch mündlich erfolgen (vgl. Beermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 258 AO 1977 Rdnr. 34). Nach dem konkreten Geschehensablauf (spätere Ablehnung auch des dritten Antrages sowie Einleitung des Insolvenzverfahrens) ist von einem entsprechenden Regelungswillen des FA auszugehen, so dass sich die mündliche Erklärung des FA, mit dem der zweite Antrag auf Gewährung von Vollstreckungsaufschub abgelehnt worden ist, als ein gegenüber der Klägerin mit Rechtswirkung ausgestalteter Verwaltungsakt darstellt. Danach konnte die Klägerin nicht davon ausgehen, dass ihr die Begleichung der Steuerrückstände durch Ratenzahlungen gestattet worden sei und dass das FA infolgedessen von der Einleitung von weiteren Vollstreckungsmaßnahmen absehen werde.

b) Ungeachtet der negativen Bescheidung hat die Klägerin ihren mündlich gestellten Antrag wenige Tage später schriftlich wiederholt. Ausgehend von den angebotenen Ratenzahlungen hätte die vollständige Tilgung der Steuerschulden einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren in Anspruch genommen. Bei dieser Sachlage kann nicht mehr von einer zügigen Tilgung innerhalb eines absehbaren Zeitraumes ausgegangen werden. Da das FA unter diesen Umständen nicht nur durch ein kurzfristiges Zuwarten an der Realisierung seiner Steueransprüche gehindert gewesen wäre, vermag der Senat Fehler bei der Ausübung des dem FA zustehenden Ermessens nicht zu erkennen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der in der Einspruchsentscheidung dargelegten Begründung, die auf den Senatsbeschluss in BFH/NV 2002, 160, 161 Bezug nimmt. Selbst wenn dieser Entscheidung entnommen werden könnte, dass ein Vollstreckungsaufschub nach § 258 AO 1977 nur für einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten, in besonderen Fällen auch bis zu zwölf Monaten, gewährt werden könne, wäre ein solcher Zeitraum im Streitfall weit überschritten gewesen. In seiner ablehnenden Entscheidung hat das FA ausdrücklich darauf abgestellt, dass bei einem Tilgungszeitraum von fünf Jahren nicht von einer „einstweiligen” Einstellung der Vollstreckung ausgegangen werden könne.

c) Die Entscheidung des FA ist auch nicht deshalb zu beanstanden, weil die Zustellung des ablehnenden Bescheides erst nach der Beantragung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Klägerin erfolgt ist oder weil zumindest die Möglichkeit besteht, dass das FA die Entscheidung erst nach Einleitung des Insolvenzverfahrens getroffen hat. Dabei ist zu berücksichtigen, dass aus dem Zeitpunkt der Bekanntgabe des Verwaltungsaktes nicht zuverlässig auf den Zeitpunkt der Entscheidungsfindung und der Ermessensbetätigung geschlossen werden kann. Die besonderen Umstände des Streitfalles legen den Schluss nahe, dass das FA die Ermessensentscheidung bereits vor der Einleitung des Insolvenzverfahrens getroffen hat. Denn wie zuvor ausgeführt, hatte das FA zwei vorausgegangene Anträge auf Gewährung von Vollstreckungsaufschub abschlägig beschieden. Bei unveränderter Sachlage stellte der zuletzt gestellte Antrag lediglich eine Wiederholung des bereits zurückgewiesenen Begehrens dar, so dass für den Senat Anhaltspunkte für die von der Klägerin behauptete pflichtwidrige Ermessensausübung infolge einer etwaigen unzulässigen Vorprägung der Entscheidung durch die Stellung des Antrages auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht erkennbar sind.

d) Auch unter dem Gesichtspunkt der erforderlichen Abwägung der Interessen des Vollstreckungsschuldners gegenüber den Interessen der Allgemeinheit an der Durchführung der Vollstreckung und der Realisierung des Steueranspruchs ist ein Fehlgebrauch des Ermessens nicht ersichtlich. Denn Nachteile und etwaige Härten, die üblicherweise mit jeder Vollstreckungsmaßnahme verbunden sind und die jeden Vollstreckungsschuldner treffen, begründen für sich allein noch keine Unbilligkeit der Vollstreckung (vgl. Beermann, a.a.O., § 258 AO 1977 Rdnr. 14, m.w.N.). Dies gilt auch für den Fall, dass die Ablehnung des Vollstreckungsaufschubes die Gefahr einer Insolvenz erhöht oder wie im Streitfall die Einleitung eines Insolvenzverfahrens nach sich zieht. Besondere gravierende Nachteile und Beeinträchtigungen, die die Vollstreckung im Streitfall als unbillig erscheinen lassen würden, hat die Klägerin nicht substantiiert geltend gemacht. Der bloße Hinweis auf die mit jeder Einleitung eines Insolvenzverfahrens drohende Vernichtung von wirtschaftlichen Existenzen und Arbeitsplätzen reicht zur substantiierten Darlegung außergewöhnlicher und damit die Unbilligkeit der Vollstreckungsmaßnahme i.S. von § 258 AO 1977 begründender Umstände nicht aus.

3. Die Revision ist auch nicht deswegen begründet, weil das erstinstanzliche Urteil nicht mit Gründen versehen ist, wie die Klägerin meint. Ein Fehlen von Entscheidungsgründen i.S. von § 119 Nr. 6 FGO liegt dann vor, wenn den Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung auf ihre Richtigkeit und Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Eine nur lückenhafte rechtliche Begründung stellt indes keinen solchen Verfahrensmangel dar (vgl. BFH-Entscheidungen vom VII R 15/94, BFH/NV 1995, 241; vom IV R 28/94, BFH/NV 1995, 797, sowie vom I R 74/95, BFHE 181, 410, BStBl II 1997, 132, m.w.N.). Soweit sich die Klägerin darauf beruft, das FG sei in seiner Urteilsbegründung nicht auf den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und auf die Möglichkeit einer erheblichen Verkürzung des Tilgungszeitraumes bei entsprechend positiver Geschäftsentwicklung eingegangen, rügt sie sinngemäß die vermeintliche Unvollständigkeit der Begründung, nicht aber das Fehlen von Urteilsgründen schlechthin.

4. Schließlich hat die Klägerin den von ihr geltend gemachten Verfahrensmangel der unzureichenden Sachaufklärung (§ 76 FGO) nicht ordnungsgemäß dargelegt, wie dies § 120 Abs. 3 Nr. 2b FGO erfordert. Hierzu genügt es nicht, dass die Klägerin die Einschätzung des FG, dass Vollstreckungsschuldner, die nicht in der Lage seien, ihre Rückstände binnen Jahresfrist abzutragen, bei der Fortführung des Geschäftsbetriebs oftmals neue Rückstände aufbauten, als spekulativ bezeichnet und ohne Angabe von konkreten Beweisthemen und etwaigen Beweismitteln ausführt, es hätte eine intensivere Sachverhaltsermittlung durch das FG stattfinden müssen. Dem Vortrag der Klägerin ist nicht zu entnehmen, dass das Urteil auf der vermeintlich rechtsfehlerhaft unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung beruht. Ausführungen hierzu wären jedoch erforderlich gewesen, zumal das FG seine Entscheidung darauf gestützt hat, dass bei einem Tilgungszeitraum von fünf Jahren die Grenze der Kurzfristigkeit überschritten sei und dass das FA keinen Anlass gehabt habe, den Zeitraum von einem Jahr übersteigende Prognosen zu treffen und entsprechende Erwägungen anzustellen.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2005 S. 1743 Nr. 10
HFR 2005 S. 1053 Nr. 11
HFR 2005 S. 935 Nr. 10
PAAAB-58628