Instanzenzug: OLG Celle Az: 16 U 291/22vorgehend LG Hildesheim Az: 4 O 157/21
Gründe
1Der Kläger wendet sich gegen die Verwerfung seiner Berufung in einem Verfahren, in dem er die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch genommen hat.
2Das Landgericht hat die auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 40.367,69 € nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung eines mit einer Fahrzeugidentifikationsnummer näher bezeichneten Wohnmobils Fiat Ducato, die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten und die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten gerichtete Klage abgewiesen. Gegen dieses Urteil hat der Kläger form- und fristgerecht Berufung eingelegt.
3Mit seiner ebenfalls fristgerecht eingegangenen Berufungsbegründung hat der Kläger zunächst die Zahlung von 24.801,69 € nebst Zinsen und Freistellung von Forderungen einer finanzierenden Bank in Höhe von 43.464,96 € Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung eines Wohnmobils Fiat Ducato mit einer anderen Fahrzeugidentifikationsnummer sowie die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten beantragt. Auf den Hinweis des Berufungsgerichts, es bestünden Bedenken gegen die Zulässigkeit der Berufung, hat der Kläger - nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist - die erstinstanzlich verfolgten Anträge mit Ausnahme des Antrags auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten angekündigt.
4Mit dem mit der Rechtsbeschwerde angefochtenen Beschluss hat das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig verworfen. Die Berufungsbegründung genüge nicht den Anforderungen des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 ZPO, da ihr ein anderer prozessualer Anspruch und Lebenssachverhalt zugrunde liege als der angefochtenen Entscheidung. Die Berufungsbegründung habe ausschließlich eine Klageänderung zum Gegenstand, was jedoch nicht alleiniges Ziel eines Rechtsmittels sein könne. Durch Auslegung der innerhalb der Begründungsfrist eingegangenen Schriftsätze lasse sich nicht ermitteln, ob überhaupt beziehungsweise in welchem Umfang und mit welchem Ziel das Urteil des Landgerichts angefochten werden solle. Zudem bestünden auch aus anderen Gründen Zweifel daran, dass sich die Berufungsbegründung konkret mit der landgerichtlichen Entscheidung auseinandersetze. Der Kläger führe unter anderem aus, die anzusetzende Gesamtlaufleistung für das Fahrzeug liege bei mindestens 300.000 Kilometern. Damit weiche er von seiner erstinstanzlichen Berechnung ab, die anhand der Nutzungszeit des Fahrzeugs erfolgt sei. Dies lasse den Rückschluss zu, dass es nunmehr um ein anderes Fahrzeug gehe und die Entscheidung des Landgerichts nicht Gegenstand der Ausführungen sei.
II.
5Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
61. Sie ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft, form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Die Verwerfung der Berufung als unzulässig verletzt den Kläger in seinem Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem aus Art. 20 Abs. 3 GG herzuleitenden Rechtsstaatsprinzip.
72. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
8a) Das Berufungsgericht hätte die Berufung des Klägers nicht mit der Begründung verwerfen dürfen, die Berufungsbegründung erfülle nicht die Anforderungen des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 ZPO.
9aa) Nach dieser Bestimmung muss die Berufungsbegründung die Erklärung enthalten, inwieweit das Urteil angefochten wird und welche Abänderung des Urteils beantragt werden (Berufungsanträge). Dies erfordert nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht zwingend einen förmlichen Sachantrag. Durch die Vorschrift soll der Berufungskläger im Interesse der Beschleunigung des Berufungsverfahrens dazu angehalten werden, sich eindeutig über Umfang und Ziel seines Rechtsmittels zu erklären und Berufungsgericht sowie Prozessgegner über Umfang und Inhalt seiner Angriffe möglichst schnell und zuverlässig ins Bild zu setzen. Daher reicht es aus, wenn die innerhalb der Begründungsfrist eingereichten Schriftsätze des Berufungsklägers ihrem gesamten Inhalt nach eindeutig ergeben, in welchem Umfang und mit welchem Ziel das Urteil angefochten werden soll (vgl. nur , NJW 2015, 1606 Rn. 11; Beschluss vom - XII ZB 611/14, NJW-RR 2015, 963 Rn. 10; Beschluss vom - VIII ZB 29/19, NJW-RR 2019, 1293 Rn. 14; Beschluss vom - VIII ZB 18/20, NJW-RR 2020 1132 Rn. 11, jeweils mwN). Bei der Beurteilung ist im Grundsatz davon auszugehen, dass ein Rechtsmittel im Zweifel gegen die gesamte angefochtene Entscheidung gerichtet ist, diese also insoweit angreift, als der Rechtsmittelführer durch sie beschwert ist (vgl. , juris Rn. 6; Beschluss vom - VII ZB 61/18, NJW-RR 2019, 1022 Rn. 9; Beschluss vom - VII ZB 5/20, NJW-RR 2020, 1188 Rn. 17, jeweils mwN).
10bb) Gemessen daran ist der Berufungsbegründung, deren Auslegung als Prozesshandlung vom Senat selbst vorzunehmen ist (st. Rspr., vgl. etwa , NJW 1996, 1962 unter III 1 a; Urteil vom - VI ZR 325/95, NJW-RR 1996, 1210 unter II 2; Beschluss vom - VII ZB 9/13, NJW 2014, 2732 Rn. 11; Beschluss vom - VIII ZB 55/15, WuM 2016, 632, 633, jeweils mwN), mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass der Kläger die erstinstanzliche Entscheidung in vollem Umfang anfechten wollte und sich die zunächst ausformulierten Anträge offenkundig aufgrund eines Versehens auf ein anderes Verfahren bezogen. Dies ergibt sich schon daraus, dass der Kläger das angefochtene Urteil eingangs der Berufungsbegründung zweimal mit dem Aktenzeichen und Verkündungsdatum zutreffend bezeichnet und zum Umfang der Berufung klargestellt hat, das Urteil werde im vollem Umfang zur Überprüfung durch das Berufungsgericht gestellt. Auch die weiteren Ausführungen lassen sich - trotz ihrer aus vergleichbaren Verfahren bekannten, verallgemeinernden Formulierungen ("streitgegenständliches Fahrzeug", "Dieselfahrzeug", "Klagepartei") - ohne weiteres auf das erstinstanzliche Urteil beziehen; insbesondere gibt der Kläger die tragenden Erwägungen, mit denen das Landgericht den Klageanspruch verneint hat, zutreffend wieder.
11cc) Dem steht nicht entgegen, dass die Berufung - worauf das Berufungsgericht zutreffend hinweist - auf die Beseitigung der vorinstanzlichen Beschwer gerichtet sein muss und daher unzulässig ist, wenn mit ihr lediglich im Wege der Klageänderung ein neuer, bislang nicht geltend gemachter Anspruch zur Entscheidung gestellt wird (st. Rspr., vgl. nur , BGHZ 155, 21, 26; Beschluss vom - XII ZR 112/03, NJW-RR 2006, 442 Rn. 15; Beschluss vom - IX ZB 106/11, NJW 2011, 3653 Rn. 7; Beschluss vom - XI ZB 31/22, NJW-RR 2023, 1549 Rn. 10, jeweils mwN). Denn dies wäre hier nur der Fall, wenn der Berufungsbegründung zu entnehmen wäre, dass sie sich auf das andere, im zunächst formulierten Berufungsantrag bezeichnete Fahrzeug und diesbezügliche Schadensersatzansprüche des Klägers bezöge. Darauf deutet indes nur die Formulierung dieses Berufungsantrags selbst hin. Sie aber beruhte - abgesehen davon, dass es eines förmlichen Sachantrags nicht unbedingt bedurfte - offenkundig auf einem Versehen. Der Inhalt der Berufungsbegründung im Übrigen gibt für ein solches Verständnis nichts her, insbesondere trägt es nicht der Umstand, dass der Kläger die geltend gemachte Nutzungsentschädigung nunmehr abweichend nach der Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs statt wie bisher nach einer bestimmten Nutzungsdauer berechnen will. Denn dem Kläger ist es unbenommen, die rechtlichen Erwägungen in zweiter Instanz zu ergänzen oder durch eine andere Begründung auszutauschen. Die gegenteilige Annahme des Berufungsgerichts, mit der Berufung habe der Streitgegenstand ausgewechselt werden sollen (Schadensersatzansprüche bezüglich eines anderen Fahrzeugs), verstößt gegen den bei der Auslegung von Prozesshandlungen geltenden Grundsatz, dass im Zweifel davon auszugehen ist, dass ein Rechtsmittelführer ein zulässiges Rechtsmittel einlegen und begründen wollte (vgl. nur , BGHZ 146, 298, 310; Urteil vom - VI ZR 257/08, NJW 2010, 3779 Rn. 4; Beschluss vom - XI ZB 8/12, juris Rn. 8; Beschluss vom - VIII ZB 55/15, WuM 2016, 632 Rn. 6, jeweils mwN).
12b) Auch soweit das Berufungsgericht angenommen hat, es bestünden Zweifel, ob sich die Berufungsbegründung konkret mit der landgerichtlichen Entscheidung auseinandersetze, rechtfertigt dies die Verwerfung des Rechtsmittels nicht.
13aa) Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO muss die Berufungsbegründung die Umstände bezeichnen, aus denen sich nach Ansicht des Berufungsklägers die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergibt. Dies bedeutet, dass die Berufungsbegründung jede tragende Erwägung angreifen muss, wenn das Erstgericht die Abweisung der Klage auf mehrere voneinander unabhängige, selbständig tragende rechtliche Erwägungen gestützt hat. Denn nur dann kann die geltend gemachte Rechtsverletzung entscheidungserheblich sein (vgl. , NJW-RR 2020, 1132 Rn. 16; Beschluss vom - VIa ZB 4/21, NJW-RR 2022, 642 Rn. 7; Beschluss vom - VIa ZB 1/24, juris Rn. 6, jeweils mwN).
14Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ZPO muss die Berufungsbegründung konkrete Anhaltspunkte bezeichnen, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angegriffenen Urteil begründen und deshalb neue Feststellungen gebieten. Dazu gehört eine aus sich heraus verständliche Angabe, welche bestimmten Punkte des angefochtenen Urteils der Berufungskläger bekämpft und welche tatsächlichen oder rechtlichen Gründe er ihnen im Einzelnen entgegensetzt. Besondere formale Anforderungen an diesbezügliche Darlegungen des Berufungsklägers bestehen allerdings nicht; für die Zulässigkeit der Berufung ist es insbesondere ohne Bedeutung, ob die Ausführungen in sich schlüssig oder rechtlich haltbar sind. Die Berufungsbegründung muss aber auf den konkreten Streitfall zugeschnitten sein. Es reicht nicht aus, die Auffassung des Erstgerichts mit formularmäßigen Sätzen oder allgemeinen Redewendungen zu rügen oder lediglich auf das Vorbringen in erster Instanz zu verweisen (st. Rspr. vgl. nur , NJW-RR 2020, 503 Rn. 5; Beschluss vom - VIII ZB 21/21, NJW-RR 2022, 449 Rn. 14; Beschluss vom - VI ZR 226/24, juris, Rn. 7, jeweils mwN).
15bb) Diesen Anforderungen wird die Berufungsbegründung entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts noch gerecht.
16(1) Sie gibt - wie bereits erwähnt - das erstinstanzliche Urteil insoweit zutreffend wieder, als das Landgericht für einen Anspruch aus § 826 BGB schon keine sittenwidrige Schädigung des Klägers durch die Beklagte zu erkennen vermochte und das (unstreitige) Vorhandensein eines "Thermofensters" für die Bejahung der objektiven und subjektiven Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht für ausreichend erachtete. Diese (einzig) tragenden Erwägungen greift die Berufungsbegründung schon hinreichend an, indem sie dem entgegenhält, bereits in der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung liege eine vorsätzliche und sittenwidrige Schädigung durch die Beklagte. Dass dies nicht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entspricht (vgl. nur , VersR 2021, 1252 Rn. 13; Urteil vom - VIa ZR 1255/22, juris Rn. 9, jeweils mwN), spielt - wie ausgeführt - für die Erfüllung der inhaltlichen Anforderungen des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 und 3 ZPO keine Rolle.
17(2) Der Zulässigkeit der Berufung steht schließlich auch nicht entgegen, dass die Berufungsbegründung mehrfach Textbausteine und abstrakte Passagen verwendet und Erwägungen des Landgerichts teils unzutreffend wiedergibt, wie das Berufungsgericht richtig aufzeigt. Denn sie geht trotz des Vorhandenseins dieser Mängel nicht nur sporadisch auf das angegriffene erstinstanzliche Urteil ein (vgl. , NJW-RR 2008, 1308 Rn. 12), sondern befasst sich noch hinreichend konkret mit dem angefochtenen Urteil und den darin enthaltenen tragenden Erwägungen des Landgerichts (vgl. VIa ZB 1/24, juris Rn. 12 f.).
III.
18Der die Berufung des Klägers als unzulässig verwerfende Beschluss des Berufungsgerichts ist daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung über das Rechtsmittel an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 iVm § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO).
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ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:090925BVIAZB3.23.0
Fundstelle(n):
RAAAJ-99897