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EuGH Urteil v. - C-639/24

Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 138 Abs. 1 – Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 – Art. 45a – Voraussetzungen für die Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen von Gegenständen – Vermutung – Erforderliche Nachweise

Leitsatz

Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie (EU) 2018/1910 des Rates vom geänderten Fassung und Art. 45a der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Durchführungsverordnung (EU) 2018/1912 des Rates vom geänderten Fassung

sind dahin auszulegen, dass

sie zum einen dem entgegenstehen, dass eine Mehrwertsteuerbefreiung nach Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2018/1910 geänderten Fassung allein deshalb versagt wird, weil die in Art. 45a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 in der durch die Durchführungsverordnung 2018/1912 geänderten Fassung vorgesehenen Nachweise für das Vorliegen einer innergemeinschaftlichen Lieferung nicht vorgelegt wurden, und zum anderen die nationalen Steuerbehörden verpflichten, alle Nachweise zu würdigen, die vorgelegt wurden, um außerhalb des Anwendungsbereichs der Vermutung nach Art. 45a Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 in der durch die Durchführungsverordnung 2018/1912 geänderten Fassung darzulegen, dass Gegenstände von einem Mitgliedstaat an einen Bestimmungsort außerhalb seines Gebiets, jedoch innerhalb der Union versandt oder befördert wurden.

Gesetze: RL 2006/112/EG Art. 138 Abs. 1, DVO (EU) Nr. 282/2011 Art. 45a

Gründe

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie (EU) 2018/1910 des Rates vom (ABl. 2018, L 311, S. 3) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) und von Art. 45a der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2011, L 77, S. 1) in der durch die Durchführungsverordnung (EU) 2018/1912 des Rates vom (ABl. 2018, L 311, S. 10) geänderten Fassung (im Folgenden: Durchführungsverordnung Nr. 282/2011).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der FLO VENEER d.o.o. und dem Ministarstvo financija Republike Hrvatske, Samostalni sektor za drugostupanjski upravni postupak (Finanzministerium der Republik Kroatien, Selbständige Abteilung für Verwaltungsverfahren zweiter Instanz) über die Mehrwertsteuerbefreiung bei innergemeinschaftlichen Lieferungen von Gegenständen.

Rechtlicher Rahmen

Mehrwertsteuerrichtlinie

3 In Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:

„Die Mitgliedstaaten befreien die Lieferung von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder auf deren Rechnung an einen Ort außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der [Europäischen] Gemeinschaft versandt oder befördert werden, von der Steuer, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:

a)

die Gegenstände werden an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person geliefert, die als solche in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat handeln, in dem die Versendung oder Beförderung beginnt;

b)

der Steuerpflichtige oder die nichtsteuerpflichtige juristische Person, für den bzw. die die Lieferung erfolgt, ist für Mehrwertsteuerzwecke in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat registriert, in dem die Versendung oder Beförderung der Gegenstände beginnt, und hat dem Lieferer diese Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer mitgeteilt.“

Durchführungsverordnung Nr. 282/2011

4 Art. 45a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 sieht vor:

„(1)  Für die Zwecke der Anwendung der Befreiungen gemäß Artikel 138 der Richtlinie 2006/112/EG wird vermutet, dass Gegenstände von einem Mitgliedstaat an einen Bestimmungsort außerhalb seines Gebiets, jedoch innerhalb der [Europäischen] Gemeinschaft versandt oder befördert wurden, wenn einer der folgenden Fälle eintritt:

a)

Der Verkäufer gibt an, dass die Gegenstände von ihm oder auf seine Rechnung von einem Dritten versandt oder befördert wurden, und entweder ist der Verkäufer im Besitz von mindestens zwei einander nicht widersprechenden Nachweisen nach Absatz 3 Buchstabe a, die von zwei verschiedenen Parteien ausgestellt wurden, die voneinander, vom Verkäufer und vom Erwerber unabhängig sind, oder der Verkäufer ist im Besitz eines Schriftstücks nach Absatz 3 Buchstabe a und einem nicht widersprechenden Nachweis nach Absatz 3 Buchstabe b, mit dem der Versand oder die Beförderung bestätigt wird, welche von zwei verschiedenen Parteien ausgestellt wurden, die voneinander, vom Verkäufer und vom Erwerber unabhängig sind.

b)

Der Verkäufer ist im Besitz folgender Unterlagen:

i)

einer schriftlichen Erklärung des Erwerbers, aus der hervorgeht, dass die Gegenstände vom Erwerber oder auf Rechnung des Erwerbers von einem Dritten versandt oder befördert wurden, und in der der Bestimmungsmitgliedstaat der Gegenstände angegeben ist; in dieser schriftlichen Erklärung muss Folgendes angegeben sein: das Ausstellungsdatum; Name und Anschrift des Erwerbers; Menge und Art der Gegenstände; Ankunftsdatum und ‑ort der Gegenstände; bei Lieferung von Fahrzeugen die Identifikationsnummer des Fahrzeugs; die Identifikation der Person, die die Gegenstände auf Rechnung des Erwerbers entgegennimmt; und

ii)

mindestens zwei einander nicht widersprechender Nachweise nach Absatz 3 Buchstabe a, die von zwei voneinander unabhängigen Parteien – vom Verkäufer und vom Erwerber – ausgestellt wurden, oder eines Schriftstücks nach Absatz 3 Buchstabe a zusammen mit einem nicht widersprechenden Nachweis nach Absatz 3 Buchstabe b, mit dem der Versand oder die Beförderung bestätigt wird, welche von zwei verschiedenen Parteien ausgestellt wurden, die voneinander, vom Verkäufer und vom Erwerber unabhängig sind.

(2)  Eine Steuerbehörde kann Vermutungen gemäß Absatz 1 widerlegen.

(3)  Für die Zwecke von Absatz 1 wird Folgendes als Nachweis des Versands oder der Beförderung akzeptiert:

a)

Unterlagen zum Versand oder zur Beförderung der Gegenstände wie beispielsweise ein unterzeichneter CMR-Frachtbrief, ein Konnossement, eine Luftfracht-Rechnung oder eine Rechnung des Beförderers der Gegenstände;

b)

die folgenden Dokumente:

i)

eine Versicherungspolice für den Versand oder die Beförderung der Gegenstände oder Bankunterlagen, die die Bezahlung des Versands oder der Beförderung der Gegenstände belegen;

ii)

von einer öffentlichen Stelle wie z.B. einem Notar ausgestellte offizielle Unterlagen, die die Ankunft der Gegenstände im Bestimmungsmitgliedstaat bestätigen;

iii)

eine Quittung, ausgestellt von einem Lagerinhaber im Bestimmungsmitgliedstaat, durch die die Lagerung der Gegenstände in diesem Mitgliedstaat bestätigt wird.“

Durchführungsverordnung 2018/1912

5 In den Erwägungsgründen 2 bis 5 der Durchführungsverordnung 2018/1912 heißt es:

„(2)

In der Richtlinie 2006/112/EG ist eine Reihe von Voraussetzungen für die Mehrwertsteuerbefreiung von Lieferungen von Gegenständen im Zusammenhang mit bestimmten innergemeinschaftlichen Umsätzen festgelegt. Eine dieser Voraussetzungen ist die Versendung oder Beförderung der Gegenstände von einem Mitgliedstaat in einen anderen.

(3)

Durch die unterschiedlichen Ansätze der Mitgliedstaaten bei der Anwendung dieser Befreiung für innergemeinschaftliche Umsätze sind Schwierigkeiten und Rechtsunsicherheit für die Unternehmen entstanden. Das widerspricht dem Ziel der Förderung des gemeinschaftsinternen Handels und der Beseitigung der Steuergrenzen. Es ist daher wichtig, die Bedingungen für die Anwendung dieser Befreiungen zu klären und zu harmonisieren.

(4)

Da der grenzüberschreitende Mehrwertsteuerbetrug in erster Linie im Zusammenhang mit der Befreiung bei innergemeinschaftlichen Lieferungen steht, ist es notwendig, gewisse Bedingungen, unter denen Gegenstände als vom Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats der Lieferung versandt oder befördert gelten, ausdrücklich zu nennen.

(5)

Um eine praktische Lösung für die Unternehmen und gleichzeitig Sicherheit für die Steuerverwaltungen zu schaffen, sollten in der Durchführungsverordnung [Nr. 282/2011] zwei widerlegbare Vermutungen eingeführt werden.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

6 FLO VENEER ist eine Handelsgesellschaft mit Sitz in Kroatien, die Eichenstämme verkauft. Bei dieser Gesellschaft wurde eine Steuerprüfung durchgeführt, bei der festgestellt wurde, dass sie Rechnungen über die Lieferung von Eichenstämmen an einen Erwerber in Slowenien für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum ausgestellt hatte.

7 Im Rahmen dieser Steuerprüfung legte FLO VENEER schriftliche Erklärungen des Erwerbers gemäß Art. 45a Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 sowie Rechnungen, Versandscheine und CMR-Frachtbriefe vor. Letztere sind im Übereinkommen über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr vorgesehen, das am in Genf unterzeichnet und durch das am in Genf unterzeichnete Protokoll geändert wurde.

8 Am erließ das Ministarstvo financija, Porezna uprava, Područni ured Sisak (Finanzministerium, Steuerverwaltung, Gebietsdirektion Sisak, Kroatien) einen Mehrwertsteuerbescheid, in dem es feststellte, dass FLO VENEER rechtswidrig eine Mehrwertsteuerbefreiung der in Rede stehenden Lieferungen von Gegenständen in Anspruch genommen habe. Nach der Begründung dieses Steuerbescheids stellte das Ministerium nicht in Abrede, dass diese Gegenstände tatsächlich von Kroatien nach Slowenien befördert worden waren. Es war jedoch der Ansicht, dass die von FLO VENEER vorgelegten Nachweise nicht belegten, dass die Voraussetzungen für die Mehrwertsteuerbefreiung nach Art. 45a Abs. 1 Buchst. b der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 erfüllt seien. Mit Entscheidung des Finanzministeriums vom wurde der Einspruch von FLO VENEER gegen den Steuerbescheid abgelehnt.

9 FLO VENEER erhob Klage beim Upravni sud u Zagrebu (Verwaltungsgericht Zagreb, Kroatien), dem vorlegenden Gericht. Sie trägt vor, dass Art. 45a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 durch die detaillierten Angaben zu Unterlagen über Lieferungen, die als innergemeinschaftliche Lieferungen von der Steuer befreit seien, es den Steuerpflichtigen erleichtere, die Erfüllung der Voraussetzungen für die Steuerbefreiung einer Lieferung von Gegenständen, die von einem Mitgliedstaat an einen Bestimmungsort außerhalb seines Gebiets, jedoch innerhalb der Union versandt oder befördert worden seien, nachzuweisen. Nach dieser Bestimmung werde davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen für die Befreiung erfüllt seien, wenn die Steuerbehörden diese Vermutung nicht erfolgreich widerlegen könnten. Wenn der Steuerpflichtige jedoch nicht im Besitz der in Art. 45a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 genannten Unterlagen sei, müsse er im Einzelfall nachweisen, dass alle Voraussetzungen für die Befreiung erfüllt seien.

10 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Gerichtshof im Urteil vom , Euro Tyre (C‑21/16, EU:C:2017:106, Rn. 36, 38, 39 und 42), entschieden hat, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität erfordert, dass die Mehrwertsteuerbefreiung gewährt wird, wenn diese materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat.

11 In diesem Zusammenhang hat es Zweifel, ob die in Art. 138 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Steuerbefreiung auch dann Anwendung finden kann, wenn die Voraussetzungen für die Vermutung nach Art. 45a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 nicht erfüllt sind. Außerdem fragt es sich, ob es in einem solchen Fall der Steuerbehörde obliegt, sämtliche Nachweise daraufhin zu prüfen, ob sie ein geeigneter Beleg für das Vorliegen einer innergemeinschaftlichen Lieferung sind.

12 Unter diesen Umständen hat der Upravni sud u Zagrebu (Verwaltungsgericht Zagreb) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der die Befreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen von der Mehrwertsteuer betrifft, und Art. 45a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011, der sich auf den Nachweis des Versands oder der Beförderung von einem Mitgliedstaat an einen Bestimmungsort außerhalb seines Gebiets, jedoch innerhalb der Gemeinschaft bezieht, dahin auszulegen, dass die Mehrwertsteuerbefreiung dem Lieferer zu versagen ist, wenn er nicht nachgewiesen hat, dass die Voraussetzungen von Art. 45a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 erfüllt sind, oder ist die Steuerbehörde, auch wenn der Lieferer nicht über ausreichende Nachweise für die Annahme der Vermutung nach Art. 45a dieser Durchführungsverordnung, aber immerhin über Nachweise für die physische Verbringung des Gegenstands aus einem Mitgliedstaat in einen anderen verfügt, verpflichtet, die vorgelegten Nachweise zu bewerten und die Tatsache festzustellen, die für die Steuerbefreiung nach Art. 138 der Mehrwertsteuerrichtlinie wesentlich ist: nämlich ob der Gegenstand von einem Mitgliedstaat an einen Bestimmungsort außerhalb seines Gebiets, jedoch innerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert wurde?

Zur Vorlagefrage

13 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 45a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 dahin auszulegen sind, dass sie zum einen dem entgegenstehen, dass eine Mehrwertsteuerbefreiung nach Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie allein deshalb versagt wird, weil die in Art. 45a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 vorgesehenen Nachweise für das Vorliegen einer innergemeinschaftlichen Lieferung nicht vorgelegt wurden, und zum anderen dem entgegenstehen, dass es die nationalen Steuerbehörden ablehnen, alle Nachweise zu würdigen, die vorgelegt wurden, um außerhalb des Anwendungsbereichs der Vermutung nach Art. 45a Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 darzulegen, dass Gegenstände von einem Mitgliedstaat an einen Bestimmungsort außerhalb seines Gebiets, jedoch innerhalb der Union versandt oder befördert wurden.

14 Nach Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie befreien die Mitgliedstaaten die Lieferung von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder auf deren Rechnung an einen Ort außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der Union versandt oder befördert werden, von der Steuer, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Zum einen müssen diese Gegenstände an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person geliefert werden, die als solche in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat handeln, in dem die Versendung oder Beförderung beginnt. Zum anderen muss der Steuerpflichtige oder die nichtsteuerpflichtige juristische Person, für den bzw. die die Lieferung erfolgt, für Mehrwertsteuerzwecke in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat registriert sein, in dem die Versendung oder Beförderung der Gegenstände beginnt, und dem Lieferer seine Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer mitgeteilt haben.

15 Art. 45a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 enthält für die Anwendung der in Art. 138 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen Vorschriften über die innergemeinschaftliche Lieferung von Gegenständen. Insbesondere sieht Art. 45a dieser Durchführungsverordnung im Wesentlichen vor, dass in den in Abs. 1 Buchst. a oder b beschriebenen Fällen vermutet wird, dass Gegenstände von einem Mitgliedstaat an einen Bestimmungsort außerhalb seines Gebiets, jedoch innerhalb der Union versandt oder befördert wurden. Dafür muss der Verkäufer dieser Gegenstände im Wesentlichen im Besitz von Unterlagen sein, die den in diesen Bestimmungen genannten besonderen Anforderungen genügen. Nach Art. 45a Abs. 2 dieser Durchführungsverordnung kann eine Steuerbehörde diese Vermutung jedoch widerlegen.

16 Die wörtliche Auslegung von Art. 45a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 ergibt, dass er die Fälle aufzählt, in denen für die Zwecke der in Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Mehrwertsteuerbefreiung die Vermutung gilt, dass Gegenstände von einem Mitgliedstaat an einen Bestimmungsort außerhalb seines Gebiets, jedoch innerhalb der Union versandt oder befördert wurden. Aus dem Wortlaut von Art. 45a der Durchführungsverordnung geht hervor, dass dieser Artikel die Fälle vorsieht, in denen eine Vermutung gilt, aber nicht abschließend die Nachweise aufzählt, die für die Feststellung des Vorliegens einer innergemeinschaftlichen Lieferung erforderlich sind. Wenn die Voraussetzungen für die Anwendung der Vermutung nicht erfüllt sind, sind die Steuerbehörden folglich verpflichtet, jeden vom Verkäufer der Gegenstände vorgelegten Nachweis zu würdigen und daraufhin zu prüfen, ob er ein geeigneter Beleg für das Vorliegen einer innergemeinschaftlichen Lieferung ist.

17 Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie macht die Gewährung der dort vorgesehenen Steuerbefreiungen ebenfalls nicht davon abhängig, dass der Verkäufer im Besitz spezifischer Nachweise ist.

18 Diese Auslegung wird durch die mit Art. 45a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 und der Mehrwertsteuerrichtlinie verfolgten Ziele bestätigt. Die Erwägungsgründe 3 bis 5 der Durchführungsverordnung 2018/1912, mit der Art. 45a in die Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 eingefügt wurde, bestätigen, dass die in Rede stehende Vermutung im Wesentlichen vorgesehen wurde, um die Beweisführung bei der Anwendung der Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen zu erleichtern, und zwar im Interesse der Unternehmen und Steuerverwaltungen, ohne jedoch die Möglichkeit auszuschließen, andere Nachweise als die von dieser Vermutung erfassten vorzulegen.

19 Die Berücksichtigung anderer als der in Art. 45a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 vorgesehenen Nachweise durch die Steuerbehörden steht den Zielen der Durchführungsverordnung 2018/1912, die in der Förderung des gemeinschaftsinternen Handels und der Verhinderung von Betrug bestehen, nicht entgegen. Könnten sich die Verkäufer der Gegenstände hingegen nicht auf jeden Nachweis stützen, würde denjenigen, die nicht über die in Art. 45a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 genannten Nachweise verfügen, die in Rede stehende Befreiung wegen der Nichteinhaltung einer formellen Anforderung vorenthalten, obwohl die innergemeinschaftliche Lieferung von Gegenständen tatsächlich stattgefunden hat. Damit würde das Ziel der Förderung des gemeinschaftsinternen Handels in Frage gestellt.

20 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verpflichtet Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Mitgliedstaaten, die Lieferungen von Gegenständen, die die in dieser Vorschrift aufgezählten Voraussetzungen erfüllen, von der Steuer zu befreien. Außerdem können nach dieser Rechtsprechung formelle Anforderungen den Anspruch des Verkäufers auf Mehrwertsteuerbefreiung nicht in Frage stellen, sofern die materiellen Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung erfüllt sind. Ebenso erfordert der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dass die Mehrwertsteuerbefreiung gewährt wird, wenn diese materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Euro Tyre, C‑21/16, EU:C:2017:106, Rn. 23, 32, 35 und 36). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es nur zwei Fälle gibt, in denen die Nichteinhaltung einer formellen Anforderung den Verlust des Rechts auf Mehrwertsteuerbefreiung nach sich ziehen kann. Zum einen kann sich ein Steuerpflichtiger, der sich vorsätzlich an einer Steuerhinterziehung beteiligt hat, die das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdet, für die Zwecke der Mehrwertsteuerbefreiung nicht auf den Grundsatz der Steuerneutralität berufen. Zum anderen kann der Verstoß gegen eine formelle Anforderung zur Versagung der Mehrwertsteuerbefreiung führen, wenn er den sicheren Nachweis verhindert, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden (Urteil vom , Euro Tyre, C‑21/16, EU:C:2017:106, Rn. 38, 39 und 42).

21 Aus der Rechtsprechung ergibt sich auch, dass die Steuerbehörden im Hinblick auf die Mehrwertsteuerbefreiung alle in ihrem Besitz befindlichen Nachweise gebührend berücksichtigen müssen, um zu prüfen, ob diese Dokumente gegebenenfalls das wahrscheinliche Vorliegen einer tatsächlichen innergemeinschaftlichen Lieferung untermauern können (Urteil vom , B2 Energy, C‑676/22, EU:C:2024:186, Rn. 36).

22 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 45a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 dahin auszulegen sind, dass sie zum einen dem entgegenstehen, dass eine Mehrwertsteuerbefreiung nach Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie allein deshalb versagt wird, weil die in Art. 45a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 vorgesehenen Nachweise für das Vorliegen einer innergemeinschaftlichen Lieferung nicht vorgelegt wurden, und zum anderen die nationalen Steuerbehörden verpflichten, alle Nachweise zu würdigen, die vorgelegt wurden, um außerhalb des Anwendungsbereichs der Vermutung nach Art. 45a Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 darzulegen, dass Gegenstände von einem Mitgliedstaat an einen Bestimmungsort außerhalb seines Gebiets, jedoch innerhalb der Union versandt oder befördert wurden.

Kosten

23 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie (EU) 2018/1910 des Rates vom geänderten Fassung und Art. 45a der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Durchführungsverordnung (EU) 2018/1912 des Rates vom geänderten Fassung

sind dahin auszulegen, dass

sie zum einen dem entgegenstehen, dass eine Mehrwertsteuerbefreiung nach Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2018/1910 geänderten Fassung allein deshalb versagt wird, weil die in Art. 45a der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 in der durch die Durchführungsverordnung 2018/1912 geänderten Fassung vorgesehenen Nachweise für das Vorliegen einer innergemeinschaftlichen Lieferung nicht vorgelegt wurden, und zum anderen die nationalen Steuerbehörden verpflichten, alle Nachweise zu würdigen, die vorgelegt wurden, um außerhalb des Anwendungsbereichs der Vermutung nach Art. 45a Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 in der durch die Durchführungsverordnung 2018/1912 geänderten Fassung darzulegen, dass Gegenstände von einem Mitgliedstaat an einen Bestimmungsort außerhalb seines Gebiets, jedoch innerhalb der Union versandt oder befördert wurden.

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:888

Fundstelle(n):
KAAAK-04375