Hilfe zum Lebensunterhalt als anrechenbare Bezüge eines volljährigen behinderten Kindes
Leitsatz
Bei der Prüfung, ob ein volljähriges behindertes Kind, das im Haushalt seines Vaters lebt, imstande ist, sich selbst zu unterhalten, gehört die dem Kind gewährte Hilfe zum Lebensunterhalt zu seinen anrechenbaren Bezügen i.S. des § 32 Abs. 4 EStG, es sei denn, der Sozialleistungsträger kann für seine Leistungen bei dem Vater Regress nehmen.
Gesetze: EStG (1998) § 3 Nr. 11EStG (1998) § 31 Satz 2EStG (1998) § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 und Satz 2EStG (1998) § 74 Abs. 5FGO § 40 Abs. 2BSHG § 2BSHG § 11BSHG § 16BSHG § 76 Abs. 2
Instanzenzug: (EFG 2002, 991) (Verfahrensverlauf),
Gründe
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist eine Gebietskörperschaft. Sie gewährte dem im Februar 1961 geborenen P, dessen Grad der Erwerbsminderung 80 v.H. betrug und der bei seinem Vater lebte, Sozialhilfe. P erhielt in den Monaten Juni bis September 1998 Hilfe zum Lebensunterhalt von monatlich 1 290,62 DM sowie vierteljährlich eine Bekleidungspauschale in Höhe von 150 DM.
Am beantragte der Vater Kindergeld für seinen Sohn P. Diesen Antrag lehnte der Beklagte und Revisionskläger (Beklagter) mit Bescheid vom ab. Die Klägerin legte gegen diesen Bescheid Einspruch ein und meldete Erstattungsansprüche an. Sie erhob gegen die Einspruchsentscheidung vom Klage mit dem Begehren, Kindergeld für die Zeit von Juni bis September 1998 in Höhe von insgesamt 880 DM zu bewilligen.
Mit einem an den Beklagten gerichteten Bescheid vom leitete die Klägerin die Kindergeldansprüche des während des Klageverfahrens am ... September 1998 verstorbenen Vaters auf sich über.
Das Finanzgericht (FG) entschied, die Klage sei zulässig und begründet. Die Klägerin sei als Antragsberechtigte auch klagebefugt. Die Ablehnung des Kindergeldantrags sei rechtswidrig. Gemäß § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sei der Vater grundsätzlich kindergeldberechtigt gewesen. Die von der Klägerin gezahlte Sozialhilfe führe nicht dazu, dass der Kindergeldanspruch entfallen sei. Hilfe zum Lebensunterhalt stelle nach der Systematik des EStG keinen anrechenbaren „Bezug„ dar, was sich aus der Aufzählung der steuerlich zu berücksichtigenden Sozialleistungen in § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a bis i EStG ergebe. Die Hilfe zum Lebensunterhalt sei in dieser Aufzählung nicht enthalten. Außerdem sei sie gegenüber den anderen staatlichen Leistungen, auch gegenüber dem Kindergeld, nachrangig (§ 2 des Bundesozialhilfegesetzes —BSHG—). Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2002, 991 veröffentlicht.
Der Beklagte rügt mit seiner Revision eine fehlerhafte Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG.
Er beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision des Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass dem inzwischen verstorbenen Vater des P für die Monate Juni bis September 1998 ein Anspruch auf Kindergeld zugestanden habe.
1. Zwischen den Beteiligten besteht zu Recht kein Streit darüber, dass die Klage zulässig ist. Denn die Klägerin ist unstreitig gemäß § 67 Abs. 1 Satz 2 EStG antragsbefugt und daher auch gemäß § 40 Abs. 2 FGO klagebefugt (vgl. Entscheidungen des Bundesfinanzhofs —BFH— vom VI R 181/97, BFHE 185, 440; vom VI R 169/97, BFH/NV 2001, 1443; vom VI R 181/97, BFHE 194, 368, BStBl II 2001, 443).
2. Da P im streitigen Zeitraum über 27 Jahre alt und unstreitig keiner der Verlängerungstatbestände des § 32 Abs. 5 EStG erfüllt war, kommt als Grundlage für einen Anspruch des Vaters auf Kindergeld allein § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG in Betracht. Nach der letztgenannten Vorschrift wird ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, berücksichtigt, wenn es „wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten„.
a) Nach der Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Dies ist der Fall, wenn die Behinderung einer Erwerbstätigkeit entgegensteht und das Kind über keine anderen Einkünfte und Bezüge verfügt (Urteile vom III R 13/94, BFHE 181, 128, BStBl II 1997, 173; vom VI R 183/97, BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, und VI R 40/98, BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75).
Der Begriff der „Bezüge„ wird in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG verwendet, ohne im Gesetz näher definiert zu werden. Der BFH hat darunter solche Einnahmen verstanden, die nicht im Rahmen der einkommensteuerlichen Einkunftsermittlung erfasst werden, also nicht steuerbare Einnahmen oder im Einzelnen für steuerfrei erklärte Einnahmen (vgl. z.B. , BFHE 192, 485, BStBl II 2000, 684, m.w.N.; vom VIII R 57/00, BFHE 199, 194, BStBl II 2002, 746; vom VIII R 82/01, BFH/NV 2002, 1590). Demgemäß steht abweichend von der Auffassung der Vorinstanz der Qualifizierung einer Sozialleistung als Bezug i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht entgegen, dass sie nicht in § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a bis i EStG aufgeführt ist und nicht dem Progressionsvorbehalt unterliegt.
b) Im Streitfall ist dem P Hilfe zum Lebensunterhalt gemäß §§ 11 ff. BSHG gewährt worden. Sie ist gemäß § 3 Nr. 11 EStG steuerfrei und somit grundsätzlich den eigenen Bezügen des Kindes zuzuordnen (vgl. dazu auch BFH-Urteile in BFHE 181, 128, BStBl II 1997, 173, m.w.N.; vom VI R 52/98, BFHE 193, 453, BStBl II 2001, 489, unter 2.a der Gründe).
Ausnahmsweise muss unter Berücksichtigung des Zwecks des Kindergeldes etwas anderes aber dann gelten, wenn die Eltern des Kindes von dem Sozialleistungsträger in Regress genommen werden. Denn das Kindergeld dient gemäß § 31 Satz 2 EStG der steuerlichen Entlastung der Eltern oder ggf. der Förderung der Familie. Diesem Zweck würde es offensichtlich zuwiderlaufen, wenn bei den Bezügen eines Kindes dessen Rechtsanspruch gegen seine Eltern auf Zahlung von Unterhalt erfasst würde. Folgerichtig dürfen dann aber auch solche Leistungen Dritter nicht als Bezüge des Kindes angesehen werden, die zu einer Belastung der Eltern führen, weil der Dritte aufgrund seiner Leistungen an das Kind einen Regressanspruch gegen die Eltern hat (vgl. auch BFH-Urteil in BFHE 181, 128, BStBl II 1997, 173; ebenso 63.4.2.3 Abs. 2 Nr. 8 Sätze 1 und 2 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes —DA-FamEStG—, Stand Januar 2002, BStBl I 2002, 366, 369, 405).
Im Streitfall hat die Klägerin wegen der geringen Höhe der Einkünfte des Vaters des P ab Juni 1998 keinen Regress genommen.
c) Entgegen der Auffassung der Klägerin steht der Qualifizierung solcher Sozialleistungen, für die kein Regress bei den Eltern genommen wird, als Einkommen oder Bezug des volljährigen Kindes nicht die durch das Gesetz zur Familienförderung (FamFöG) vom (BGBl I 1999, 2552) mit Wirkung zum neu eingefügte Nr. 5 des § 76 Abs. 2 BSHG entgegen. Danach ist im Rahmen der Ermittlung der Hilfsbedürftigkeit von dem ermittelten Einkommen für minderjährige, unverheiratete Kinder ein Betrag in Höhe von monatlich 20 DM bei einem Kind und von monatlich 40 DM bei zwei oder mehr Kindern in einem Haushalt abzuziehen. Dieser Abzug soll der Förderung der Familien mit minderjährigen Kindern, die Sozialhilfe erhalten, dienen (vgl. dazu BTDrucks 14/2022, S. 33). Er setzt nach zutreffender Auffassung der Klägerin voraus, dass das Kindergeld zuvor bei der Ermittlung des Einkommens i.S. des § 76 Abs. 1 BSHG als Einnahme erfasst worden ist. Es besteht aber gar kein Streit darüber, dass ein bestehender Anspruch auf Kindergeld bei der Ermittlung des Einkommens i.S. der §§ 76 Abs. 1, 77 Abs. 1 BSHG der Eltern zu erfassen ist und dass Eltern für ihre minderjährigen, unverheirateten und in ihrem Haushalt lebenden Kinder ein Kindergeldanspruch auf jeden Fall zusteht, weil bei minderjährigen Kindern der Kindergeldanspruch nicht von der Höhe des eigenen Einkommens und der Bezüge der Kinder abhängig ist (vgl. § 32 Abs. 3 und Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 und Satz 2 EStG). Die Abzugsmöglichkeit nach § 76 Abs. 2 Nr. 5 BSHG lässt jedoch wegen ihrer ausdrücklichen Beschränkung auf minderjährige Kinder keinen Schluss für die Behandlung des Kindergeldes bei volljährigen Kindern zu.
d) Die Auffassung der Klägerin, bei der Prüfung, ob ein volljähriges Kind i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, sei die von einem Sozialleistungsträger gezahlte Hilfe zum Lebensunterhalt generell außer Acht zu lassen, findet weder im EStG noch im BSHG eine gesetzliche Grundlage und lässt sich auch nicht aus der Gesetzessystematik ableiten.
aa) Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 BSHG setzt die Hilfe zum Lebensunterhalt voraus, dass das Kind seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem aus seinem Einkommen und Vermögen, beschaffen kann. Bei der Prüfung der eigenen Mittel bzw. des eigenen Einkommens des volljährigen Kindes i.S. des § 76 Abs. 1 BSHG darf ein Anspruch auf Kindergeld schon deshalb nicht angesetzt werden, weil ein solcher Anspruch nur den Eltern, nicht aber dem Kind zusteht. Zwar dient das durch das Jahressteuergesetz 1996 vom (BGBl I 1995, 1250, BStBl I 1995, 438) im EStG geregelte Kindergeld nicht immer nur der steuerlichen Freistellung des Einkommens der Eltern in Höhe des Existenzminimums eines Kindes, sondern es kann in Fällen, in denen es dafür nicht erforderlich ist, auch der Förderung der Familie dienen (§ 31 Satz 2 EStG). Der Umstand, dass mit dem Kindergeld ggf. auch die Familie gefördert werden soll, ändert jedoch nichts daran, dass anspruchsberechtigt nicht die „Familie„ und damit u.a. auch das Kind ist, sondern dass der Anspruch auf Kindergeld ausschließlich den Eltern und Pflegeeltern (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und 2 EStG) oder bei Aufnahme des Kindes in den eigenen Haushalt einem Stiefelternteil (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG) oder den Großeltern zusteht. Soweit nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 2 EStG das Kindergeld an das Kind selbst „ausgezahlt„ werden kann und bei tatsächlicher Auszahlung dann auch zu dem Einkommen des Kindes i.S. des § 76 Abs. 1 BSHG gehört, setzt diese Auszahlung einen Anspruch eines der vorgenannten Berechtigten auf Kindergeld voraus. Dementsprechend hat auch die Klägerin Kindergeld nicht mehr für die Zeit nach dem Ableben des Vaters des P beantragt.
bb) Ein bestehender Anspruch der Eltern auf Kindergeld kann sich allerdings mittelbar auf die dem Kind zu gewährende Hilfe zum Lebensunterhalt auswirken. Denn bei der Prüfung, ob und ggf. in welcher Höhe einem volljährigen Kind, das im Haushalt der Eltern lebt, Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren ist, ist § 16 BSHG zu berücksichtigen. Danach wird dann, wenn ein Hilfesuchender in Haushaltsgemeinschaft mit Verwandten oder Verschwägerten lebt, vermutet, dass er von ihnen Leistungen zum Lebensunterhalt erhält, soweit dies nach ihrem Einkommen und Vermögen erwartet werden kann; soweit der Hilfesuchende von den in Satz 1 genannten Personen Leistungen zum Lebensunterhalt tatsächlich nicht erhält, ist ihm Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren.
Der Sozialleistungsträger kann deshalb bei der Bemessung der Höhe der Hilfe zum Lebensunterhalt seine Leistungen insoweit kürzen, als die Zuwendungsvermutung des § 16 Satz 1 BSHG im Einzelfall nicht widerlegt ist. Diese Vermutung ist z.B. dann widerlegt, wenn aufgrund des Einkommens des nicht hilfsbedürftigen Teils einer Haushaltsgemeinschaft nicht erwartet werden kann, dass er den hilfsbedürftigen Angehörigen der Haushaltsgemeinschaft unterhält (vgl. Oestreicher/Schelter/Kunz, Bundessozialhilfegesetz, Kommentar, § 16 Rz. 8). Da der Anspruch des Kindes auf Hilfe zum Lebensunterhalt davon abhängt, ob und ggf. in welcher Höhe das Einkommen der Eltern für Unterhaltsleistungen an das Kind ausreicht und da die Höhe des Einkommens der Eltern u.a. auch vom Bestehen eines Anspruchs auf Kindergeld bestimmt wird, besteht zwischen dem Anspruch der Eltern auf Kindergeld und dem Sozialhilfeanspruch eines volljährigen Kindes, das mit seinen Eltern in Haushaltsgemeinschaft lebt, eine Wechselwirkung. Dieser Wechselwirkung ist unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Nachrangigkeit der Sozialhilfe in der Weise Rechnung zu tragen, dass der Sozialleistungsträger bei der Bedürftigkeitsprüfung zunächst in einem ersten Schritt zu unterstellen hat, dass den Eltern ein Anspruch auf Kindergeld zusteht. Die Prüfung kann dann zu folgenden Ergebnissen führen:
(1) Bleibt das Einkommen der Eltern selbst bei Einbeziehung eines als bestehend unterstellten Kindergeldanspruchs so gering, dass die Zuwendungsvermutung des § 16 Satz 1 BSHG widerlegt ist, hat das Kind einen Rechtsanspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt in ungekürzter Höhe. Ist es aufgrund dieser Hilfe imstande, sich selbst zu unterhalten (vgl. zur Berechnung unten unter 3. der Gründe), besteht kein Kindergeldanspruch der Eltern gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG.
(2) Erreicht das Einkommen der Eltern bei Hinzurechnung eines als bestehend unterstellten Kindergeldanspruchs eine Höhe, die es aufgrund der Zuwendungsvermutung des § 16 BSHG rechtfertigen würde, die Hilfe zum Lebensunterhalt zu kürzen, dann ergeben sich folgende Alternativen:
- Reicht die gekürzte Hilfe zum Lebensunterhalt zum Selbstunterhalt nicht aus (vgl. zu der Berechnung unten unter 3.), ist der Tatbestand des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG erfüllt und Kindergeld zu gewähren. Der Sozialleistungsträger darf deshalb bei der Prüfung der Zuwendungsvermutung bei den Mitteln der Eltern endgültig einen Kindergeldanspruch ansetzen.
- Wäre das Kind auch mit der gekürzten Leistung des Sozialleistungsträgers noch imstande, sich —gemessen am Grundfreibetrag und am Behinderten-Pauschbetrag (vgl. zu der Berechnung unten unter 3.)— selbst zu unterhalten, wird zu überlegen sein, ob in diesen Fällen der zutreffende Maßstab für die Fähigkeit zum Selbstunterhalt die im konkreten Fall maßgeblichen Sozialhilfesätze sind. Diese Frage bedarf im Streitfall aber keiner abschließenden Entscheidung.
Mit dem jeweils unterstellten Kindergeldanspruch der Eltern wird berücksichtigt, dass nach § 2 Abs. 1 BSHG Sozialhilfe nicht erhält, wer sich selbst helfen kann oder wer die erforderliche Hilfe von anderen, insbesondere von Angehörigen oder Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Denn das im Haushalt der Eltern lebende volljährige Kind bezieht in dem Umfang keine Hilfe zum Lebensunterhalt, wie die Eltern unter Berücksichtigung des Kindergeldanspruchs Unterhaltsleistungen erbringen können.
cc) Zwar wird in Literatur und Rechtsprechung die Ansicht vertreten, der Grundsatz der Nachrangigkeit gebiete es, die Gewährung von Sozialhilfe bei der Prüfung, ob ein Anspruch auf Kindergeld besteht, nicht als anspruchsschädlich anzusehen (vgl. Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Fach A, I. Kommentierung, § 32 EStG Rz. 105; Blümich/Heuermann, Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, Kommentar, § 32 EStG Rz. 117; , EFG 1998, 1209; 4 96 156 K 1, EFG 1997, 766). Dabei wird jedoch übersehen, dass ein Konkurrenzverhältnis zwischen zwei Ansprüchen (hier: „Hilfe zum Lebensunterhalt„ und „Kindergeld, soweit es der Förderung der Familie dient„), welches zu seiner Auflösung einer Rangregelung bedarf, nur besteht, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen der jeweiligen Anspruchsnorm erfüllt sind. Ist der Tatbestand einer Norm, aus der sich ein Anspruch der Eltern auf Kindergeld für ihr volljähriges Kind ergibt, nicht verwirklicht, stellt sich die Frage nach dem Rangverhältnis dieses Anspruchs der Eltern zu dem Anspruch des volljährigen Kindes auf Sozialhilfe nicht. Davon ist der Senat auch in seinem Urteil vom VIII R 88/01 (BFH/NV 2002, 1156) ausgegangen, in dem er zwar die Sozialhilfe gegenüber einem (bestehenden) Kindergeldanspruch als nachrangige Leistung bezeichnet, aber im konkreten Fall einen Erstattungsanspruch gemäß § 104 Abs. 1 und 2 des Zehntes Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) verneint hat, weil eine bestandskräftige Entscheidung vorlag, dass dem Vater für den streitigen Zeitraum kein Anspruch auf Kindergeld zugestanden habe.
Entgegen einer in der Rechtsprechung der FG vertretenen Ansicht (vgl. FG des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 2 K 56/99, EFG 2000, 324; FG Bremen, Urteil in EFG 1997, 766; FG des Landes Brandenburg, Urteil vom 5 K 1827/97 Kg, EFG 1998, 887) ergibt sich auch nicht aus § 74 Abs. 5 EStG a.F. (§ 74 Abs. 2 EStG n.F.), der auf die §§ 102 ff. SGB X verweist, dass die Hilfe zum Lebensunterhalt nicht als Bezug des Kindes zu berücksichtigen ist. Diese Vorschrift wird nicht bedeutungslos, wenn bei der Prüfung, ob das behinderte Kind imstande ist, sich selbst zu unterhalten, die Leistungen des Sozialleistungsträgers berücksichtigt werden. Für minderjährige behinderte Kinder besteht nämlich gemäß § 32 Abs. 3 EStG der Anspruch auf Kindergeld —anders als für volljährige Kinder gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG— unabhängig davon, ob sie über ausreichende eigene Einkünfte oder Bezüge zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts verfügen. Deshalb bleibt für § 74 Abs. 5 EStG a.F. bzw. § 74 Abs. 2 EStG n.F. weiterhin ein Anwendungsbereich bestehen.
Im Einklang mit den vorstehenden Grundsätzen hat der VI. Senat des BFH in seinem Urteil in BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75, das ein im Rahmen der Eingliederungshilfe vollstationär untergebrachtes Kindes betrifft, ohne weiteres angenommen, dass die Leistungen des Sozialleistungsträgers als Mittel oder „Bezüge„ des Kindes in die Prüfung der Fähigkeit zum Selbstunterhalt einzubeziehen sind (vgl. auch Urteil in BFHE 194, 368, BStBl 2001, 443). Er hat lediglich den Umfang der zu erfassenden Sozialleistungen in Abhängigkeit von dem jeweiligen Prüfungsmuster unterschiedlich bestimmt.
3. Im Streitfall hat P bei Anwendung der vorstehenden Grundsätze in den streitigen Monaten Juni bis September 1998 über ausreichende eigene Mittel verfügt, um sich selbst zu unterhalten.
Die Fähigkeit des behinderten Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich des gesamten Lebensbedarfs einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits, zu prüfen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72; in BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75). Wie der VI. Senat des BFH in seinem Urteil in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72 ausgeführt hat, setzt sich der gesamte existenzielle Lebensbedarf eines behinderten Kindes typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen.
a) Im Streitfall war P zum Selbstunterhalt unabhängig davon in der Lage, ob man den Grundbedarf im Jahr 1998 nach dem Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in Höhe von 12 360 DM (vgl. BFH-Urteil in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, unter 3.a der Gründe) oder nach dem geringfügig höheren Grundfreibetrag von 12 365 DM (§ 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG) bemisst. Denn da die Klägerin den behinderungsbedingten Mehraufwand des P nicht belegt hat, ist insoweit nur der Pauschbetrag nach § 33b EStG anzusetzen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, unter 2.a der Gründe). Im Jahr 1998 betrug der Pauschbetrag gemäß § 33b Abs. 3 Satz 2 EStG bei einer Behinderung von 80 v.H. 2 070 DM. Addiert man diesen Betrag zu dem Grundfreibetrag von 12 365 DM, ergibt sich ein Gesamtbedarf des P im Jahr 1998 von 14 435 DM, was einem monatlichen Bedarf von 1 202,92 DM entspricht.
b) Diesem Bedarf standen Einnahmen des P in Höhe der monatlichen Leistungen der Klägerin von 1 290,62 DM zuzüglich der Kleiderpauschale von —auf den Monat umgerechnet— 50 DM, also von insgesamt 1 340,62 DM gegenüber. Dieser Betrag wäre zwar zu kürzen, wenn die Klägerin beim Vater des P Regress hätte nehmen dürfen und genommen hätte. Es ist jedoch unstreitig, dass der Vater für die hier streitigen Monate Juni bis September 1998 von der Klägerin nicht in Regress genommen werden konnte.
Selbst wenn man von dem danach anzusetzenden Betrag von 1 340,62 DM eine von der Verwaltung zugebilligte Kostenpauschale von jährlich 360 DM (vgl. DA-FamEStG 63.4.2.3 Abs. 4, BStBl I 2002, 366, 369, 406), also von monatlich 30 DM abzieht, übersteigen die eigenen Mittel des P den errechneten Bedarf von 1 202,92 DM.
4. Die Vorentscheidung ist von anderen Voraussetzungen ausgegangen und deshalb aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Da P imstande war, sich in den streitigen Monaten selbst zu unterhalten, stand dem Vater kein Anspruch auf Kindergeld gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu. Die Klage war daher abzuweisen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BB 2004 S. 817 Nr. 15
BFH/NV 2004 S. 699 Nr. 5
DStRE 2004 S. 506 Nr. 9
FR 2004 S. 779 Nr. 13
INF 2004 S. 365 Nr. 10
KÖSDI 2004 S. 14172 Nr. 5
StB 2004 S. 162 Nr. 5
UAAAB-17869