Suchen Barrierefrei
EuGH Urteil v. - C-397/23

Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Freizügigkeit – Art. 18 AEUV – Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 24 – Grundsatz der Gleichbehandlung – Minderjähriges Kind, das Unionsbürger ist und dem gemäß dieser Richtlinie ein Aufenthaltsrecht zusteht – Zur Ausübung der elterlichen Sorge für dieses Kind erteilte nationale Aufenthaltserlaubnis für einen Elternteil – Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit des Kindes – Elternteil, dem ein Aufenthaltsrecht als Arbeitsuchender zusteht – Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf einen Anspruch auf Sozialhilfe – Reichweite

Leitsatz

Art. 24 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG

ist dahin auszulegen, dass

er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach einem Unionsbürger, der das Sorgerecht für sein minderjähriges Kind hat, nach dem nationalen Recht allein deshalb keine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge erteilt werden darf, weil dieses Kind zwar ebenfalls Unionsbürger ist und sich gemäß dieser Richtlinie in dem Mitgliedstaat aufhält, aber nicht dessen Staatsangehörigkeit besitzt.

Gesetze: AEUV Art. 18, RL 2004/38/EG Art. 2, RL 2004/38/EG Art. 3, RL 2004/38/EG Art. 6, RL 2004/38/EG Art. 14, RL 2004/38/EG Art. 24, VO (EG) Nr. 883/2004 Art. 4

Gründe

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Unionsrechts betreffend das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen FL und dem Jobcenter Arbeitplus Bielefeld (Deutschland, im Folgenden: Jobcenter Bielefeld) wegen der Weigerung dieses Jobcenters, FL Sozialleistungen nach den deutschen Rechtsvorschriften zu bewilligen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2004/38/EG

3 In den Erwägungsgründen 3, 4 und 6 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35) heißt es:

„(3)

Die Unionsbürgerschaft sollte der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt wahrnehmen. Daher müssen die bestehenden Gemeinschaftsinstrumente, die Arbeitnehmer und Selbstständige sowie Studierende und andere beschäftigungslose Personen getrennt behandeln, kodifiziert und überarbeitet werden, um das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken.

(4)

Um diese bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts zu überwinden und die Ausübung dieses Rechts zu erleichtern, ist ein einziger Rechtsakt erforderlich, in dem die Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft [(ABl. 1968, L 257, S. 2)] geändert und die folgenden Rechtsakte aufgehoben werden …

(6)

Um die Einheit der Familie im weiteren Sinne zu wahren und unbeschadet des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit sollte die Lage derjenigen Personen, die nicht als Familienangehörige im Sinne dieser Richtlinie gelten und die daher kein automatisches Einreise- und Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat genießen, von dem Aufnahmemitgliedstaat auf der Grundlage seiner eigenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften daraufhin geprüft werden, ob diesen Personen die Einreise und der Aufenthalt gestattet werden könnte, wobei ihrer Beziehung zu dem Unionsbürger sowie anderen Aspekten, wie ihre finanzielle oder physische Abhängigkeit von dem Unionsbürger, Rechnung zu tragen ist.“

4 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2004/38 sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

2.

‚Familienangehöriger‘

a)

den Ehegatten;

b)

den Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger auf der Grundlage der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine eingetragene Partnerschaft eingegangen ist, sofern nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats die eingetragene Partnerschaft der Ehe gleichgestellt ist und die in den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind;

c)

die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b), die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird;

d)

die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b), denen von diesen Unterhalt gewährt wird;

…“

5 Art. 3 („Berechtigte“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt:

„(1)  Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.

(2)  Unbeschadet eines etwaigen persönlichen Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt der Betroffenen erleichtert der Aufnahmemitgliedstaat nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Einreise und den Aufenthalt der folgenden Personen:

b)

des Lebenspartners, mit dem der Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist.

Der Aufnahmemitgliedstaat führt eine eingehende Untersuchung der persönlichen Umstände durch und begründet eine etwaige Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts dieser Personen.“

6 Art. 6 („Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten“) Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 lautet:

„Ein Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht.“

7 Art. 14 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts“) Abs. 2 und 4 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:

„(2)  Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 7, 12 und 13 zu, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen.

(4)  Abweichend von den Absätzen 1 und 2 und unbeschadet der Bestimmungen des Kapitels VI darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen auf keinen Fall eine Ausweisung verfügt werden, wenn …

b)

die Unionsbürger in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen. In diesem Fall dürfen die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nicht ausgewiesen werden, solange die Unionsbürger nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden.“

8 Art. 24 („Gleichbehandlung“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt:

„(1)  Vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats. …

(2)  Abweichend von Absatz 1 ist der Aufnahmemitgliedstaat jedoch nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b) einen Anspruch auf Sozialhilfe … zu gewähren.“

Verordnung (EG) Nr. 883/2004

9 Art. 4 („Gleichbehandlung“) der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) lautet:

„Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.“

Deutsches Recht

Aufenthalt

10 § 28 („Familiennachzug zu Deutschen“) Abs. 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom (BGBl. I S. 1950) in der durch das Gesetz vom (BGBl. I S. 1386) geänderten Fassung (im Folgenden: AufenthG) sieht vor:

„(1)   Die Aufenthaltserlaubnis ist dem ausländischen

1.

Ehegatten eines Deutschen,

2.

minderjährigen ledigen Kind eines Deutschen,

3.

Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge

zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. …“

11 § 11 Abs. 14 Satz 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern vom (BGBl. I S. 1986) in der durch das Gesetz vom (BGBl. I S. 2416) geänderten Fassung (im Folgenden: FreizügG/EU) lautet:

„Das Aufenthaltsgesetz findet auch dann Anwendung, wenn es eine günstigere Rechtsstellung vermittelt als dieses Gesetz.“

Sozialleistungen

12 § 7 („Leistungsberechtigte“) Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs (Zweites Buch) (im Folgenden: SGB II) in der bis zum geltenden Fassung bestimmte:

„Leistungen nach diesem Buch erhalten Personen, die

1.

das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,

2.

erwerbsfähig sind,

3.

hilfebedürftig sind und

4.

ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte).

Ausgenommen sind

1.

Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbstständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des [FreizügG/EU] freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts,

2.

Ausländerinnen und Ausländer,

a)

die kein Aufenthaltsrecht haben,

b)

deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt …

und ihre Familienangehörigen

Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben …“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

13 FL, der Kläger des Ausgangsverfahrens und polnischer Staatsangehöriger ist, reiste am aus den Niederlanden nach Deutschland ein. Seine Lebensgefährtin, ebenfalls polnische Staatsangehörige, war bereits vor ihm, nämlich am , aus Polen nach Deutschland eingereist. Ihr gemeinsamer Sohn wurde am in Deutschland geboren; auch er ist polnischer Staatsangehöriger.

14 FL, seine Lebensgefährtin und ihr gemeinsames Kind beantragten beim Jobcenter Bielefeld Leistungen der sozialen Grundsicherung nach dem SGB II. Mit Bescheiden vom 3. und gewährte das Jobcenter der Lebensgefährtin von FL ab dem und dem Kind ab dem Tag seiner Geburt die beantragten Leistungen. Dagegen wurde der Antrag von FL mit Bescheid vom für den Zeitraum vom bis zum mit der Begründung abgelehnt, ihm stehe kein Aufenthaltsrecht in Deutschland zu, aus dem er einen Anspruch auf Sozialleistungen nach dem SGB II herleiten könne, da ihm sein Aufenthaltsrecht nur zum Zweck der Arbeitsuche erteilt worden sei.

15 Mit Bescheid vom wies das Jobcenter Bielefeld den von FL gegen diese Entscheidung eingelegten Rechtsbehelf im Wesentlichen aus den gleichen Gründen, auf die es auch seinen ursprünglichen Bescheid gestützt hatte, als unbegründet zurück.

16 Insbesondere ging das Jobcenter Bielefeld bei seiner Feststellung, dass FL in Deutschland kein Aufenthaltsrecht habe, das ihm einen Anspruch auf Sozialleistungen nach dem SGB II eröffnen könne, davon aus, dass erstens FL sich nach nationalem Recht nicht auf ein Aufenthaltsrecht berufen könne, weder als Familienangehöriger noch als nahestehende Person seiner Lebensgefährtin, die ein dauerndes Aufenthaltsrecht habe.

17 Zweitens könne FL ein Aufenthaltsrecht auch nicht nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG allein oder in Verbindung mit § 11 Abs. 14 Satz 1 FreizügG/EU aus der Ausübung der elterlichen Sorge für sein minderjähriges Kind herleiten, da die Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis voraussetze, dass das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit besitze, das Kind von FL aber polnischer Staatsangehöriger sei.

18 Drittens ergibt sich nach Auffassung des Jobcenters Bielefeld ein Aufenthaltsrecht auch weder aus der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1) noch aus Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 in der jeweiligen Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil vom , Jobcenter Krefeld (C‑181/19, EU:C:2020:794). In der Rechtssache, in der jenes Urteil ergangen ist, seien die minderjährigen Kinder schulpflichtig gewesen, was beim Kind von FL nicht der Fall sei.

19 Am erhob FL gegen den Bescheid des Jobcenters Bielefeld vom Klage beim Sozialgericht Detmold (Deutschland), dem vorlegenden Gericht. FL begründet seine Klage im Wesentlichen damit, dass ihm nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG in Verbindung mit Art. 6 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, der u.a. den Schutz der Familie und gleiche Bedingungen für eheliche und uneheliche Kinder vorsehe, und mit Art. 8 („Recht auf Achtung des Privat‑ und Familienlebens“) der am in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ein Aufenthaltsrecht zu erteilen sei. Das Recht auf Familiennachzug zur Ausübung der elterlichen Sorge auf Situationen zu beschränken, in denen das minderjährige Kind die deutsche Staatsangehörigkeit besitze, sei unionsrechtswidrig, da dies nicht nur eine Beschränkung der Freizügigkeit darstelle, sondern auch das Recht auf Gleichbehandlung verletze.

20 Das Jobcenter Bielefeld macht geltend, dass FL keine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erteilt werden könne, da schon nach dessen Wortlaut nur minderjährige Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit unter diese Vorschrift fielen. Dem nationalen Einwanderungs- und Aufenthaltsrecht sei immanent, dass eine Unterscheidung zwischen Deutschen und Ausländern stattfinde. Jedoch verstoße diese Bestimmung deshalb nicht gegen das Unionsrecht.

21 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es in Deutschland sowohl in der Literatur als auch in der Rechtsprechung umstritten sei, ob § 11 Abs. 14 Satz 1 FreizügG/EG in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG und mit Art. 18 Abs. 1 AEUV ein Aufenthaltsrecht für den Elternteil begründen könne, der das Sorgerecht für einen minderjährigen Unionsbürger ausübe, der zwar nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitze, in Deutschland aber ein vom Aufenthaltsrecht seines anderen Elternteils abgeleitetes Aufenthaltsrecht habe. Unter diesen Umständen hält es das vorlegende Gericht für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits für erforderlich, zur Prüfung der Vereinbarkeit der einschlägigen deutschen Regelung mit dem Unionsrecht den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen zu befassen.

22 Hätte FL aus einem anderen Grund als dem der Arbeitsuche ein Aufenthaltsrecht in Deutschland, hätte er nämlich grundsätzlich auch ein Recht auf Sozialleistung nach dem SGB II.

23 Unter diesen Umständen hat das Sozialgericht Detmold beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist das Unionsrecht dahin gehend auszulegen, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach eine Aufenthaltserlaubnis im Rahmen der Personensorge lediglich dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen inländischen Kindes zu erteilen ist, wenn dieses seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, was zur Folge hat, dass Unionsbürger eines Mitgliedstaats einen solchen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Ausübung der Personensorge bei einem minderjährigen Unionsbürger mit der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats als der des Inlandsstaats nicht haben?

Zur Vorlagefrage

24 Zunächst hält erstens die Europäische Kommission es für möglich, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens sich nach Art. 3 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 auf ein Aufenthaltsrecht in Deutschland als „Lebenspartner“ der Mutter des gemeinsamen Kindes berufen kann; hätte er ein solches Recht, sei eine Beantwortung der Vorlagefrage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht mehr erforderlich.

25 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht spricht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom , Amilla, C‑723/23, EU:C:2025:262, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26 Im vorliegenden Fall beantragt der Kläger des Ausgangsverfahrens kein Aufenthaltsrecht im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2004/38, sondern ein Aufenthaltsrecht nach nationalem Recht zur Ausübung der elterlichen Sorge, wobei die Beurteilung der Begründetheit dieses Antrags nach Auffassung des vorlegenden Gerichts einer Auslegung des Unionsrechts bedarf. Allein aus der Möglichkeit, dass der Betroffene gegebenenfalls auch ein anderes Aufenthaltsrecht haben kann, ergibt sich nicht offensichtlich, dass die unionsrechtlichen Vorschriften, um deren Auslegung ersucht wird, in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stehen oder dass das mit dieser Frage aufgeworfene Problem hypothetisch ist.

27 Zweitens möchte das vorlegende Gericht insbesondere wissen, ob einem polnischen Staatsangehörigen, der Vater eines minderjährigen Kindes ist, das ebenfalls polnischer Staatsangehöriger ist und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, eine nationale Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge erteilt werden kann, wenn sich das Kind gemäß der Richtlinie 2004/38 als Familienangehöriger seiner Mutter, die ebenfalls polnische Staatsangehörige und in Deutschland gemäß dieser Richtlinie daueraufenthaltsberechtigt ist, in diesem Land aufhält. Im Übrigen ist dem Vorabentscheidungsersuchen zu entnehmen, dass diese Frage von der Prämisse ausgeht, dass FL in Deutschland nur ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 hat.

28 Weiter ist unstreitig, dass die von FL zur Ausübung der elterlichen Sorge beantragte Aufenthaltserlaubnis ihm Anspruch auf Sozialleistungen eröffnen würde, während er aus dem Aufenthaltsrecht in Deutschland nur zum Zweck der Arbeitsuche nach deutschem Recht keinen Anspruch auf solche Leistungen hätte. Aus diesem Grund macht FL – wie dem Vorabentscheidungsersuchen zu entnehmen ist – beim vorlegenden Gericht geltend, dass ihm eine solche nationale Aufenthaltserlaubnis zu erteilen sei und er folglich Sozialleistungen nach dem SGB II erhalten müsse.

29 Unter diesen Umständen hat auch der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefrage von der in Rn. 27 des vorliegenden Urteils dargestellten Prämisse auszugehen.

30 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wenn in einer Vorlagefrage nur auf das Unionsrecht verwiesen wird, ohne die Vorschriften dieses Rechts, auf die Bezug genommen wird, zu nennen, der Gerichtshof aus dem gesamten von dem vorlegenden Gericht übermittelten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Vorschriften des Unionsrechts herauszuarbeiten hat, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom , Surgicare, C‑662/13, EU:C:2015:89, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31 Im vorliegenden Fall nennt das vorlegende Gericht in seiner Begründung des Vorlagebeschlusses zwar mehrere Vorschriften des Unionsrechts, doch nur für Art. 18 AEUV gibt es den – in Rn. 21 des vorliegenden Urteils dargelegten – Grund an, weshalb es Zweifel hat, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung gegen Unionsrecht verstößt, wobei es, wie Rn. 27 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, von der Prämisse ausgeht, dass im vorliegenden Fall auch die Richtlinie 2004/38 Anwendung findet.

32 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 18 AEUV und/oder die Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach einem Unionsbürger, der das Sorgerecht für sein minderjähriges Kind hat, nach dem nationalen Recht allein deshalb keine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge erteilt werden darf, weil dieses Kind zwar ebenfalls Unionsbürger ist und sich gemäß dieser Richtlinie in dem Mitgliedstaat aufhält, aber nicht dessen Staatsangehörigkeit besitzt.

33 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergibt, dass die Voraussetzungen für die Erteilung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Aufenthaltserlaubnis bei sich in Deutschland aufhaltenden minderjährigen Kindern zu einer Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit führen. Insbesondere kann nach der deutschen Regelung einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge nur erteilt werden, wenn er dieses Sorgerecht für ein minderjähriges lediges Kind ausübt, das seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland und die deutsche Staatsangehörigkeit hat. Folglich kann dem Elternteil, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, eine solche nationale Aufenthaltserlaubnis im Fall eines minderjährigen Kindes, das Unionsbürger ist, aber nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hat, selbst dann nicht erteilt werden, wenn das betroffene Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat.

34 Art. 20 Abs. 1 AEUV verleiht jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers. Dieser ist dazu bestimmt, der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, im sachlichen Anwendungsbereich des AEU‑Vertrags unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen (Urteil vom , The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 62).

35 Deshalb kann sich jeder Unionsbürger in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gemäß Art. 18 AEUV berufen. Zu diesen Situationen gehören diejenigen, die die Ausübung der durch Art. 20 Abs. 2 Buchst. A AEUV und Art. 21 AEUV verliehenen Freiheit betreffen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Urteil vom , The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 63).

36 Da das Kind des Klägers des Ausgangsverfahrens Unionsbürger ist und sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem aufhält, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, fällt seine Situation in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts, so dass es sich grundsätzlich auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gemäß Art. 18 AEUV berufen kann (vgl. entsprechend Urteil vom , The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 64).

37 Nach ständiger Rechtsprechung soll Art. 18 Abs. 1 AEUV eigenständig allerdings nur bei unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen zur Anwendung kommen, für die der AEU‑Vertrag keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsieht (Urteil vom , The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 65).

38 Insoweit wird das Diskriminierungsverbot für Unionsbürger, die von ihrer Freiheit Gebrauch machen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, in Art. 24 der Richtlinie 2004/38 konkretisiert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 66).

39 Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 gelten diese und die durch sie verliehenen Rechte für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Art. 2 Nr. 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen. Dies ist bei einer Person wie dem Kind des Klägers des Ausgangsverfahrens der Fall, das – wie Rn. 27 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist – polnischer Staatsgehöriger ist und sich in Deutschland als Familienangehöriger seiner Mutter aufhält, die ebenfalls polnische Staatsangehörige und in Deutschland daueraufenthaltsberechtigt ist.

40 Unter diesen Umständen bedarf es einer Auslegung von Art. 24 der Richtlinie 2004/38.

41 Was erstens diesen Art. 24 Abs. 1 angeht, genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des AEU‑Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats.

42 Zum einen handelt es sich im vorliegenden Fall, wie Rn. 39 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, beim Kind des Klägers des Ausgangsverfahrens um einen Unionsbürger, der sich im Sinne von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 „aufgrund dieser Richtlinie“ in Deutschland aufhält.

43 Zum anderen fällt die Erteilung einer nationalen Aufenthaltserlaubnis für den Elternteil eines minderjährigen Kindes, das Unionsbürger ist und von seiner Freizügigkeit im Sinne dieses Art. 24 Abs. 1 Gebrauch gemacht hat, in den „Anwendungsbereich des Vertrags“, da die Erteilung einer solchen Erlaubnis der Ausübung des Rechts des betroffenen minderjährigen Kindes, sich im Aufnahmemitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, förderlich sein kann.

44 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, geht aus den Erwägungsgründen 3 und 4 der Richtlinie 2004/38 hervor, dass diese die Ausübung des elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, das den Unionsbürgern unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erwächst, erleichtern und dieses Recht stärken soll. Der Schutz des Familienlebens der Unionsbürger und insbesondere der Erlass von Maßnahmen zur Integration ihrer Familie im Aufnahmemitgliedstaat tragen zur Erreichung dieses Ziel bei (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , État belge [Aufenthaltsrecht im Fall von häuslicher Gewalt], C‑930/19, EU:C:2021:657, Rn. 81 und 82 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Die Erteilung einer nationalen Aufenthaltserlaubnis für den Elternteil eines Kindes, das Unionsbürger ist und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat hat, wird diesen Zielen gerecht, da dadurch das Familienleben dieses Kindes in diesem Mitgliedstaat geachtet und die Integration seiner Familie in diesem Staat gefördert werden kann, zumal die Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis die Ausübung der elterlichen Sorge für dieses Kind grundsätzlich so lange ermöglicht, wie es dieser Sorge untersteht.

45 Somit ist der in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 konkretisierte Grundsatz der Gleichbehandlung, der verlangt, dass Personen, die sich in vergleichbaren Situationen befinden, rechtlich gleich zu behandeln sind, auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende anwendbar.

46 Im Rahmen des Ausgangsverfahrens steht fest, dass FL die von ihm beantragte Aufenthaltserlaubnis allein deshalb nicht erteilt wurde, weil sein Kind nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hat, da er im Übrigen alle sonstigen im deutschen Recht vorgesehenen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erfüllt. Folglich führt die in Rede stehende nationale Regelung zu einer unmittelbaren Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit des Kindes und ist daher unvereinbar mit Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, soweit sie dem Elternteil dieses Kindes, das die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats hat, kein Aufenthaltsrecht zur Ausübung seiner elterlichen Sorge für dieses Kind verleiht, während ein deutsches Kind in einer solchen Situation zum selben Zweck von der Anwesenheit seines Elternteils mit der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats profitieren könnte.

47 Diese Feststellung wird nicht in Frage gestellt durch das Vorbringen der deutschen Regierung in der mündlichen Verhandlung, wonach durch das Aufenthaltsrecht nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG für Deutsche das im Grundgesetz verankerte Grundrecht auf Freizügigkeit im Bundesgebiet geschützt werden soll; diese Vorschrift des AufenthG verhindere, dass ein deutsches Kind gegebenenfalls seinen Heimatstaat verlassen müsse, wenn der ausländische Elternteil kein Aufenthaltsrecht habe. Im Hinblick auf dieses Ziel befänden sich Unionsbürger, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besäßen, in einer anderen Situation, da die Nichtgewährung dieses Aufenthaltsrechts nicht dazu führen könne, dass sie ihr Heimatland verlassen müssten.

48 Selbst wenn einem Unionsbürger ohne deutsche Staatsangehörigkeit ein solches Grundrecht nicht zusteht und er für die Gewährung eines Aufenthaltsrechts gemäß der Richtlinie 2004/38 die in dieser genannten Voraussetzungen für die Ausübung dieses Rechts erfüllen muss, wird ihm gleichwohl, solange diese Voraussetzungen eingehalten werden, wie einem deutschen Unionsbürger das Recht gewährt, sich in Deutschland frei aufzuhalten, so dass ihre Situationen vergleichbar sind, wobei für die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung das Erfordernis der Vergleichbarkeit der Situationen nicht bedeutet, dass sie identisch, sondern nur, dass sie ähnlich sein müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , MB [Geschlechtsumwandlung und Altersrente] C‑451/16, EU:C:2018:492, Rn. 41).

49 Bei einer Regelung wie der in Rn. 46 des vorliegenden Urteils genannten, steht dem Elternteil des Kindes, das nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hat, auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 ein Recht auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge für sein Kind unter denselben Voraussetzungen zu, die gemäß dieser Regelung für ausländische Eltern von Kindern mit deutscher Staatsangehörigkeit gelten.

50 Im vorliegenden Fall soll, wie aus den Rn. 43 und 44 des vorliegenden Urteils hervorgeht, die von FL beantragte Aufenthaltserlaubnis diesem letztlich als Elternteil ohne die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats die Ausübung des Sorgerechts für sein Kind, das dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, und damit – da auch das Kind nicht die deutsche Staatsangehörigkeit, sondern die eines anderen Mitgliedstaats besitzt – die Achtung des Familienlebens dieses Kindes in Deutschland sowie seine Freiheit, sich in Deutschland zu bewegen und aufzuhalten, ermöglichen. Könnte dem Elternteil eines Kindes nicht die nationale Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, die von den Eltern eines Inländers beantragt werden kann, wäre dieses Kind in seinem Recht auf Gleichbehandlung verletzt (vgl. entsprechend Urteil vom , Chief Appeals Officer u.a., C‑488/21, EU:C:2023:1013, Rn. 66 bis 69).

51 Eine Diskriminierung wie die in Rn. 46 des vorliegenden Urteils genannte kann zudem nicht mit Blick auf die in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 vorgesehene Ausnahme gerechtfertigt werden, da das Aufenthaltsrecht des betroffenen Kindes nicht unter die in dieser Bestimmung angeführten Fallgruppen fällt.

52 Zweitens wurde in Bezug auf die Folgen, die sich aus der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis allein nach dem nationalen Recht ergeben, in Rn. 28 des vorliegenden Urteils darauf hingewiesen, dass im vorliegenden Fall nach dem deutschen Recht der Inhaber einer gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis aufgrund dieser Erlaubnis auch Sozialleistung nach dem SGB II beantragen kann. Diese Leistungen wurden FL jedoch mit der Begründung verweigert, dass er in Deutschland nur ein Aufenthaltsrecht als Arbeitsuchender habe.

53 Zwar hält FL sich „aufgrund dieser Richtlinie“ und insbesondere aufgrund von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 als Arbeitsuchender in diesem Mitgliedstaat auf. Art. 24 Abs. 2 dieser Richtlinie erlaubt den Mitgliedstaaten aber ausdrücklich, eine Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung zu machen und einem Antragsteller, dessen Aufenthaltsrecht sich auf Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie stützt, die Gewährung von Sozialleistungen zu verweigern.

54 Würde FL jedoch die von ihm nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG beantragte Aufenthaltserlaubnis erteilt, ließen die in der vorstehenden Randnummer dargestellten Ausführungen allerdings sein Recht auf Gewährung von Sozialleistungen nach dem SGB II unberührt.

55 Zwar kann der nationale Gesetzgeber diese Leistungen FL nämlich als Inhaber eines Rechts auf Aufenthalt nur zur Arbeitsuche gemäß der in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Ausnahme versagen, doch kann FL gegebenenfalls diese Leistungen auf der Grundlage eines anderen Aufenthaltstitels beantragen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Jobcenter Krefeld, C‑181/19, EU:C:2020:794, Rn. 70).

56 Was die Sozialhilfeleistungen angeht, beschränkt sich der Anwendungsbereich dieser Ausnahme tatsächlich auf die Personen, die im Aufnahmemitgliedstaat ein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage zum einen von Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie für einen Zeitraum von höchstens drei Monaten haben und zum anderen nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie über diesen Zeitraum hinaus ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche haben.

57 Folglich findet diese Ausnahme keine Anwendung, wenn das Kind des Betroffenen ein Aufenthaltsrecht im Sinne der Richtlinie 2004/38 hat, es sich bei diesem aber nicht um eines der beiden in der vorstehenden Randnummer genannten handelt.

58 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 24 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach einem Unionsbürger, der das Sorgerecht für sein minderjähriges Kind hat, nach dem nationalen Recht allein deshalb keine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge erteilt werden darf, weil dieses Kind zwar ebenfalls Unionsbürger ist und sich gemäß dieser Richtlinie in dem Mitgliedstaat aufhält, aber nicht dessen Staatsangehörigkeit besitzt.

Kosten

59 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 24 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG

ist dahin auszulegen, dass

er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach einem Unionsbürger, der das Sorgerecht für sein minderjähriges Kind hat, nach dem nationalen Recht allein deshalb keine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge erteilt werden darf, weil dieses Kind zwar ebenfalls Unionsbürger ist und sich gemäß dieser Richtlinie in dem Mitgliedstaat aufhält, aber nicht dessen Staatsangehörigkeit besitzt.

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:602

Fundstelle(n):
RAAAJ-97515