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EuGH Urteil v. - C-2/23

Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Art. 101 AEUV – Praktische Wirksamkeit – Richtlinie 2014/104/EU – Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union – Art. 6 Abs. 6 und 7 – Art. 7 Abs. 1 – Richtlinie 2019/1/EU – Bereitstellung von Mitteln zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts – Art. 31 Abs. 3 – Anwendungsbereich – Amts- und Rechtshilfe zwischen nationalen Behörden – Übermittlung der Akten einer Wettbewerbsbehörde an eine strafrechtliche Ermittlungsbehörde – Aufnahme von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen sowie deren Anlagen in die strafrechtlichen Ermittlungsakten – Zugang zu diesen Dokumenten für Beschuldigte und andere Beteiligte in einem solchen Verfahren

Leitsatz

  1. Art. 101 AEUV

    ist dahin gehend auszulegen, dass

    er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der die nationale Wettbewerbsbehörde und das für Kartellsachen zuständige nationale Gericht im Rahmen des in dieser Regelung vorgesehenen Amtshilfemechanismus verpflichtet sind, ihre Akten – einschließlich der Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen in diesen Akten sowie der daraus gewonnenen Informationen – der Staatsanwaltschaft auf deren Ersuchen zu übermitteln, sofern ein solcher Mechanismus die praktische Wirksamkeit dieses Artikels nicht beeinträchtigt.

  2. Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie (EU) 2019/1 des Europäischen Parlaments und Rates vom zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts

    ist dahin gehend auszulegen, dass

    der Schutz, den er Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen gewährt, nicht die Dokumente und Informationen umfasst, die zur Darlegung, zur Konkretisierung und zum Beweis des Inhalts dieser Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen vorgelegt wurden.

  3. Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1 ist im Lichte von Art. 47 Abs. 1 und 2 sowie von Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

    dahin gehend auszulegen, dass

    er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der im Rahmen eines Strafverfahrens, das keine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht zum Gegenstand hat, Beschuldigte, bei denen es sich nicht um die Verfasser der Kronzeugenerklärungen oder Vergleichsausführungen handelt, ein Recht auf Zugang zu den Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen haben, die für die Zwecke eines Verfahrens vor einer nationalen Wettbewerbsbehörde erstellt und den nationalen Strafverfolgungsbehörden übermittelt worden sind; er steht aber einer nationalen Regelung entgegen, nach der sonstige Beteiligte des Strafverfahrens, insbesondere durch den fraglichen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht Geschädigte, die Ersatz des durch diese Zuwiderhandlung verursachten Schadens begehren, ein Recht auf einen solchen Zugang haben.

Gesetze: AEUV Art. 101, AEUV Art. 102, EUGrdRCh Art. 47, EUGrdRCh Art. 48, EUGrdRCh Art. 52, EUV Art. 4, EUV Art. 6, RL 2014/104/EU Art. 1, RL 2014/104/EU Art. 2, RL 2014/104/EU Art. 6, RL 2014/104/EU Art. 7, RL (EU) 2019/1 Art. 1, RL (EU) 2019/1 Art. 2 Abs. 1, RL (EU) 2019/1 Art. 13, RL (EU) 2019/1 Art. 31 Abs. 3, RL (EU) 2019/1 Art. 31 Abs. 4

Gründe

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 6 und 7 sowie von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (ABl. 2014, L 349, S. 1) und von Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie (EU) 2019/1 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts (ABl. 2019, L 11, S. 3).

2 Es ergeht im Rahmen eines Einspruchsverfahrens, das die FL und KM Baugesellschaft m.b.H. & Co. KG und die S AG gegen die Aufnahme der Kronzeugenerklärungen und der Vergleichsausführungen dieser Gesellschaften sowie der Anlagen zu diesen Unterlagen in den Akt eines von der Zentralen Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption (Österreich) (im Folgenden: Staatsanwaltschaft) geführten Ermittlungsverfahrens angestrengt haben.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2014/104

3 Im 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/104 heißt es:

„Kronzeugenprogramme und Vergleichsverfahren sind wichtige Instrumente für die öffentliche Rechtsdurchsetzung des Wettbewerbsrechts der Union, da sie zur Aufdeckung und effizienten Verfolgung und Sanktionierung der schwersten Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht beitragen. Ferner sind Kronzeugenprogramme für die Wirksamkeit von Schadensersatzklagen in Kartellsachen gleichermaßen wichtig, da zahlreiche Beschlüsse der Wettbewerbsbehörden in Kartellsachen auf Anträgen auf Anwendung einer Kronzeugenregelung gründen und Schadensersatzklagen in Kartellsachen in der Regel Folgeklagen dieser Beschlüsse sind. Unternehmen könnten davon abgeschreckt werden, im Rahmen von Kronzeugenprogrammen und Vergleichsverfahren mit Wettbewerbsbehörden zusammenzuarbeiten, wenn Erklärungen, mit denen sie sich selbst belasten, wie Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen, die ausschließlich zum Zwecke dieser Zusammenarbeit mit den Wettbewerbsbehörden erstellt werden, offengelegt würden. Eine solche Offenlegung würde die Gefahr bergen, dass mitwirkende Unternehmen oder ihre Führungskräfte einer zivilrechtlichen Haftung oder strafrechtlichen Verfolgung unter schlechteren Bedingungen ausgesetzt würden als die anderen Rechtsverletzer, die nicht mit den Wettbewerbsbehörden zusammenarbeiten. Um zu gewährleisten, dass Unternehmen dauerhaft bereit sind, freiwillig Kronzeugenerklärungen oder Vergleichsausführungen bei Wettbewerbsbehörden vorzulegen, sollten diese Unterlagen von der Offenlegung ausgenommen werden. Die Ausnahme sollte auch für wörtliche Zitate aus Kronzeugenerklärungen oder Vergleichsausführungen gelten, die in anderen Unterlagen enthalten sind. Die Beschränkungen für die Offenlegung von Beweismitteln sollten die Wettbewerbsbehörden nicht daran hindern, ihre Entscheidungen im Einklang mit den geltenden Vorschriften des Unionsrechts oder des nationalen Rechts zu veröffentlichen. Um zu gewährleisten, dass diese Ausnahme die Rechte der Geschädigten auf Schadensersatz nicht übermäßig beeinträchtigt, sollte sie auf diese freiwilligen und selbstbelastenden Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen beschränkt sein.“

4 Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)  In dieser Richtlinie sind bestimmte Vorschriften festgelegt, die erforderlich sind, um zu gewährleisten, dass jeder, der einen durch eine Zuwiderhandlung eines Unternehmens oder einer Unternehmensvereinigung gegen das Wettbewerbsrecht verursachten Schaden erlitten hat, das Recht, den vollständigen Ersatz dieses Schadens von diesem Unternehmen oder dieser Unternehmensvereinigung zu verlangen, wirksam geltend machen kann. …

(2)  In dieser Richtlinie sind Vorschriften für die Koordinierung der Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften durch die Wettbewerbsbehörden und der Durchsetzung dieser Vorschriften im Wege von Schadensersatzklagen vor nationalen Gerichten festgelegt.“

5 Art. 2 der Richtlinie enthält die folgenden Begriffsbestimmungen:

„…

1.

‚Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht‘ eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 101 oder 102 AEUV oder gegen nationales Wettbewerbsrecht;

3.

‚nationales Wettbewerbsrecht‘ Bestimmungen des nationalen Rechts, mit denen überwiegend das gleiche Ziel verfolgt wird wie mit den Artikeln 101 und 102 AEUV und die nach Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 [des Rates vom zur Durchführung der in den Artikeln (101 und 102 AEUV) niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1)] auf denselben Fall und parallel zum Wettbewerbsrecht der Union angewandt werden, unter Ausschluss nationaler Rechtsvorschriften, mit denen natürlichen Personen strafrechtliche Sanktionen auferlegt werden, sofern solche strafrechtlichen Sanktionen nicht als Mittel dienen, um die für Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln durchzusetzen;

4.

‚Schadensersatzklage‘ eine Klage nach nationalem Recht, mit der ein Schadensersatzanspruch vor einem nationalen Gericht von einem mutmaßlich Geschädigten, von jemandem im Namen eines mutmaßlich Geschädigten oder mehrerer mutmaßlich Geschädigter – sofern diese Möglichkeit im Unionsrecht oder im nationalen Recht vorgesehen ist – oder von einer natürlichen oder juristischen Person, die in die Rechte und Pflichten des mutmaßlich Geschädigten eingetreten ist, einschließlich der Person, die den Anspruch erworben hat, geltend gemacht wird;

15.

‚Kronzeugenprogramm‘ ein Programm für die Anwendung des Artikels 101 AEUV oder einer entsprechenden Bestimmung des nationalen Rechts, in dessen Rahmen ein an einem geheimen Kartell Beteiligter unabhängig von den übrigen Kartellbeteiligten an einer Untersuchung der Wettbewerbsbehörde mitwirkt, indem der Beteiligte freiwillig seine Kenntnis von dem Kartell und seine Beteiligung daran darlegt und ihm dafür im Gegenzug durch Beschluss oder Einstellung des Verfahrens die wegen seiner Beteiligung am Kartell zu verhängende Geldbuße erlassen oder ermäßigt wird;

16.

‚Kronzeugenerklärung‘ eine freiwillige mündliche oder schriftliche Darlegung seitens oder im Namen eines Unternehmens oder einer natürlichen Person gegenüber einer Wettbewerbsbehörde, in der das Unternehmen oder die natürliche Person seine bzw. ihre Kenntnis von einem Kartell und seine bzw. ihre Beteiligung daran darlegt und die eigens zu dem Zweck formuliert wurde, im Rahmen eines Kronzeugenprogramms bei der Wettbewerbsbehörde den Erlass oder eine Ermäßigung der Geldbuße zu erwirken, oder eine Aufzeichnung dieser Darlegung; dies umfasst nicht bereits vorhandene Informationen;

17.

‚bereits vorhandene Informationen‘ Beweismittel, die unabhängig von einem wettbewerbsbehördlichen Verfahren vorliegen, unabhängig davon, ob diese Informationen in den Akten einer Wettbewerbsbehörde enthalten sind oder nicht;

18.

‚Vergleichsausführungen‘ eine freiwillige Darlegung seitens oder im Namen eines Unternehmens gegenüber einer Wettbewerbsbehörde, die ein Anerkenntnis oder seinen Verzicht auf das Bestreiten seiner Beteiligung an einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht und seiner Verantwortung für diese Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht enthält und die eigens zu dem Zweck formuliert wurde, der betreffenden Wettbewerbsbehörde die Anwendung eines vereinfachten oder beschleunigten Verfahrens zu ermöglichen;

…“

6 Art. 6 („Offenlegung von Beweismitteln, die in den Akten einer Wettbewerbsbehörde enthalten sind“) Abs. 6 und 7 der Richtlinie 2014/104 bestimmt:

„(6)  Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die nationalen Gerichte für die Zwecke von Schadensersatzklagen zu keinem Zeitpunkt die Offenlegung der folgenden Beweismittelarten durch eine Partei oder einen Dritten anordnen können:

a)

Kronzeugenerklärungen und

b)

Vergleichsausführungen.

(7)  Ein Kläger kann einen begründeten Antrag stellen, dass ein nationales Gericht die in Absatz 6 Buchstaben a und b genannten Beweismittel nur einsieht, um sich zu überzeugen, dass der Inhalt der Unterlagen den in Artikel 2 Nummern 16 und 18 enthaltenen Begriffsbestimmungen entspricht. Bei dieser Beurteilung können die nationalen Gerichte nur die zuständige Wettbewerbsbehörde um Unterstützung bitten. Die Verfasser der betreffenden Beweismittel können auch Gelegenheit zur Anhörung erhalten. Das Gericht darf auf keinen Fall den anderen Parteien oder Dritten Zugang zu diesen Beweismitteln gewähren.“

7 Art. 7 („Beschränkungen für die Verwendung von allein durch Einsicht in die Akten einer Wettbewerbsbehörde erlangten Beweismitteln“) Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass Beweismittel, die unter eine der in Artikel 6 Absatz 6 aufgeführten Kategorien fallen und von einer natürlichen oder juristischen Person allein durch Einsicht in die Akten einer Wettbewerbsbehörde erlangt wurden, in Verfahren über Schadensersatzklagen als unzulässig angesehen werden oder auf andere Weise nach dem anzuwendenden nationalen Recht geschützt sind, damit sichergestellt ist, dass die Beschränkungen für die Offenlegung von Beweismitteln nach Artikel 6 ihre volle Wirkung entfalten.“

Richtlinie 2019/1

8 Die Erwägungsgründe 11, 50 und 72 der Richtlinie 2019/1 bestimmen:

„(11)

Was die Voraussetzungen für die Gewährung der Kronzeugenbehandlung bei geheimen Kartellen angeht, sind … detaillierte Vorschriften erforderlich. Unternehmen werden nur dann Informationen über geheime Kartelle, an denen sie beteiligt sind oder waren, offenlegen, wenn sie mit hinreichender Rechtssicherheit davon ausgehen können, dass ihnen die Geldbuße erlassen wird. Die großen Unterschiede zwischen den Kronzeugenprogrammen der einzelnen Mitgliedstaaten führen bei Unternehmen, die erwägen, einen Antrag auf Kronzeugenbehandlung zu stellen, zu einer Rechtsunsicherheit. Dies kann sie von der Antragstellung abhalten. Wenn die Mitgliedstaaten im Geltungsbereich dieser Richtlinie klarere und harmonisierte Vorschriften für die Kronzeugenbehandlung anwenden könnten, dann wäre dies nicht nur dem Ziel zuträglich, Anreize für potenzielle Antragsteller zu schaffen, geheime Kartelle aufzudecken, um für eine möglichst wirksame Durchsetzung des Wettbewerbsrechts in der [Europäischen] Union zu sorgen, sondern würde auch einheitliche Wettbewerbsbedingungen für im Binnenmarkt tätige Unternehmen gewährleisten. Es sollte den Mitgliedstaaten freistehen, Kronzeugenprogramme anzuwenden, die nicht nur geheime Kartelle, sondern auch andere Zuwiderhandlungen gegen Artikel 101 AEUV und entsprechende Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts abdecken, oder Anträgen auf Kronzeugenbehandlung von in eigenem Namen handelnden natürlichen Personen stattzugeben. Diese Richtlinie sollte auch nicht die Kronzeugenprogramme berühren, die ausschließlich vor Sanktionen in Strafverfahren zur Durchsetzung von Artikel 101 AEUV schützen.

(50)

Kronzeugenprogramme sind ein wesentliches Instrument zur Aufdeckung geheimer Kartelle und tragen somit zur effizienten Verfolgung und Sanktionierung dieser Zuwiderhandlungen bei, bei denen es sich um die schwersten Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht handelt. Derzeit unterscheiden sich die Kronzeugenprogramme, die in den verschiedenen Mitgliedstaaten Anwendung finden, jedoch deutlich voneinander. Diese Unterschiede führen für die Unternehmen, die Zuwiderhandlungen begehen, zu Rechtsunsicherheit in Bezug auf die Voraussetzungen, unter denen sie nach den verschiedenen Kronzeugenprogrammen einen Antrag auf Kronzeugenbehandlung stellen können, sowie zu Unsicherheit in Bezug auf einen Geldbußenerlass im Rahmen des jeweiligen Kronzeugenprogramms. Diese Unsicherheit wiederum könnte bedeuten, dass die Anreize, einen Antrag zu stellen, an Wirkungskraft einbüßen. Dies wiederum kann die wirksame Durchsetzung des Wettbewerbsrechts in der Union beeinträchtigen, da weniger geheime Kartelle aufgedeckt werden.

(72)

Das Risiko, dass Material, mit dem sich Unternehmen, die einen Antrag auf Kronzeugenbehandlung stellen, selbst belasten, außerhalb der Untersuchung, für die es übermittelt wurde, offengelegt wird, könnte bedeuten, dass die Anreize zur Zusammenarbeit mit den Wettbewerbsbehörden für potenzielle Antragsteller an Wirkungskraft einbüßen. Unabhängig von der Form, in der Kronzeugenerklärungen übermittelt werden, sollten Informationen in den Erklärungen, die durch Akteneinsicht gewonnen wurden, infolgedessen nur verwendet werden, wenn dies für die Ausübung der Verteidigungsrechte in Verfahren vor nationalen Gerichten in bestimmten und sehr begrenzten Rechtssachen, die sich unmittelbar auf den Fall beziehen, für den Akteneinsicht gewährt wurde, erforderlich ist. …“

9 Art. 1 („Gegenstand und Geltungsbereich“) Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)  In dieser Richtlinie sind bestimmte Vorschriften festgelegt, mit denen gewährleistet werden soll, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden über die Garantien im Hinblick auf die Unabhängigkeit, über die Ressourcen und die Befugnisse im Bereich der Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und der Verhängung von Geldbußen verfügen, die sie benötigen, um die Artikel 101 und 102 AEUV wirksam anzuwenden …

(2)  Diese Richtlinie gilt für die Anwendung der Artikel 101 und 102 AEUV sowie die parallele Anwendung von Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts auf denselben Fall. In Bezug auf Artikel 31 Absätze 3 und 4 dieser Richtlinie gilt diese Richtlinie auch für die alleinige Anwendung des nationalen Wettbewerbsrechts.“

10 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie enthält in seinen Nrn. 6, 9 und 16 bis 18 folgende Begriffsbestimmungen:

„6.

‚nationales Wettbewerbsrecht‘ Bestimmungen des nationalen Rechts, mit denen überwiegend dasselbe Ziel verfolgt wird wie mit den Artikeln 101 und 102 AEUV und die nach Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung [Nr. 1/2003] auf denselben Fall und parallel zum Wettbewerbsrecht der Union angewandt werden, sowie Bestimmungen des nationalen Rechts, mit denen überwiegend dasselbe Ziel verfolgt wird wie mit den Artikeln 101 und 102 AEUV und die in Bezug auf Artikel 31 Absätze 3 und 4 dieser Richtlinie alleinig zur Anwendung kommen, unter Ausschluss nationaler Rechtsvorschriften, mit denen natürlichen Personen strafrechtliche Sanktionen auferlegt werden;

9.

‚Durchsetzungsverfahren‘ Verfahren vor einer Wettbewerbsbehörde, in denen Artikel 101 oder 102 AEUV zur Anwendung kommt, bis die jeweilige Wettbewerbsbehörde das Verfahren im Falle einer nationalen Wettbewerbsbehörde durch Erlass einer Entscheidung nach Artikel 10, 12 oder 13 dieser Richtlinie oder im Falle der [Europäischen] Kommission durch Erlass einer Entscheidung nach Artikel 7, 9 oder 10 der Verordnung [Nr. 1/2003] beendet hat oder zu dem Schluss gelangt ist, dass kein Anlass für weitere Maßnahmen ihrerseits besteht;

16.

‚Kronzeugenprogramm‘ ein Programm in Bezug auf die Anwendung des Artikels 101 AEUV oder einer entsprechenden Bestimmung des nationalen Wettbewerbsrechts, in dessen Rahmen ein an einem geheimen Kartell Beteiligter unabhängig von den übrigen Kartellbeteiligten an einer Untersuchung der Wettbewerbsbehörde mitwirkt, indem er freiwillig seine Kenntnis von dem Kartell und seine Beteiligung daran darlegt und ihm dafür im Gegenzug durch Entscheidung oder Beschluss bzw. Verfahrenseinstellung die wegen seiner Beteiligung an dem Kartell zu verhängende Geldbuße erlassen oder ermäßigt wird;

17.

‚Kronzeugenerklärung‘ eine freiwillige mündliche oder schriftliche Darlegung seitens oder im Namen eines Unternehmens oder einer natürlichen Person gegenüber einer Wettbewerbsbehörde, in der das Unternehmen oder die natürliche Person seine bzw. ihre Kenntnis von einem Kartell und seine bzw. ihre Beteiligung daran darlegt und die eigens zu dem Zweck formuliert wurde, im Rahmen eines Kronzeugenprogramms bei der Wettbewerbsbehörde den Erlass oder die Ermäßigung der Geldbuße zu erwirken, oder eine Aufzeichnung dieser Darlegung; dies umfasst keine Beweismittel, die unabhängig von einem Durchsetzungsverfahren vorliegen, unabhängig davon, ob diese Informationen in den Akten einer Wettbewerbsbehörde enthalten sind oder nicht, das heißt keine bereits vorhandenen Informationen;

18.

‚Vergleichsausführungen‘ eine freiwillige Darlegung seitens oder im Namen eines Unternehmens gegenüber einer Wettbewerbsbehörde, die ein Anerkenntnis des Unternehmens oder seinen Verzicht auf das Bestreiten der Beteiligung an einer Zuwiderhandlung gegen Artikel 101 oder 102 AEUV oder das nationale Wettbewerbsrecht und seiner Verantwortung für diese Zuwiderhandlung enthält und die eigens zu dem Zweck formuliert wurde, der betreffenden Wettbewerbsbehörde die Anwendung eines vereinfachten oder beschleunigten Verfahrens zu ermöglichen“.

11 Art. 13 („Geldbußen für Unternehmen und Unternehmensvereinigungen“) Abs. 4 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die nationalen Rechtsvorschriften, die die Verhängung von Sanktionen in strafrechtlichen Gerichtsverfahren ermöglichen, bleiben von diesem Artikel unberührt, sofern sich die Anwendung dieser Rechtsvorschriften nicht auf die wirksame und einheitliche Durchsetzung der Artikel 101 und 102 AEUV auswirkt.“

12 Art. 31 („Akteneinsicht durch Parteien und Beschränkungen bei der Informationsverwendung“) Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2019/1 sieht vor:

„(3)  Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass zu Kronzeugenerklärungen oder Vergleichsausführungen nur Parteien, die Gegenstand des betreffenden Verfahrens sind, und nur für Zwecke der Ausübung ihrer Verteidigungsrechte Zugang gewährt wird.

(4)  Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Partei, die Einsicht in die Akten des Durchsetzungsverfahrens der nationalen Wettbewerbsbehörden erhalten hat, Informationen aus Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen nur verwenden darf, wenn dies erforderlich ist für die Ausübung ihrer Verteidigungsrechte in Verfahren vor nationalen Gerichten in Rechtssachen, die sich unmittelbar auf den Fall beziehen, in dem Akteneinsicht gewährt wurde, und diese Verfahren Folgendes betreffen:

a)

die Aufteilung einer dem Kartellbeteiligten von einer nationalen Wettbewerbsbehörde gesamtschuldnerisch auferlegten Geldbuße auf die einzelnen Kartellbeteiligten oder

b)

die Überprüfung einer Entscheidung, mit der eine nationale Wettbewerbsbehörde eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 101 oder 102 AEUV oder Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts festgestellt hat.“

Österreichisches Recht

Bundes-Verfassungsgesetz

13 Art. 22 des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes bestimmt:

„Alle Organe des Bundes, der Länder, der Gemeinden und der Gemeindeverbände … sind im Rahmen ihres gesetzmäßigen Wirkungsbereiches zur wechselseitigen Hilfeleistung verpflichtet.“

Strafgesetzbuch

14 § 168b Abs. 1 des Strafgesetzbuchs sieht vor:

„Wer bei einem Vergabeverfahren einen Teilnahmeantrag stellt, ein Angebot legt oder Verhandlungen führt, die auf einer rechtswidrigen Absprache beruhen, die darauf abzielt, den Auftraggeber zur Annahme eines bestimmten Angebots zu veranlassen, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.“

Strafprozessordnung

15 § 49 der Strafprozessordnung bestimmt:

„(1)  Der Beschuldigte hat … das Recht,

3.

Akteneinsicht zu nehmen …

(2)  Der Beschuldigte hat das Recht, dass Opfern, Privatbeteiligten oder Privatanklägern Akteneinsicht (§ 68) nur insoweit gewährt wird, als dies zur Wahrung ihrer Interessen erforderlich ist.“

16 § 51 der Strafprozessordnung bestimmt:

„(1)  Der Beschuldigte ist berechtigt, in die der Kriminalpolizei, der Staatsanwaltschaft und dem Gericht vorliegenden Ergebnisse des Ermittlungs- und des Hauptverfahrens Einsicht zu nehmen. …

(2)  Soweit die im § 162 angeführte Gefahr besteht, ist es zulässig, personenbezogene Daten und andere Umstände, die Rückschlüsse auf die Identität oder die höchstpersönlichen Lebensumstände der gefährdeten Person zulassen, von der Akteneinsicht auszunehmen und Kopien auszufolgen, in denen diese Umstände unkenntlich gemacht wurden. Im Übrigen darf Akteneinsicht nur vor Beendigung des Ermittlungsverfahrens und nur insoweit beschränkt werden, als besondere Umstände befürchten lassen, dass durch eine sofortige Kenntnisnahme von bestimmten Aktenstücken der Zweck der Ermittlungen gefährdet wäre. …

…“

17 § 65 der Strafprozessordnung sieht vor:

„…

2.

‚Privatbeteiligter‘ [ist] jedes Opfer, das erklärt, sich am Verfahren zu beteiligen, um Ersatz für den erlittenen Schaden oder die erlittene Beeinträchtigung zu begehren.

…“

18 § 66 der Strafprozessordnung bestimmt:

„(1)  Opfer haben – unabhängig von ihrer Stellung als Privatbeteiligte – das Recht,

2.

Akteneinsicht zu nehmen (§ 68),

…“

19 § 68 der Strafprozessordnung sieht vor:

„(1)  Privatbeteiligte und Privatankläger sind zur Akteneinsicht berechtigt, soweit ihre Interessen betroffen sind; … Im Übrigen darf die Akteneinsicht nur verweigert oder beschränkt werden, soweit durch sie der Zweck der Ermittlungen oder eine unbeeinflusste Aussage als Zeuge gefährdet wäre.

(2)  Dieses Recht auf Akteneinsicht steht auch Opfern zu, die nicht als Privatbeteiligte am Verfahren mitwirken.

…“

20 § 76 der Strafprozessordnung bestimmt:

„(1)  Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte sind zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach diesem Gesetz berechtigt, die Unterstützung aller Behörden und öffentlichen Dienststellen des Bundes, der Länder und der Gemeinden sowie anderer durch Gesetz eingerichteter Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts unmittelbar in Anspruch zu nehmen. …

(2)  Ersuchen von kriminalpolizeilichen Behörden, Staatsanwaltschaften und Gerichten, die sich auf Straf[verfahren] einer bestimmten Person beziehen, dürfen mit dem Hinweis auf bestehende gesetzliche Verpflichtungen zur Verschwiegenheit oder darauf, dass es sich um automationsunterstützt verarbeitete personenbezogene Daten handelt, nur dann abgelehnt werden, wenn entweder diese Verpflichtungen ausdrücklich auch gegenüber Strafgerichten auferlegt sind oder wenn der Beantwortung überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen, die im Einzelnen a[us]zuführen und zu begründen sind.

…“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

21 Die Beschwerdeführerinnen des Ausgangsverfahrens sind Bauunternehmen, gegen die die Staatsanwaltschaft ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet hat. Dieses Verfahren richtet sich auch gegen zahlreiche weitere Unternehmen und deren Verantwortliche. Diese natürlichen und juristischen Personen stehen im Verdacht, von 2006 bis 2020 systematisch und wiederholt bei Vergabeverfahren Teilnahmeanträge gestellt, Angebote gelegt oder Verhandlungen geführt zu haben, die auf rechtswidrigen Absprachen beruhten, die darauf abzielten, die Auftraggeber zur Annahme eines bestimmten Angebots zu veranlassen.

22 Parallel zu diesem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren leitete die Bundeswettbewerbsbehörde gegen diese Personen ein Kartellverfahren vor dem Oberlandesgericht Wien (Österreich) als Kartellgericht (im Folgenden: Kartellgericht) zur Verhängung von Geldbußen ein. Im Rahmen des letztgenannten Verfahrens stellten die Beschwerdeführerinnen des Ausgangsverfahrens am ein Ersuchen um Vorgehen nach der wettbewerbsrechtlichen Kronzeugenregelung entsprechend der nationalen Vorschriften. Aufgrund der Teilnahme der Beschwerdeführerinnen des Ausgangsverfahrens am Kronzeugenprogramm stellte die Bundeswettbewerbsbehörde am bei diesem nationalen Gericht einen Antrag auf Verhängung einer geminderten Geldbuße. Das Kartellgericht verhängte am antragsgemäß die geminderte Geldbuße gegen die Beschwerdeführerinnen.

23 Am ersuchte die Staatsanwaltschaft das Kartellgericht im Rahmen der Amtshilfe um Übermittlung einer Kopie des Aktes des Kartellverfahrens. Das Kartellgericht gab dem Ersuchen der Staatsanwaltschaft statt und übermittelte ihr den Akt gemäß Art. 22 des Bundes-Verfassungsgesetzes und in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (Österreich). Nach dieser Rechtsprechung ist die zur Zeit des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens geltende Bestimmung des Kartellgesetzes, die den Zugang Dritter zu den Akten des österreichischen Kartellgerichts beschränkte, nicht gegenüber der Staatsanwaltschaft anwendbar; sie normiere keine gesetzliche Geheimhaltungspflicht, die auch gegenüber den Strafverfolgungsbehörden gelte.

24 Am ersuchte die Staatsanwaltschaft auch die Bundeswettbewerbsbehörde im Rahmen der Amtshilfe um Übermittlung einzeln bezeichneter Unterlagen des wettbewerbsbehördlichen Verfahrens gegen das in Rede stehende Kartell. Am entsprach die Bundeswettbewerbsbehörde diesem Ersuchen unter Hinweis auf den in der Richtlinie 2019/1 vorgesehenen Schutz der übermittelten Unterlagen.

25 Die Staatsanwaltschaft nahm die relevanten durch die Bundeswettbewerbsbehörde übermittelten Unterlagen, einschließlich der Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen samt Anlagen, zum Ermittlungsakt. Am formulierte die Staatsanwaltschaft aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen ein neues Erhebungsersuchen an die Polizei.

26 Die Beschwerdeführerinnen des Ausgangsverfahrens beantragten bei der Staatsanwaltschaft, diese Unterlagen nicht zum Akt zu nehmen, sie nicht zu verwerten und sie jedenfalls von der Akteneinsicht dauernd auszunehmen, und zwar gegenüber allen Beschuldigten und Geschädigten. Die Staatsanwaltschaft kam diesem Antrag nicht nach. Sie beließ die Unterlagen im Akt und lehnte es ab, sie dauerhaft von der Akteneinsicht auszunehmen. Sie nahm jedoch einen Teil der übermittelten Unterlagen, insbesondere die Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen, vorläufig – bis zur endgültigen Klärung der Frage des Zugangs zu diesen Unterlagen durch das Kartellgericht – von der Akteneinsicht für Beschuldigte und Geschädigte aus.

27 Am erhoben die Beschwerdeführerinnen des Ausgangsverfahrens bei der Staatsanwaltschaft Einspruch gegen die ablehnende Entscheidung. Mit Beschluss vom wies das Landesgericht für Strafsachen Wien (Österreich) als erstinstanzliches Gericht den Einspruch ab und stellte u.a. fest, dass die Aufnahme der betreffenden Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen sowie ihrer Anlagen in den Strafakt durch die Staatsanwaltschaft rechtmäßig sei. Es entschied ferner, dass das auf diesen Unterlagen basierende Erhebungsersuchen der Staatsanwaltschaft gegenüber der Polizei und die Entscheidung der Staatsanwaltschaft über die vorläufige Beschränkung der Akteneinsicht für Beschuldigte und Geschädigte ebenfalls rechtmäßig seien.

28 Gegen diesen Beschluss erhoben die Beschwerdeführerinnen des Ausgangsverfahrens Beschwerde an das Oberlandesgericht Wien, das vorlegende Gericht. Dort machen sie geltend, der Schutz von Kronzeugenerklärungen, Vergleichsausführungen und daraus gewonnenen Informationen vor Offenlegung diene der Privilegierung von Kronzeugen in Schadenersatz- und Strafverfahren. Diese Privilegierung werde sowohl vom Unionsgesetzgeber als auch vom nationalen Gesetzgeber als notwendiger Anreiz für eine funktionierende Kronzeugenregelung erachtet. Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1 sehe als Regel vor, dass jede Form der Offenlegung solcher Unterlagen unzulässig sei. Für diese Auslegung spreche auch Art. 13 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1, der zur Sicherstellung der Effektivität der wettbewerbsrechtlichen Kronzeugenprogramme einen Anwendungsvorrang des Wettbewerbsrechts vor dem innerstaatlichen Strafrecht vorsehe. Ein Informationsgewinn von potenziell Geschädigten im Rahmen eines Strafverfahrens unterliefe den absoluten Schutz dieser Dokumente und sei nicht unionsrechtskonform, insbesondere was die Richtlinien 2014/104 und 2019/1 anbelange.

29 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass zur Erlangung von für eine Ermittlung wichtigen Informationen auf Amts- und Rechtshilfe zurückgegriffen werden könne und danach alle staatlichen Behörden zur wechselseitigen Hilfeleistung verpflichtet seien. Gegenüber den Strafverfolgungsbehörden könne eine solche Hilfe nur verweigert oder beschränkt werden, wenn dies explizit im Gesetz angeordnet werde. Außerdem sei die Staatsanwaltschaft verpflichtet, alle relevanten Unterlagen zum Akt zu nehmen. Im österreichischen Rechtssystem gebe es keine ausdrückliche Einschränkung der Amts- und Rechtshilfe zwischen Kartellgericht und Wettbewerbsbehörden einerseits und Staatsanwaltschaften und Strafgerichten andererseits.

30 Die Strafprozessordnung sehe hingegen für die unterschiedlichen Verfahrensbeteiligten im Strafverfahren ein differenziertes System der Akteneinsicht vor. Der Beschuldigte könne im Hinblick auf sein Recht auf rechtliches Gehör grundsätzlich in den gesamten ihn betreffenden Akt Einsicht nehmen. Eine Beschränkung der Akteneinsicht für Beschuldigte sei nur in Ausnahmefällen strikter Erforderlichkeit möglich, die hier jedoch nicht vorlägen.

31 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass neben den Beschuldigten grundsätzlich auch Opfer und Privatbeteiligte in Strafverfahren ein Recht auf Akteneinsicht haben müssten, wenn dies zur Wahrung ihrer Interessen erforderlich sei. Somit hätten prinzipiell alle Beteiligten des betreffenden strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens die Möglichkeit, Zugang zu den Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen zu erhalten, die im Rahmen eines Kartellverfahrens vorgelegt worden seien.

32 Die Staatsanwaltschaft habe somit zu Recht die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden und im Zuge der Amts- und Rechtshilfe angeforderten Aktenteile des Kartellverfahrens, inklusive der Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen der Beschwerdeführerinnen des Ausgangsverfahrens, zum Akt genommen.

33 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts kann der Wortlaut von Art. 6 Abs. 6 und 7 der Richtlinie 2014/104 bzw. Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1 dahin gehend ausgelegt werden, dass der in diesen Richtlinien normierte Schutz von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen vor Offenlegung gegenüber jedem Dritten gelten muss – und somit auch gegenüber Gerichten oder Strafverfolgungsbehörden und den dortigen Verfahrensbeteiligten. Diese Auslegung werde auch durch Art. 13 Abs. 4 der Richtlinie 2019/1 gestützt.

34 Nach nationalem Recht seien jedoch das Kartellgericht und die Bundeswettbewerbsbehörde zur Übermittlung ihrer Akten an die Strafverfolgungsbehörden verpflichtet. Dies habe erhebliche negative Konsequenzen für wettbewerbsrechtliche Kronzeugen und beeinträchtige das Ziel des Schutzes von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen vor Offenlegung. Daher könne der von den Beschwerdeführerinnen aufgezeigten Auffassung, das Unionsrecht sehe einen absoluten Schutz von Kronzeugenerklärungen, der über einen bloßen Schutz im Rahmen des wettbewerbsrechtlichen Verfahrens hinausgehe, nicht die Berechtigung abgesprochen werden. Die im österreichischen Recht vorgesehene Möglichkeit für Beschuldigte und Opfer, im Rahmen eines Strafverfahrens die Akten einzusehen, stehe einem solchen absoluten Schutz entgegen.

35 Daher sei im Ausgangsverfahren zu klären, ob Teile eines Kartellakts – und, wenn ja, welche dieser Teile – zu einem Strafakt genommen werden dürften und wer in diese Aktenteile Einsicht nehmen dürfe.

36 Folglich ziele die erste Vorlagefrage darauf ab, ob der in den Richtlinien 2014/104 und 2019/1 normierte Schutz der Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen sowie der daraus gewonnenen Informationen dahin gehend auszulegen ist, dass er absolut sei und somit auch gegenüber den Strafverfolgungsbehörden gelte. Eine Bejahung dieser Frage hätte zur Konsequenz, dass den Strafverfolgungsbehörden bereits das Zum-Akt-Nehmen und das Generieren weiterer Ermittlungsschritte aus diesen Unterlagen zu verwehren wäre. Dies ergebe sich – mangels vollständiger Umsetzung der Richtlinien in das nationale Recht innerhalb der dafür vorgesehenen Fristen – aus der unmittelbaren Anwendbarkeit der einschlägigen Bestimmungen dieser Richtlinien.

37 Für den Fall, dass diese Frage bejaht werde, solle mit der zweiten Vorlagefrage geklärt werden, ob dieser allfällige absolute Schutz neben Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen auch Dokumente umfasse, die der Kronzeuge zur Darlegung, zur Konkretisierung und zum Beweis des Inhalts dieser Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen vorgelegt habe.

38 Für den Fall, dass die erste Frage verneint werde, sei zu klären, ob der in den Richtlinien 2014/104 und 2019/1 normierte Schutz zumindest so weit gehe, dass Mitbeschuldigten und/oder sonstigen Beteiligten des Strafverfahrens, wie etwa den Geschädigten, dauerhaft keine Einsicht in diese Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen gewährt werden dürfe.

39 Daher hat das Oberlandesgericht Wien beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind die wettbewerbsrechtlichen Bestimmungen des Unionsrechts – insbesondere die Richtlinie 2014/104 und deren Art. 6 Abs. 6 und 7 und Art. 7 Abs. 1 sowie die Richtlinie 2019/1 und deren Art. 31 Abs. 3 – dahingehend auszulegen, dass dem dort normierten Schutz von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen sowie daraus gewonnenen Informationen absolute Wirkung zukommt, der auch gegenüber Strafverfolgungsbehörden (Staatsanwaltschaften und Strafgerichten) gilt, so dass Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen im Strafverfahren nicht zum Akt genommen und als Basis für weitere Ermittlungen verwendet werden dürfen?

2.

Sind die wettbewerbsrechtlichen Bestimmungen des Unionsrechts – insbesondere die Richtlinie 2014/104 und deren Art. 6 Abs. 6 und 7 und Art. 7 Abs. 1 sowie die Richtlinie 2019/1 und deren Art. 31 Abs. 3 – dahingehend auszulegen, dass der absolute Schutz von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen (im Sinn der ersten Frage) auch Dokumente und daraus gewonnene Informationen umfasst, die der Kronzeuge oder Vergleichsausführende zur Darlegung, zur Konkretisierung und zum Beweis des Inhalts der Kronzeugenerklärung oder Vergleichsausführung vorgelegt hat?

3.

Sind die wettbewerbsrechtlichen Bestimmungen des Unionsrechts – insbesondere die Richtlinie 2014/104 und deren Art. 6 Abs. 6 und 7 und Art. 7 Abs. 1 sowie die Richtlinie 2019/1 und deren Art. 31 Abs. 3 – dahingehend auszulegen, dass dem dort normierten Schutz von Kronzeugenerklärungen, Vergleichsausführungen (und Dokumenten im Sinn der zweiten Frage) sowie daraus gewonnenen Informationen absolute Wirkung zukommt, der in einem Strafverfahren einerseits auch gegenüber Beschuldigten, bei denen es sich nicht um die Verfasser der jeweiligen Kronzeugenerklärung oder der Vergleichsausführung handelt, und andererseits gegenüber sonstigen Beteiligten des Strafverfahrens (insbesondere Geschädigten zur Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche) gilt, so dass Beschuldigten und Geschädigten keine Einsicht in Kronzeugenerklärungen, Vergleichsausführungen und die dazu vorgelegten Dokumente sowie in daraus gewonnene Informationen gewährt werden darf?

Zu den Vorlagefragen

Vorbemerkungen

40 Das in Art. 267 AEUV vorgesehene Vorabentscheidungsverfahren führt zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten einen Dialog von Gericht zu Gericht ein. Damit sollen die einheitliche Auslegung des Unionsrechts, seine Kohärenz, seine volle Geltung und seine Autonomie gewährleistet werden. Dieses Verfahren fungiert mithin als ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen (Urteil vom , M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 22 und 23 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

41 Insoweit ist hervorzuheben, dass der Gerichtshof bei der Beantwortung von Vorlagefragen im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Unionsgerichten und den nationalen Gerichten in Bezug auf den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich die Fragen einfügen, von den Feststellungen in der Vorlageentscheidung auszugehen hat (Urteil vom , M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42 Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls auch umzuformulieren. Es ist nämlich Aufgabe des Gerichtshofs, alle Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die die nationalen Gerichte benötigen, um die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, auch wenn diese Bestimmungen in den dem Gerichtshof von diesen Gerichten vorgelegten Fragen nicht ausdrücklich genannt sind (Urteil vom , NovaText, C‑531/20, EU:C:2022:316, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43 Mit seinen Fragen in der vorliegenden Rechtssache ersucht das vorlegende Gericht um Hinweise zur Tragweite der Bestimmungen des Wettbewerbsrechts der Union, insbesondere von Art. 6 Abs. 6 und 7 sowie von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104 und von Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1.

44 Eine Auslegung dieser Richtlinien könnte aber für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nur dann erheblich sein, wenn dieser Rechtsstreit in ihren Anwendungsbereich fiele.

45 Insoweit ist als Erstes zum Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/104 festzustellen, dass diese gemäß ihrem Art. 1 Abs. 2 bestimmte Vorschriften für auf nationaler Ebene erhobene Schadensersatzklagen wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Union aufstellt. Hieraus ergibt sich, dass der sachliche Anwendungsbereich dieser Richtlinie einschließlich ihrer Art. 6 und 7 – die die Offenlegung von Beweismitteln, die in den Akten einer Wettbewerbsbehörde enthalten sind, bzw. die Beschränkungen für die Verwendung von durch Einsicht in diese Akten erlangten Beweismitteln regeln – allein auf Schadensersatzklagen wegen Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln beschränkt ist und sich somit nicht auf andere Arten von Klagen erstreckt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Repsol Comercial de Productos Petrolíferos, C‑25/21, EU:C:2023:298, Rn. 30 und 31).

46 Somit regelt diese Richtlinie weder die Frage der Übermittlung der Akten von einer Wettbewerbsbehörde an eine andere Behörde noch die Frage der Akteneinsicht außerhalb der oben genannten Schadensersatzklagen. Zum letztgenannten Punkt geht aus der Antwort des vorlegenden Gerichts auf ein Ersuchen des Gerichtshofs um Klarstellung hervor, dass das Ausgangsverfahren keine derartige Klage betrifft, denn es bezieht sich auf einen Einspruch im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, in dem die betreffende Zuwiderhandlung und mithin die damit zusammenhängenden Ansprüche der Geschädigten keinen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht zum Gegenstand haben. Daraus ergibt sich, dass die Auslegung der Richtlinie 2014/104, da der Ausgangsrechtsstreit nicht in ihren Anwendungsbereich fällt, für die Entscheidung dieses Rechtsstreits ohne Belang ist.

47 Was als Zweites den Anwendungsbereich der Richtlinie 2019/1 betrifft, so geht aus ihrem Art. 1 Abs. 1 hervor, dass diese Richtlinie im Wesentlichen darauf abzielt, die wirksame Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV zu gewährleisten. Nach ihrem Art. 1 Abs. 2 gilt diese Richtlinie zum einen, wenn auf einen Fall Art. 101 und 102 AEUV und das nationale Wettbewerbsrecht parallel Anwendung finden, und zum anderen in Bezug auf die in Art. 31 Abs. 3 und 4 der Richtlinie geregelten Angelegenheiten auch für die alleinige Anwendung des nationalen Wettbewerbsrechts. Unter nationalem Wettbewerbsrecht sind gemäß Art. 2 Abs. 1 Nr. 6 der Richtlinie 2019/1 Bestimmungen des nationalen Rechts zu verstehen, mit denen überwiegend dieselben Ziele verfolgt werden wie mit den Art. 101 und 102 AEUV.

48 Insoweit ist zur ersten Frage festzuhalten, dass die Richtlinie 2019/1 die Übermittlung der Akten von einer Wettbewerbsbehörde an eine andere Behörde im Rahmen der Amts- und Rechtshilfe, wie im Ausgangsverfahren in Rede stehend, ebenso wenig wie die Richtlinie 2014/104 regelt. Wie auch der Generalanwalt in Nr. 59 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, stellen nämlich die Akteneinsicht durch Parteien, worauf sich ausweislich seiner Überschrift Art. 31 der Richtlinie 2019/1 bezieht, und eine solche Amtshilfe unterschiedliche rechtliche Aspekte dar. Daraus folgt, dass die Richtlinie 2019/1 für die Beantwortung der ersten Frage ohne Belang ist.

49 Die Kronzeugenerklärungen und die Vergleichsausführungen, um die es im Ausgangsverfahren geht, wurden jedoch im Rahmen eines Verfahrens der Bundeswettbewerbsbehörde erstellt und vorgelegt, das nach den Angaben des vorlegenden Gerichts die Anwendung von Art. 101 AEUV und des dieselben Ziele verfolgenden nationalen Wettbewerbsrechts betraf.

50 Um die praktische Wirksamkeit von Art. 101 AEUV zu gewährleisten, ist daher zu prüfen, ob dieser einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren entgegensteht, die ein Verfahren der Amtshilfe vorsieht. Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage den Gerichtshof um die Auslegung von Art. 101 AEUV ersucht.

51 Die zweite und die dritte Frage betreffen zum einen den Umfang des Schutzes, den das Wettbewerbsrecht der Union den verschiedenen Dokumenten des Aktes einer nationalen Wettbewerbsbehörde zumisst, und zum anderen das Recht verschiedener Beteiligter eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens auf Zugang zu Dokumenten und Informationen dieses Aktes.

52 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1 sicherstellen, dass zu Kronzeugenerklärungen oder Vergleichsausführungen nur Parteien, die Gegenstand des betreffenden Verfahrens sind, und nur für Zwecke der Ausübung ihrer Verteidigungsrechte Zugang gewährt wird.

53 Wie sich aus Rn. 49 des vorliegenden Urteils ergibt, wurden die Kronzeugenerklärungen und die Vergleichsausführungen, um die es im Ausgangsverfahren geht, in Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union und des dieselben Ziele verfolgenden nationalen Rechts erstellt.

54 Da zum einen die Richtlinie 2019/1 in Bezug auf die in ihrem Art. 31 Abs. 3 und 4 geregelten Fragen nach ihrem Art. 1 Abs. 2 auch für die alleinige Anwendung nationalen Wettbewerbsrechts gilt und zum anderen, wie der Generalanwalt in Nr. 55 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Art. 31 Abs. 3 dieser Richtlinie solchen Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen einen Schutz gewährt, der unabhängig vom Kontext ihrer Verwendung zu gewährleisten ist, ist die Auslegung der letztgenannten Bestimmung somit für die Beantwortung der zweiten und dritten Frage von Belang.

55 Diese Erwägungen werden zum einen dadurch bestätigt, dass der Unionsgesetzgeber, wie sich den Erwägungsgründen 50 und 72 der Richtlinie 2019/1 entnehmen lässt, bekräftigt hat, dass die Kronzeugenprogramme für die wirksame Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV bedeutsam sind und es zur Gewährleistung der Wirksamkeit dieser Regelungen notwendig ist, die Gefahr der Offenlegung selbstbelastenden Materials außerhalb der Untersuchung, für die es übermittelt wurde, zu mindern. Zum anderen soll Art. 31 Abs. 3 der genannten Richtlinie, wie aus ihren Vorarbeiten hervorgeht, den durch die Richtlinie 2014/104 vermittelten Schutz von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen ergänzen. Durch die Richtlinie 2014/104 war der Schutz dieser Dokumente im Zusammenhang mit Schadensersatzklagen vor nationalen Gerichten wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten oder der Union harmonisiert worden; sie betraf indessen keine anderen Fälle wie etwa die Verwendung dieser Dokumente im Rahmen anderer zivil‑, verwaltungs- oder strafrechtlicher Verfahren oder den Zugang der Öffentlichkeit zu diesen Dokumenten, wobei sich das Schutzniveau für diese Dokumente in diesen anderen Fällen von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat erheblich unterschied.

56 Ferner ist in Anbetracht der Ausführungen in den Rn. 49 und 53 des vorliegenden Urteils und insbesondere des Umstands, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen namentlich im Zuge der Anwendung von Art. 101 AEUV und damit im Rahmen der Durchführung des Wettbewerbsrechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) erstellt und der Bundeswettbewerbsbehörde vorgelegt wurden, festzustellen, dass Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1 auch im Lichte der Bestimmungen der Charta auszulegen ist.

Zur ersten Frage

57 Nach alledem ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 101 AEUV dahin gehend auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die nationale Wettbewerbsbehörde und das für Kartellsachen zuständige nationale Gericht im Rahmen des in dieser Regelung vorgesehenen Amtshilfemechanismus verpflichtet sind, ihre Akten – einschließlich der Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen in diesen Akten sowie der daraus gewonnenen Informationen – der Staatsanwaltschaft auf deren Ersuchen zu übermitteln.

58 Es ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht nach gefestigter Rechtsprechung dem Einzelnen Pflichten auferlegen, aber auch Rechte verleihen kann. Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn die Verträge dies ausdrücklich bestimmen, sondern auch aufgrund von eindeutigen Verpflichtungen, die diese Verträge dem Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Union auferlegen (Urteil vom , Repsol Comercial de Productos Petrolíferos, C‑25/21, EU:C:2023:298, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59 Außerdem erzeugt Art. 101 Abs. 1 AEUV in den Beziehungen zwischen Einzelnen unmittelbare Wirkungen und lässt unmittelbar in deren Person Rechte entstehen, die die nationalen Gerichte zu wahren haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Repsol Comercial de Productos Petrolíferos, C‑25/21, EU:C:2023:298, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60 Wie sich aus Rn. 49 des vorliegenden Urteils ergibt, wurden die Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen, um die es im Ausgangsverfahren geht, offenbar im Zuge der Anwendung von Art. 101 AEUV und einer nationalen Bestimmung erstellt, mit der im Wesentlichen dieselben Ziele wie mit diesem Artikel verfolgt werden.

61 Ein Amtshilfemechanismus wie der in der betreffenden nationalen Regelung vorgesehene – der die öffentlichen Stellen im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeitsbereiche zur wechselseitigen Hilfeleistung verpflichtet und nach dem die Bundeswettbewerbsbehörde und das Kartellgericht verpflichtet sind, der Staatsanwaltschaft die von dieser angeforderten Akten, einschließlich Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen, auch für die Zwecke eines Strafverfahrens, das keine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht zum Gegenstand hat, zu übermitteln – unterliegt als solcher jedoch nicht dem Unionsrecht.

62 Insoweit ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die Einrichtung eines solchen Amtshilfemechanismus zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, diese jedoch ihre Zuständigkeit unter Beachtung des Unionsrechts ausüben müssen und insbesondere, wenn das Wettbewerbsrecht beeinträchtigt werden kann, dafür sorgen müssen, dass die Vorschriften, die sie erlassen oder anwenden, die wirksame Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV nicht beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Caronte & Tourist, C‑511/23, EU:C:2025:42, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63 Es ist auch darauf hinzuweisen, dass Kronzeugenprogramme, wie der Gerichtshof bereits hervorgehoben hat, nützliche Instrumente sind, um Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht effizient aufzudecken und zu beenden, und damit dem Ziel der wirksamen Anwendung von Art. 101 AEUV und 102 AEUV dienen. Die Wirksamkeit dieser Programme könnte jedoch beeinträchtigt werden, falls die an einer wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlung Beteiligten sich in Anbetracht dessen davon abhalten ließen, die mit solchen Programmen eröffneten Möglichkeiten zu nutzen, dass die Dokumente eines Kronzeugenverfahrens möglicherweise anderen Personen als denjenigen übermittelt werden, für die diese Dokumente vorgelegt wurden, wie etwa Personen, die eine Schadensersatzklage erheben wollen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Pfleiderer, C‑360/09, EU:C:2011:389, Rn. 25 bis 27, und vom , Donau Chemie u.a., C‑536/11, EU:C:2013:366, Rn. 42).

64 Außerdem kann, wie der Generalanwalt in den Nrn. 66 und 69 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zum einen die praktische Wirksamkeit von Art. 101 AEUV auch durch ein Verfahren gefährdet werden, das nicht die Durchsetzung dieses Artikels zum Gegenstand hat. Zum anderen sind die Richtlinien 2014/104 und 2019/1 zwar nicht auf einen Amtshilfemechanismus zwischen nationalen Behörden ein und desselben Mitgliedstaats, wie im Ausgangsverfahren in Rede stehend, anwendbar, doch treten die in diesen Richtlinien aufgezeigten Gefahren im Zusammenhang mit der Offenlegung von Dokumenten, mit denen sich Unternehmen oder Personen selbst belasten, wodurch die Anreize zur Zusammenarbeit mit den Wettbewerbsbehörden für potenzielle Antragsteller an Wirkungskraft einbüßen können, auch im Rahmen dieses Mechanismus auf.

65 Daher ist festzustellen, dass ein solcher Amtshilfemechanismus so ausgestaltet sein muss, dass die praktische Wirksamkeit von Art. 101 AEUV insbesondere dadurch gewahrt wird, dass verhindert wird, dass der im Unionsrecht vorgesehene Schutz von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen infolge des Zugangs zu diesen sinnentleert wird.

66 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 101 AEUV dahin gehend auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der die nationale Wettbewerbsbehörde und das für Kartellsachen zuständige nationale Gericht im Rahmen des in dieser Regelung vorgesehenen Amtshilfemechanismus verpflichtet sind, ihre Akten – einschließlich der Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen in diesen Akten sowie der daraus gewonnenen Informationen – der Staatsanwaltschaft auf deren Ersuchen zu übermitteln, sofern ein solcher Mechanismus die praktische Wirksamkeit dieses Artikels nicht beeinträchtigt.

Zur zweiten Frage

67 In Anbetracht der einleitenden Erwägungen in den Rn. 40 bis 56 des vorliegenden Urteils ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1 dahin gehend auszulegen ist, dass der Schutz, den er Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen gewährt, auch die Dokumente und Informationen umfasst, die zur Darlegung, zur Konkretisierung und zum Beweis des Inhalts dieser Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen vorgelegt wurden.

68 Insoweit definiert Art. 2 Abs. 1 Nr. 17 der Richtlinie 2019/1 den Begriff „Kronzeugenerklärung“ als eine freiwillige mündliche oder schriftliche Darlegung seitens oder im Namen eines Unternehmens oder einer natürlichen Person gegenüber einer nationalen Wettbewerbsbehörde, in der das Unternehmen oder die natürliche Person seine bzw. ihre Kenntnis von einem Kartell und seine bzw. ihre Beteiligung daran darlegt und die eigens zu dem Zweck formuliert wurde, im Rahmen eines Kronzeugenprogramms bei der Wettbewerbsbehörde den Erlass oder eine Ermäßigung der Geldbuße zu erwirken, oder eine Aufzeichnung dieser Darlegung. Der Begriff „Vergleichsausführungen“ wird in Art. 2 Abs. 1 Nr. 18 definiert als eine freiwillige Darlegung seitens oder im Namen eines Unternehmens gegenüber dieser Wettbewerbsbehörde, die ein Anerkenntnis des Unternehmens oder seinen Verzicht auf das Bestreiten der Beteiligung an einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht und seiner Verantwortung für diese Zuwiderhandlung enthält und die eigens zu dem Zweck formuliert wurde, der betreffenden Wettbewerbsbehörde die Anwendung eines vereinfachten oder beschleunigten Verfahrens zu ermöglichen.

69 Daraus folgt, dass Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1 Dokumente schützt, deren Inhalt, Zweck und Erstellungsbedingungen den in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils angeführten Definitionen entsprechen.

70 Nach diesen Definitionen umfassen jedoch Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen keine bereits vorhandenen Informationen. Bei solchen Informationen handelt es sich nach Art. 2 Abs. 1 Nr. 17 der Richtlinie 2019/1 um Beweismittel, die unabhängig von einem Durchsetzungsverfahren und auch davon vorliegen, ob diese Informationen in den Akten einer Wettbewerbsbehörde enthalten sind oder nicht, wie etwa Dokumente aus dem Zeitraum der betreffenden Zuwiderhandlung.

71 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1, der die Einsicht in die Akten einer Wettbewerbsbehörde betrifft, ausdrücklich auf Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen Bezug nimmt, indem er den Zugang zu diesen auf die Parteien des betreffenden Verfahrens beschränkt und nur für Zwecke der Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährt.

72 Es ist daher festzustellen, dass diese Bestimmung nicht den Zugang zu anderen Aktenstücken wie etwa Anhängen und Informationen betrifft, die diesen Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen zur Darlegung, zur Konkretisierung und zum Beweis ihres Inhalts entnommen sind.

73 Diese Feststellung wird durch die ständige Rechtsprechung bestätigt, nach der jedermann Ersatz des Schadens verlangen kann, der ihm durch ein wettbewerbswidriges Verhalten entstanden ist. Ein solcher Schadensersatzanspruch erhöht nämlich die Durchsetzungskraft der Wettbewerbsregeln der Union und ist geeignet, von – oft verschleierten – Vereinbarungen oder Verhaltensweisen abzuhalten, die den Wettbewerb beschränken oder verfälschen können. Aus dieser Sicht können Schadensersatzklagen vor den nationalen Gerichten wesentlich zur Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs in der Europäischen Union beitragen (Urteil vom , Pfleiderer, C‑360/09, EU:C:2011:389, Rn. 28 und 29).

74 Außerdem sind Rechtsstreitigkeiten wegen Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht der Union und gegen das nationale Wettbewerbsrecht grundsätzlich durch eine Informationsasymmetrie zum Nachteil des Geschädigten gekennzeichnet, was es für den Geschädigten schwieriger macht, die für die Erhebung einer Schadensersatzklage unerlässlichen Informationen zu erlangen, als es für die Wettbewerbsbehörden ist, die für die Ausübung ihrer Befugnisse zur Durchführung des Wettbewerbsrechts erforderlichen Informationen zu erhalten (Urteil vom , Volvo und DAF Trucks, C‑267/20, EU:C:2022:494, Rn. 55).

75 Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass die Veröffentlichung von Informationen aus Dokumenten, die ein Unternehmen zur Stützung seiner Kronzeugenerklärung vorgelegt hat, insoweit zulässig ist, als sie den Schutz insbesondere der Geschäftsgeheimnisse, des Berufsgeheimnisses oder anderer vertraulicher Informationen wahrt, während die Veröffentlichung wörtlicher Zitate aus einer solchen Erklärung in keinem Fall zulässig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Evonik Degussa/Kommission, C‑162/15 P, EU:C:2017:205, Rn. 87).

76 Daraus ergibt sich, dass das Schutzniveau für Dokumente, die auf der Grundlage von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen erstellt wurden oder diesen Erklärungen und Ausführungen beigefügt sind, sowie für aus diesen Dokumenten entnommenen Informationen nicht dem Schutzniveau entspricht, das das Wettbewerbsrecht der Union für Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen vorsieht.

77 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1 dahin gehend auszulegen ist, dass der Schutz, den er Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen gewährt, nicht die Dokumente und Informationen umfasst, die zur Darlegung, zur Konkretisierung und zum Beweis des Inhalts dieser Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen vorgelegt wurden.

Zur dritten Frage

78 In Anbetracht der einleitenden Erwägungen in den Rn. 40 bis 56 des vorliegenden Urteils ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner dritten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1 im Lichte von Art. 47 Abs. 1 und 2 sowie Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin gehend auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der im Rahmen eines Strafverfahrens, das keine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht zum Gegenstand hat, Beschuldigte, bei denen es sich nicht um die Verfasser der Kronzeugenerklärungen oder Vergleichsausführungen handelt, sowie sonstige Beteiligte des Strafverfahrens, insbesondere durch den fraglichen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht Geschädigte, die Ersatz des durch diese Zuwiderhandlung verursachten Schadens begehren, ein Recht auf Zugang zu den Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen haben, die für die Zwecke eines Verfahrens vor einer nationalen Wettbewerbsbehörde erstellt und den nationalen Strafverfolgungsbehörden übermittelt worden sind.

79 Wie der Generalanwalt in Nr. 96 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, verfolgt der Schutz von Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen zwei eng miteinander verbundene Ziele, nämlich die betroffenen Personen vor den Gefahren zu schützen, die mit der Offenlegung von selbstbelastenden Dokumenten verbunden sind, und sicherzustellen, dass der Zugang zu diesen Dokumenten öffentlichen Interessen, wie dem Interesse an der Wirksamkeit der Politik zur Ahndung wettbewerbsrechtlicher Zuwiderhandlungen, nicht abträglich ist, da ein allgemeiner Zugang die an einem Verstoß gegen die Art. 101 und 102 AEUV Beteiligten davon abhalten könnte, mit den nationalen Wettbewerbsbehörden zu kooperieren.

80 Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass nach der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Regelung sowohl die im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens Beschuldigten als auch die anderen Beteiligten dieses Verfahrens, wie etwa durch den fraglichen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht Geschädigte, die Ersatz des durch diese Zuwiderhandlung verursachten Schadens begehren, das Recht auf Zugang zu den Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen haben, die den Akten dieses Verfahrens beigefügt sind.

81 Wie sich aus den Rn. 49, 53, 56 und 60 des vorliegenden Urteils ergibt, wurden die Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen, um die es im Ausgangsverfahren geht, im Zuge der Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union erstellt, und ist der ihnen durch Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1 gewährte Schutz unabhängig von dem Kontext zu gewährleisten, in dem sie verwendet werden. Folglich ist zu prüfen, ob diese Bestimmung einer nationalen Regelung wie der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten entgegensteht.

82 Insoweit ist erstens in Bezug auf den Zugang zu Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen durch Beschuldigte, bei denen es sich nicht um die Verfasser der jeweiligen Dokumente handelt, darauf hinzuweisen, dass Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1 nach einem allgemeinen Auslegungsgrundsatz so weit wie möglich in einer seine Gültigkeit nicht in Frage stellenden Weise und im Einklang mit dem gesamten Primärrecht der Union und insbesondere mit den Bestimmungen der Charta auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Ligue des droits humains [Prüfung der Datenverarbeitung durch die Aufsichtsbehörde], C‑333/22, EU:C:2023:874, Rn. 57), vorliegend im Einklang mit Art. 47 der Charta, in dem das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht verankert ist, sowie im Einklang mit Art. 48 Abs. 2 der Charta, der die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleisten soll.

83 Außerdem haben nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in der Charta enthaltenen Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite wie die entsprechenden durch die am in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) garantierten Rechte, was der Gewährung eines weiter gehenden Schutzes durch das Unionsrecht nicht entgegensteht. Bei der Auslegung der durch Art. 47 Abs. 1 und 2 sowie Art. 48 Abs. 2 der Charta garantierten Rechte muss der Gerichtshof daher die entsprechenden durch die Art. 6 und 13 EMRK in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierten Rechte als Mindestschutzstandard berücksichtigen (Urteil vom , K. B. und F. S. [Prüfung von Amts wegen im Strafverfahren], C‑660/21, EU:C:2023:498, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

84 Hierzu hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) in Bezug auf die durch Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Verteidigungsrechte entschieden, dass diese Bestimmung grundsätzlich verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden den Beschuldigten Akteneinsicht in alle in ihrem Besitz befindlichen einschlägigen belastenden und entlastenden Beweismittel gewähren. Diese Akteneinsicht betrifft sowohl Beweismittel, die sich unmittelbar auf den Sachverhalt einer Rechtssache beziehen, als auch solche zur Zulässigkeit, Glaubwürdigkeit und Vollständigkeit der unmittelbaren Beweismittel. Der EGMR hat jedoch festgestellt, dass dieses Recht auf Einsicht in die Akten eines Strafverfahrens nicht schrankenlos gilt und dass es in bestimmten Fällen notwendig sein kann, der Verteidigung bestimmte Beweismittel vorzuenthalten, um die Grundrechte einer anderen Person zu schützen oder ein wichtiges öffentliches Interesse zu wahren. Nach Auffassung des EGMR sind jedoch Maßnahmen, die die Verteidigungsrechte einschränken, mit Blick auf die EMRK nur dann legitim, wenn sie absolut notwendig sind (vgl. in diesem Sinne EGMR, , Yakuba/Ukraine, CE:ECHR:2019:0212JUD000145209, §§ 43 und 44).

85 Außerdem hat der EGMR entschieden, dass ein Verfahren, in dem der Zugang zu Beweismitteln in Ansehung der Natur der streitigen Dokumente und nicht aufgrund einer Analyse ihres Inhalts verweigert wurde, mit einem schweren Fehler behaftet ist (vgl. in diesem Sinne EGMR, , Mirilashvili/Russland, CE:ECHR:2008:1211JUD000629304, §§ 206 bis 208).

86 Um den Schutz der in Art. 47 Abs. 1 und 2 sowie Art. 48 Abs. 2 der Charta verankerten Rechte der Beschuldigten im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens zu wahren, kann folglich Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1 nicht dahin gehend ausgelegt werden, dass er es absolut ausschließt, dass Beschuldigte zum Zwecke der Ausübung ihrer Verteidigungsrechte Zugang zu Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen, die den Akten dieses Verfahrens beigefügt sind, gewährt wird, insbesondere wenn die gegen diese Beschuldigten erhobenen Vorwürfe auf darin enthaltenen Angaben beruhen. Schon aus dem Wortlaut der letztgenannten Bestimmung ergibt sich nämlich, dass die Parteien, die Gegenstand des betreffenden Verfahrens sind, gerade hierfür ein Recht auf Zugang zu den Kronzeugenerklärungen oder Vergleichsausführungen haben. Dieser Zugang kann daher nicht allein in Ansehung der Natur der Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen verweigert werden, da deren Nichtoffenlegung an Beschuldigte nur mit dem Schutz eines bestimmten öffentlichen Interesses, insbesondere mit der Vertraulichkeit der in diesen Dokumenten enthaltenen Informationen und mit der praktischen Wirksamkeit des Wettbewerbsrechts der Union, nach einer Einzelfallprüfung gerechtfertigt werden kann.

87 Was zweitens den Zugang der nichtbeschuldigten Beteiligten eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens zu Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass Kronzeugenprogramme, wie in Rn. 63 des vorliegenden Urteils ausgeführt, nützliche Instrumente zur wirksamen Bekämpfung von Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht sind und zur wirksamen Anwendung von Art. 101 AEUV beitragen. Wie sich auch aus der in dieser Randnummer angeführten Rechtsprechung und den Erwägungsgründen 50 und 72 der Richtlinie 2019/1 ergibt, würden Beteiligte einer wettbewerbsrechtlichen Zuwiderhandlung davon abgehalten, die mit solchen Kronzeugenprogrammen verbundene Möglichkeit zu nutzen, und die wirksame Anwendung des Wettbewerbsrechts könnte beeinträchtigt werden, wenn Dokumente aus einem Kronzeugenverfahren an Dritte, insbesondere an Personen, die eine Schadensersatzklage erheben wollen, übermittelt werden könnten.

88 Insoweit geht aus Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1 hervor, dass das Wettbewerbsrecht der Union zu Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen, die im Rahmen eines Durchsetzungsverfahrens der nationalen Wettbewerbsbehörde erstellt wurden, nur Parteien, die Gegenstand dieses Verfahrens sind, und nur für Zwecke der Ausübung ihrer Verteidigungsrechte Zugang gewährt. Der Ausdruck „Parteien, die Gegenstand des betreffenden Verfahrens sind“ in dieser Bestimmung kann jedoch nicht dahin gehend verstanden werden, dass er Geschädigte umfasst, die eine Schadensersatzklage erheben können.

89 So verlöre diese Bestimmung ihren Sinn, wenn das nationale Recht Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen nach ihrer Übermittlung an die Strafverfolgungsbehörden in Anwendung eines Amtshilfemechanismus und im Rahmen eines von diesen durchgeführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens keinen Schutz gewähren würde, der dem ihnen durch das Wettbewerbsrecht der Union gewährten Schutz gleichwertig ist, insbesondere wenn jeder Verfahrensbeteiligte einschließlich der Geschädigten, die eine Schadensersatzklage erheben können, Zugang zu diesen Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen hätte.

90 Daher ist festzustellen, dass ein solcher Zugang der praktischen Wirksamkeit von Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1 schaden kann und daher anderen Beteiligten eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens als den Beschuldigten, insbesondere den durch den fraglichen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht Geschädigten, die Ersatz des durch diese Zuwiderhandlung verursachten Schadens begehren, nicht gewährt werden kann.

91 Soweit sich im Übrigen aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, dass nach dem anwendbaren nationalen Recht andere Personen als die im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens Beschuldigten ein Recht auf Zugang zu Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen im Akt dieses Ermittlungsverfahrens haben, ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zur Gewährleistung der Wirksamkeit sämtlicher Bestimmungen des Unionsrechts den nationalen Gerichten auferlegt, ihr nationales Recht so weit wie irgend möglich unionsrechtskonform auszulegen. Diese Gerichte sind daher verpflichtet, das nationale Recht bei seiner Anwendung unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden so weit wie irgend möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, um deren volle Wirksamkeit zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das im Einklang mit dem mit ihnen verfolgten Zweck steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Caronte & Tourist, C‑511/23, EU:C:2025:42, Rn. 78 und 79 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

92 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1 im Lichte von Art. 47 Abs. 1 und 2 sowie von Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin gehend auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der im Rahmen eines Strafverfahrens, das keine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht zum Gegenstand hat, Beschuldigte, bei denen es sich nicht um die Verfasser der Kronzeugenerklärungen oder Vergleichsausführungen handelt, ein Recht auf Zugang zu den Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen haben, die für die Zwecke eines Verfahrens vor einer nationalen Wettbewerbsbehörde erstellt und den nationalen Strafverfolgungsbehörden übermittelt worden sind; er steht aber einer nationalen Regelung entgegen, nach der sonstige Beteiligte des Strafverfahrens, insbesondere durch den fraglichen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht Geschädigte, die Ersatz des durch diese Zuwiderhandlung verursachten Schadens begehren, ein Recht auf einen solchen Zugang haben.

Kosten

93 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

1.

Art. 101 AEUV

ist dahin gehend auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der die nationale Wettbewerbsbehörde und das für Kartellsachen zuständige nationale Gericht im Rahmen des in dieser Regelung vorgesehenen Amtshilfemechanismus verpflichtet sind, ihre Akten – einschließlich der Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen in diesen Akten sowie der daraus gewonnenen Informationen – der Staatsanwaltschaft auf deren Ersuchen zu übermitteln, sofern ein solcher Mechanismus die praktische Wirksamkeit dieses Artikels nicht beeinträchtigt.

2.

Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie (EU) 2019/1 des Europäischen Parlaments und Rates vom zur Stärkung der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten im Hinblick auf eine wirksamere Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften und zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts

ist dahin gehend auszulegen, dass

der Schutz, den er Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen gewährt, nicht die Dokumente und Informationen umfasst, die zur Darlegung, zur Konkretisierung und zum Beweis des Inhalts dieser Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen vorgelegt wurden.

3.

Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2019/1 ist im Lichte von Art. 47 Abs. 1 und 2 sowie von Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

dahin gehend auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der im Rahmen eines Strafverfahrens, das keine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht zum Gegenstand hat, Beschuldigte, bei denen es sich nicht um die Verfasser der Kronzeugenerklärungen oder Vergleichsausführungen handelt, ein Recht auf Zugang zu den Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen haben, die für die Zwecke eines Verfahrens vor einer nationalen Wettbewerbsbehörde erstellt und den nationalen Strafverfolgungsbehörden übermittelt worden sind; er steht aber einer nationalen Regelung entgegen, nach der sonstige Beteiligte des Strafverfahrens, insbesondere durch den fraglichen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht Geschädigte, die Ersatz des durch diese Zuwiderhandlung verursachten Schadens begehren, ein Recht auf einen solchen Zugang haben.

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:848

Fundstelle(n):
WAAAK-04358