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BVerfG Urteil v. - 2 BvR 1379/23

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör durch Übergehen eines Antrags auf Durchführung der mündlichen Verhandlung nach § 495a S 2 ZPO

Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 495a S 2 ZPO

Instanzenzug: AG Würzburg Az: 18 C 30/23 Urteil

Gründe

I.

1 Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Entscheidung seines Rechtsstreits im vereinfachten Verfahren gemäß § 495a der Zivilprozessordnung (ZPO) ohne vorangegangene mündliche Verhandlung.

2 1. Dem hier gegenständlichen Zivilprozess ging ein Rechtsstreit vor dem Landgericht Würzburg zwischen dem Beschwerdeführer auf der Klägerseite und einer Zahnarztpraxis sowie einem behandelnden Zahnarzt auf der Beklagtenseite voraus. Der Beschwerdeführer machte erfolglos Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen einer fehlerhaften zahnärztlichen Behandlung geltend. Das Landgericht stützte die Klageabweisung maßgeblich auf ein Gutachten eines gerichtlich bestellten Sachverständigen, nach dessen Auffassung kein Behandlungsfehler vorgelegen habe. Die Berufung des Beschwerdeführers vor dem Oberlandesgericht Bamberg wurde als unzulässig verworfen.

3 2. a) Der Beschwerdeführer erhob daraufhin Klage vor dem Amtsgericht Würzburg und nahm den im Verfahren vor dem Landgericht bestellten Sachverständigen im Urkundenprozess auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Anspruch. Das Amtsgericht ordnete die Durchführung des vereinfachten Verfahrens ohne mündliche Verhandlung nach § 495a ZPO an. Es wies darauf hin, dass ein Termin zur mündlichen Verhandlung nur dann anberaumt werde, wenn eine der Prozessparteien dies beantragt oder das Gericht dies für erforderlich hält. Für die Einhaltung der Fristen sei der Eingang beim Amtsgericht maßgeblich.

4 b) Nachdem der Beklagte umfassend auf die Klage erwidert hatte, teilte das Amtsgericht mit, dass im Rahmen des Verfahrens nach § 495a ZPO weiter schriftlich verhandelt werde und ein Termin zur mündlichen Verhandlung nicht stattfinde. Schriftsätze, die bis zum bei Gericht eingingen, würden bei der Entscheidung berücksichtigt. Nach Ablauf der zuvor gesetzten Frist ergehe eine Entscheidung im Bürowege. Die Parteien nahmen daraufhin innerhalb der laufenden Frist nochmals zur Sache Stellung.

5 c) Mit Schreiben vom beantragte der Beschwerdeführer die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Das in der Akte befindliche Schreiben enthält einen Stempelaufdruck, ausweislich dessen das Schreiben am in den Nachtbriefkasten der Justizbehörden Würzburg gelangte.

6 d) Das Amtsgericht wies die Klage mit Endurteil vom ab. Die Klage sei im Urkundenprozess nicht statthaft. Aus den vom Beschwerdeführer vorgelegten Urkunden ergäben sich nicht sämtliche Tatsachen, die zur Begründung des hier einzig in Betracht kommenden Anspruchs aus § 839a des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) erforderlich seien. Darüber hinaus sei die Klage auch unbegründet und daher in der Sache abzuweisen, denn der Beschwerdeführer habe nicht schlüssig dargelegt, dass das Gutachten unrichtig sei, dass der Sachverständige grob fährlässig gehandelt habe, woraus sich der Schaden ergebe, wie hoch dieser sei und ob die Voraussetzungen des § 839 Abs. 3 BGB vorlägen.

7 3. Das Amtsgericht teilte dem Beschwerdeführer mit Schreiben vom mit, dass das Verfahren durch Urteil vom beendet worden sei. Eine Frist zur Einreichung von Schriftsätzen und Anträgen sei auf den gesetzt worden und damit längst abgelaufen. Der Schriftsatz vom habe bei Fertigung des Urteils am dem erkennenden Gericht nicht vorgelegen und daher keine Berücksichtigung finden können.

8 4. a) Mit Schriftsatz vom erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge. Er forderte sinngemäß, dass eine mündliche Verhandlung nachgeholt wird, und machte geltend, dass sein Recht auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, kein faires Ver-fahren gewährt worden und das Urteil entgegen Art. 3 Abs. 1 GG willkürlich ergangen sei. Er habe mit ausreichenden Beweismitteln dargelegt, dass das Gutachten falsch gewesen und ein Schaden in fünfstelliger Höhe verursacht worden sei. Das Gericht habe die Klage wegen fehlender Unterlagen abgewiesen, ohne den Beschwerdeführer hierauf hinzuweisen oder diese anzufordern.

9 b) Das Amtsgericht wies die Anhörungsrüge mit Beschluss vom zurück. Der Beschwerdeführer habe eine entscheidungserhebliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht dargelegt. Selbst bei einem Hinweis des Gerichts auf vorzulegende Urkunden bezüglich des Schadens und entsprechendem weiterem Vortrag des Beschwerdeführers wäre das Gericht zu keiner anderen Entscheidung gelangt. Ein etwaiger Schadensersatzanspruch scheitere jedenfalls am Unterlassen des Beschwerdeführers, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden (§ 839a Abs. 2, § 839 Abs. 3 BGB). Im Ausgangsverfahren habe der Beschwerdeführer seine Berufung nicht begründet, sodass diese als unzulässig verworfen worden sei. Der Schriftsatz des Beschwerdeführers vom , mit dem dieser die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt habe, sei zwar rechtzeitig vor Erlass des Urteils, und zwar am eingegangen, habe der erkennenden Richterin im Zeitpunkt des Erlasses des Urteils aber aufgrund der Verzögerung infolge des Digitalisierens des Papiers nicht vorgelegen. Ein Anspruch scheitere ungeachtet einer mündlichen Verhandlung an § 839a Abs. 2, § 839 Abs. 3 BGB.

II.

10 Mit seiner fristgemäß am eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1 bis 3, Art. 3 Abs. 1 und 3, Art. 20 Abs. 2 und 3, Art. 33 Abs. 1, Art. 101 Abs. 2 sowie Art. 103 Abs. 1 GG. Das angegriffene Urteil des Amtsgerichts sei unrichtig, da das im Verfahren vor dem Landgericht erstellte Sachverständigengutachten gravierende Fehler aufgewiesen habe, wodurch ihm ein materieller Schaden entstanden sei. Das Amtsgericht habe − wie zuvor das Landgericht − in der Entscheidung die gesetzliche Gewährleistung im Rahmen einer zahnärztlichen Behandlung ignoriert. Es habe zudem einen vom Beschwerdeführer gestellten Antrag auf mündliche Verhandlung abgewiesen, als wäre der Antrag zu spät eingereicht worden. Die Anhörungsrüge sei vom Amtsgericht nicht ernst genommen worden, andernfalls hätte das Gericht diese nicht an die gegnerische Partei weitergeleitet.

III.

11 Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat von einer Stellungnahme abgesehen. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Der Beschwerdeführer hat hierauf erwidert.

12 Die Akten der Ausgangsverfahren haben der Kammer vorgelegen.

IV.

13 Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, da dies zur Durchsetzung des grundrechtsgleichen Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet. Das Endurteil des Amtsgerichts Würzburg vom verletzt den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.

14 1. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidung in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 40, 101 <104>; 87, 1 <33>). Der Gehörsgrundsatz schützt aber nicht davor, dass das Vorbringen aus formell- oder materiell-rechtlichen Gründen unberücksichtigt bleibt (vgl. BVerfGE 96, 205 <216>), dass das Gericht einem tatsächlichen Umstand nicht die richtige Bedeutung beimisst (vgl. BVerfGE 76, 93 <98>) oder dass eine ordnungsgemäße Subsumtion und Entscheidungsbegründung erfolgt (vgl. BVerfGE 65, 293 <295>). Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt auch keine Pflicht der Gerichte, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Das Bundesverfassungsgericht geht daher grundsätzlich davon aus, dass die Gerichte das Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (vgl. BVerfGE 149, 86 <109 Rn. 63>). Art. 103 Abs. 1 GG ist daher erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen klar ergibt, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfGE 65, 293 <295>; 70, 288 <293>; 86, 133 <145 f.>).

15 2. Damit ist das angegriffene amtsgerichtliche Urteil nicht in Einklang zu bringen.

16 a) Das Amtsgericht überging den Antrag des Beschwerdeführers auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung und erließ das angegriffene Urteil, ohne zuvor über den Antrag entschieden zu haben. Das geht bereits aus der Verfügung des und den Gründen im Beschluss vom hervor.

17 b) Die im Beschluss vom angeführte Begründung, der Schriftsatz des Beschwerdeführers habe nach dessen Eingang bei Gericht noch digitalisiert werden müssen und habe daher bei der Erstellung des Urteils nicht vorgelegen, findet im Prozessrecht keine Stütze. Für den Eingang eines Schreibens bei Gericht ist nämlich nicht erforderlich, dass es der richtigen Akte zugeordnet oder der Geschäftsstelle übergeben wird, sondern allein, dass es in den Machtbereich des Gerichts gelangt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 370/22 -, Rn. 26 m.w.N.). Der Antrag des Beschwerdeführers auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung ist noch vor Erlass des gegenständlichen Urteils beim Amtsgericht eingegangen und hätte daher vom Gericht berücksichtigt werden können und müssen.

18 c) Auch der Umstand, dass der Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung erst nach der gesetzten Stellungnahmefrist eingegangen ist, rechtfertigt ein Übergehen des Antrags nicht. Das Amtsgericht hätte zumindest prüfen müssen, ob gemäß § 495a Satz 2 ZPO eine mündliche Verhandlung durchgeführt wird oder der hierauf gerichtete Antrag - soweit man dies einfach-rechtlich für zulässig hält (dagegen Deppenkemper, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 7. Aufl. 2025, § 495a Rn. 39 m.w.N. zur Gegenansicht) - etwa nach § 296 oder § 296a ZPO zurückgewiesen wird. Eine solche Prüfung ist vorliegend aber nicht erfolgt.

19 3. Das Urteil beruht auch auf dem Gehörsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Amtsgericht in der Sache anders entschieden hätte, wenn es den Antrag des Beschwerdeführers berücksichtigt und infolgedessen auf Grundlage einer mündlichen Verhandlung entschieden hätte.

20 a) Unterbleibt eine mündliche Verhandlung, kann in aller Regel nicht ausgeschlossen werden, dass bei Durchführung dieser eine andere Entscheidung ergangen wäre. Eines substantiierten Vortrags des Betroffenen, welcher entscheidungserhebliche Vortrag ihm durch das Unterbleiben der mündlichen Verhandlung abgeschnitten worden sei, bedarf es in diesen Fällen nicht. Denn die mündliche Verhandlung hat grundsätzlich den gesamten Streitstoff in prozess- und materiell-rechtlicher Hinsicht zum Gegenstand. Sie kann so je nach Prozesslage, Verhalten der Gegenseite und Hinweisen des Gerichts zu weiterem Sachvortrag, Beweisanträgen und Prozesserklärungen führen, ohne dass dies im Einzelnen sicher vorhersehbar wäre. Der schlichte Hinweis des Fachgerichts in seiner Entscheidung über die Anhörungsrüge, dass die mündliche Verhandlung an seiner Sachentscheidung letzten Endes nichts hätte ändern können, kann die in diesen Fällen bestehenden Beruhensvermutung nicht entkräften (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1907/18 -, Rn. 11).

21 b) So liegt der Fall hier. Umstände, die in jedem Fall eine andere Entscheidung des Amtsgerichts ausgeschlossen erscheinen ließen, ergeben sich insbesondere nicht daraus, dass das Amtsgericht den geltend gemachten Anspruch deshalb für nicht gegeben angesehen hat, weil der Beschwerdeführer die im vorangegangenen Verfahren eingelegte Berufung nicht begründet hat und damit seiner Obliegenheit aus § 839a Abs. 2 in Verbindung mit § 839 Abs. 3 BGB nicht nachgekommen sein soll. Es ist nämlich nicht nach jeder Denkart auszuschließen, dass sich im Rahmen einer mündlichen Verhandlung ergeben hätte, dass die fehlende Begründung der Berufung dem Beschwerdeführer nicht persönlich vorwerfbar ist und § 839 Abs. 3 BGB keine Anwendung findet. Hierzu verhält sich das Amtsgericht nicht.

22 4. Angesichts der Verletzung des rechtlichen Gehörs bedarf es keiner Prüfung, ob das amtsgerichtliche Urteil zugleich weitere Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte des Beschwerdeführers verletzt.

V.

23 Es war festzustellen, dass das Endurteil des Amtsgerichts Würzburg vom - 18 C 30/23 - den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Das Endurteil war aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht Würzburg zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Der die Anhörungsrüge zurückweisende Beschluss des Amtsgerichts Würzburg vom wird gegenstandslos.

24 Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2025:rk20250724.2bvr137923

Fundstelle(n):
OAAAJ-97568