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NWB Nr. 44 vom Seite 2988

Richtsätze ade? – oder doch nur ein weiteres Urteil zur Schätzung bei Kassenmängeln?

Besprechung des

Hon.-Prof. Dr. Gregor Nöcker

[i]Beyer, NWB 42/2025 S. 2869Mit dem (NWB WAAAK-00473) liegt das erste Urteil zur Zulässigkeit einer Schätzung nach der amtlichen Richtsatzsammlung nach der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage aus dem Jahr 2018 vor. Diese Antwort hatte eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die es nötig erscheinen ließen, dass auch der BFH erneut über die Zulässigkeit der Schätzung aufgrund der Richtsatzsammlung entscheiden müsste. Im vorliegenden Urteil gibt er diese Antwort nur ansatzweise, verdeutlicht jedoch seine „erheblichen Zweifel an der Eignung der Richtsatzsammlung in ihrer bisherigen Form als Grundlage für eine Schätzung“. Entscheidungserheblich waren seine Zweifel nicht. Aus seiner Sicht war eine Schätzung anhand eines inneren Betriebsvergleichs vorzugswürdig. Er nimmt deshalb die Gelegenheit wahr, das Verhältnis von Schätzungsmethoden untereinander deutlich herauszuarbeiten. Schließlich haben Schätzungen keinen Selbstzweck. Sie sollen, soweit möglich, die höchstwahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen ermitteln helfen. Insoweit ist das Ermessen von Finanzamt und Finanzgericht bei der Wahl der geeigneten Schätzungsmethode nicht gänzlich frei. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wie auch die Zumutbarkeit bei der Anwendung von Schätzungsmethoden sind zu beachten. Tendenziell ist deshalb ein innerer Betriebsvergleich einem äußeren Betriebsvergleich vorzuziehen. Letztere bleiben anwendbar, soweit die Finanzverwaltung ein Mindestmaß an Qualität der Datenerfassung beachtet – angesichts der Vielzahl von Daten aus E-Bilanz und EÜR sicherlich möglich. Wird allerdings die Datengrundlage im konkreten Einzelfall nicht offengelegt, geht dies zulasten des Beweiswerts der Vergleichsdaten.

I. Vorgeschichte des Revisionsverfahrens

[i]BFH, Urteil v. 18.6.2025 - X R 19/21, NWB WAAAK-00473 Der vom BFH durch das Urteil v.  - X R 19/21 (NWB WAAAK-00473) entschiedene Fall ist der bisherige Höhepunkt in der jüngeren Auseinandersetzung um die Ermittlung der Richtsatzsammlung. Ausgehend von der Antwort der Bundesregierung v.  auf die Kleine Anfrage zur Ermittlung der Richtsatzsammlung (BT-Drucks. 19/4238) lag es auf der Hand, dass der BFH als oberstes deutsches Finanzgericht die Tauglichkeit der Richtsatzschätzung erneut überprüfen musste. [i]Bislang galt die Richtsatzschätzung als von den FG anerkannte SchätzungsmethodeZwar hatte der nun entscheidende X. Senat des BFH noch in seinem Beschluss v.  - X B 117/18 (NWB KAAAH-30132) die Richtsatzschätzung als von der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt dargestellt, jedoch gleichzeitig im Leitsatz 3 dieses Beschlusses darauf hingewiesen, dass, soweit die grundsätzliche Bedeutung der Gewichtung der Richtsatzschätzung in einem Revisionsverfahren überprüft werden solle, es auch der (umfassenden) Darlegung kritischer Literaturansichten bedürfe. Ausdrücklich hatte er darauf verwiesen, S. 2989dass es mehr bedürfe als nur der Ansicht, die Richtsatzschätzung sei nicht tauglich. Infolge der restriktiven Handhabung der Nichtzulassungsgründe des § 115 Abs. 2 FGO verwundert dies nicht. [i]Ohne erneute FGO-Novelle besteht häufig nicht die Möglichkeit, eine Revision zu führenDenn ohne erneute Reform der FGO ist es dem BFH verwehrt, Fälle an sich zu ziehen, bei denen dem Kläger die Erfüllung der Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO nicht gelingt. Gerade aus diesem Grunde musste der BFH verlangen, dass eine substantiierte Kritik darzulegen sei. Dabei verwies er in Rz. 23 des Beschlusses v.  - X B 117/18 (NWB KAAAH-30132), was ungewöhnlich ist, beispielhaft auf den Aufsatz von Beyer in NWB 44/2018 S. 3232.

[i]BFH ließ Revision gegen FG-Urteil aus zweitem Rechtsgang zuDem Kläger im vorliegenden Verfahren gelang dies anscheinend. Jedenfalls ließ der (nicht dokumentiert) die Revision zu, ohne die Gründe hierfür zu veröffentlichen. Denn im zweiten Rechtsgang hatte das (NWB GAAAI-05645) die Schätzung anhand der Richtsatzsammlung vorgenommen. Begründet wurde dieses Vorgehen im Wesentlichen damit, dass die sog. Richtsatzschätzung eine anerkannte Schätzungsmethode und die Nachkalkulation mangels Zahlenmaterials nicht möglich sei. Die in der Literatur aufgeworfene Kritik an der Erstellung der Richtsatzsammlung (vgl. auch Steinhauff, AO-StB 2018 S. 141, und dem Beitrittsaufforderungsbeschluss nachfolgend Bellinger, StBp 2023 S. 235; Weber, StB 2021 S. 22; und erneut Beyer, NWB 33/2023 S. 2299) war aus Sicht des FG Hamburg vor dem Hintergrund, dass die Richtsatzsammlung keinen normativen Charakter habe, sondern lediglich ein Hilfsmittel sei, das von den Finanzgerichten im Rahmen ihrer richterlichen Würdigung nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände des Einzelfalls angewandt werde, ohne grundsätzliche Bedeutung. Gerade durch die große Spannbreite der Rohgewinnaufschlagsätze für Gastronomiebetriebe (im Streitjahr 2014 zwischen 186 % und 400 %) komme es auf die Berücksichtigung des Einzelfalls an, was die Kritik an der statistischen Erhebung der den Richtwerten zugrunde liegenden Daten zurücktreten lasse. Der BFH sah jedoch über den Einzelfall hinaus das Bedürfnis bestehen, das BMF zum Beitritt aufzufordern. Das BMF sollte zu der Frage Stellung nehmen, ob – und wenn ja – unter welchen Voraussetzungen ein äußerer Betriebsvergleich in Gestalt einer Schätzung anhand der Richtsätze der amtlichen Richtsatzsammlung des BMF zulässig sei. Dem BFH erschien es gerade in Anbetracht der steuer- und steuerstrafrechtlichen erheblichen Bedeutung der Verprobung und Schätzung von Besteuerungsgrundlagen anhand der amtlichen Richtsatzsammlung sachgerecht, das BMF am Revisionsverfahren zu beteiligen. Schließlich ist das BMF der Herausgeber der Richtsatzsammlung. [i]BFH sah Klärungsbedarf über das Zustandekommen der RichtsätzeAuch im Beschluss v. (NWB OAAAJ-34737) verwies der BFH in Rz. 29 auf den Aufsatz von Beyer (NWB 44/2018 S. 3232) und den dort dargelegten Klärungsbedarf über das Zustandekommen der einzelnen Richtsätze sowie die auch dort geltend gemachten statistischen Unzulänglichkeiten. Im Einzelnen war dem BFH unklar,

  • welche Einzeldaten mit welchem Gewicht in die Ermittlung der Richtsätze der jeweiligen Gewerbeklasse einfließen, wie die Repräsentativität der Daten sichergestellt wird und ob es Einzeldaten gibt, die von vornherein ausgeschlossen werden;

  • ob die regional zum Teil erheblich unterschiedliche Höhe fixer Betriebskosten (insbesondere Raum- und Personalkosten) der Festlegung bundeseinheitlicher Richtsätze entgegensteht;

  • weshalb die Ergebnisse von Außenprüfungen bei sog. Verlustbetrieben unberücksichtigt bleiben, obwohl auch solche Betriebe grundsätzlich einen positiven Rohgewinnaufschlagsatz ausweisen;

  • ob ganz oder teilweise erfolgreiche Rechtsbehelfe des Steuerpflichtigen gegen die auf eine Außenprüfung ergangenen Steuerbescheide Eingang in die Richtsatzsammlung finden.S. 2990

Daneben [i]BFH verlangt transparente Datengrundlagestellte sich für ihn die Frage, wie es dem Steuerpflichtigen ermöglicht werden könne, das Ergebnis einer Schätzung auf der Grundlage der amtlichen Richtsatzsammlung insbesondere auch im Hinblick auf die spezifischen Daten, die dieser Sammlung zugrunde liegen, nachzuvollziehen und zu überprüfen. Eine solche Transparenz der Schätzungsgrundlagen hatte der BFH bereits im ersten Rechtsgang des Verfahrens verlangt. Stützt sich eine Finanzbehörde und ihr nachfolgend ein Finanzgericht etwa auf das amtsinterne System der „Fachinfo BP NRW“, so sind die dort gemachten Erkenntnisse und Erfahrungen aufgrund der rechtsstaatlich gebotenen Waffengleichheit auch dem Steuerpflichtigen offenzulegen (, NWB MAAAH-56278, Rz. 11). Andernfalls liegt eine Gehörsverletzung (§ 96 Abs. 2 FGO i. V. mit Art. 103 Abs. 1 GG) vor.

II. Der Sachverhalt im Revisionsverfahren X R 19/21

[i]BFH, Urteil v. 18.6.2025 - X R 19/21, NWB WAAAK-00473 In den Streitjahren 2013 und 2014 betrieb der Kläger eine Diskothek, die vorrangig von Minderjährigen besucht wurde. Im Rahmen der für die Streitjahre durchgeführten Außenprüfung sah das Finanzamt die Kassen- und Buchführung als formell ordnungswidrig an. [i]Fehlende KasseneinzelaufzeichnungenDenn für die bis zu fünf offenen Ladenkassen in der Diskothek wurden die Tagesgesamteinnahmen lediglich auf Zetteln erfasst und an die Buchhaltung übergeben, ohne dass Kasseneinzelaufzeichnungen vorlagen.

[i]Prüfer führte Nachkalkulation durchDer Prüfer des Finanzamts verprobte daraufhin die Getränkeumsätze für den Zeitraum Januar bis Mai 2013 und verglich die aufgrund seiner Verprobung ermittelten mit den tatsächlich gebuchten Getränkeerlösen. Aus seiner Sicht waren lediglich 42,61 % des möglichen Umsatzes vom Kläger erklärt worden. Die anschließende Nachkalkulation des Prüfers unter Berücksichtigung eines Abschlags von 10 % für Freigetränke, Personalverzehr und Schankverluste für das Streitjahr 2013 führte zu Hinzuschätzungsbeträgen für beide Streitjahre. Der Prüfer des Finanzamts ging dabei von einem Rohgewinnaufschlagsatz von 554,80 % aus. Außerdem nahm er auf der Grundlage der geschätzten Getränkeerlöse Hinzuschätzungen bei den Eintrittsumsätzen und den Garderobenumsätzen vor.

[i]Aufhebung des FG-Urteils wegen GehörsverletzungDas FG Hamburg ging in seinem Urteil v.  - 2 K 218/18 (NWB LAAAH-44344) ebenfalls von einer Schätzungsbefugnis dem Grunde nach aus, bemängelte jedoch die Nachkalkulation und schätzte selbst mit Hilfe eines äußeren Betriebsvergleichs. Neben den Richtsatzschätzungen für Gast-, Speise- und Schankwirtschaften für beide Streitjahre berief es sich auf einen im juris-Fachportal Steuerrecht „Fachinfosystem Bp NRW“ nur für den Dienstgebrauch abrufbaren Bericht des Finanzamts Mönchengladbach-Mitte aus dem Jahr 2017 über Betriebsprüfungen bei Diskotheken. Hiernach ergäben sich bei Diskotheken Rohgewinnaufschlagsätze zwischen 280 % und 600 %, wohingegen die Rohgewinnaufschlagsätze bei Gastronomiebetrieben zwischen 186 % und 400 % lägen. Das Finanzgericht sah deshalb einen Rohgewinnaufschlagsatz von 300 % als zutreffend an und setzte entsprechende Hinzuschätzungen bei den Getränkeerlösen der Streitjahre an. Die Hinzuschätzungen bei den Eintrittsgeldern und Garderobendienstleistungen verwarf das Finanzgericht als unplausibel und willkürlich.

[i]Zweiter Rechtsgang: FG beschränkt sich auf RichtsatzschätzungNachdem der (NWB MAAAH-56278) das FG-Urteil wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs aufgehoben und die Sache an das Finanzgericht zurückverwiesen hatte, übersandte das Finanzgericht zwar beiden Beteiligten den Bericht des Finanzamts Mönchengladbach-Mitte über die Betriebsprüfungen bei Diskotheken, bezog sich aber unter Beibehaltung des Rohgewinnaufschlagsatzes von 300 % nur noch auf die Richtsatzsammlungen des BMF für Gastronomiebetriebe. Eine Ausbeutekalkulation sah es weiterhin als untauglich an. Eine Geldverkehrs- oder Vermögenszugangsrechnung war ihm mangels Kenntnis der gesamten GeldS. 2991zuflüsse und Vermögenszuwächse des Klägers nicht möglich (, NWB GAAAI-05645).

[i]BMF: Rechtfertigung der Richtsätze mit hoher StichprobengrößeDas BMF verwies im Revisionsverfahren neben der hohen Anzahl der den jeweiligen Richtsatzsammlungen zugrunde liegenden Prüfungsergebnisse auch darauf hin, dass die Vorgehensweise zur Ermittlung der Richtsätze auf einem mathematisch-statistischen Verfahren beruhe, das Toleranzintervalle der zu schätzenden Merkmalswerte anhand von Stichprobenergebnissen konstruiere. Diese Vorgehensweise sei begutachtet worden. Das insoweit angefertigte Gutachten v.  habe sich ausdrücklich mit der Fragestellung beschäftigen müssen, wie viele Betriebsprüfungsergebnisse für die Festlegung eines Toleranzintervalls berücksichtigt werden müssten, damit mit hoher Sicherheit ein ausreichend hoher Anteil aller Betriebe in diesem Intervall liege. Unter Mitwirkung des Statistischen Bundesamts habe das BMF dieses mathematische Gutachten überprüft und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass das in dem Gutachten verwendete Verfahren eine anerkannte Schätzmethode für nichtparametrische Toleranzintervalle sei. Zu beachten sei, so der Gutachter, dass die getroffenen Aussagen jedoch auf der Verwendung von „echten Zufallsstichproben“ beruhen müssten.

[i]FinVerw: Auswahl der für die Richtsatzsammlung zu prüfenden Betriebe erfolgt entsprechend § 193 AODer BFH hat in der mündlichen Verhandlung einen vom BMF vorgeschlagenen Prüfer als Beistand gehört. Dieser hat u. a. dargelegt, dass die Richtsatzkommission zwar die Anzahl der für die Erstellung notwendigen Betriebe vorgebe und auf die Finanzämter verteile. Auch weise sie auf das Erfordernis einer Zufallsauswahl hin. Allerdings entziehe sich der Kommission die Kenntnis darüber, ob dieser Hinweis von den Finanzämtern befolgt werde. Ob der geprüfte Betrieb als „Normalbetrieb“ geeignet sei, entschieden die Finanzämter vor Ort. Dabei, so der Beistand und das Finanzamt in der mündlichen Verhandlung, würden die Betriebe, deren Kennzahlen in die Richtsatzsammlung eingingen, auf Grundlage der in § 193 AO genannten Kriterien ausgewählt. Es handele sich um Betriebe, bei denen ohnehin Außenprüfungen durchgeführt würden. Ein Teil der Außenprüfungen beruhe auf Meldungen der Veranlagungsbezirke, ein anderer Teil auf einer Auswahl des Computers nach Zufallskriterien. Allerdings werde auch in letzterem Fall in einem zweiten Schritt personell geprüft, ob der jeweilige Betrieb prüfungswürdig sei.