Instanzenzug: Thüringer Oberverwaltungsgericht Az: 3 N 250/21 Beschluss
Gründe
I
1Der Antragsteller begehrt mit seinem Normenkontrollantrag die Feststellung, dass § 1 der Sechsten Thüringer Quarantäneverordnung vom unwirksam war.
2Die vom 3. Februar bis geltende Verordnung sah in ihrer Fassung vom in § 1 unter anderem vor, dass Personen nach einem Aufenthalt in einem Risikogebiet im Sinne des § 2 Nr. 17 IfSG verpflichtet waren, sich unverzüglich nach der Einreise in ihre Haupt- oder Nebenwohnung oder eine andere geeignete Unterkunft zu begeben und sich für einen Zeitraum von zehn Tagen nach ihrer Einreise ständig dort abzusondern. Ihnen war nicht gestattet, Besuch zu empfangen. Ausgenommen waren Haushaltsangehörige, behandelnde Ärzte, medizinisches Personal, Seelsorger und Urkundspersonen entsprechend § 30 Abs. 4 Satz 2 IfSG. Die Absonderungspflicht galt als unterbrochen für die Dauer der Durchführung eines Corona-Tests, für eine unaufschiebbare ärztliche Behandlung und im Falle einer gerichtlichen oder behördlichen Ladung. Die Absonderungspflicht endete vorzeitig frühestens ab dem fünften Tag nach der Einreise aus einem Risikogebiet im Falle des Nachweises des Nichtvorliegens einer Infektion. Die zuständige Behörde konnte über bestimmte, in der Verordnung ausdrücklich genannte Ausnahmen hinaus in begründeten Fällen auf Antrag Ausnahmen bei Vorliegen eines triftigen Grundes zulassen. Verstöße gegen die Verpflichtung waren mit einem Bußgeld bewehrt, unter weiteren Voraussetzungen auch strafbewehrt.
3Mit Beschluss vom hat das Oberverwaltungsgericht den Normenkontrollantrag abgelehnt und die Revision nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die auf alle Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde des Antragstellers.
II
4Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor.
51. Die Rechtssache hat nicht die von dem Antragsteller geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
6a) Der Antragsteller stellt die Frage,
"Handelt es sich bei der Anordnung der Absonderung im Sinne des § 30 Abs. 1 IfSG - auch in Gestalt einer Anordnung durch Verordnung im Sinne des § 32 IfSG - um eine Freiheitsentziehung im Sinne des Art. 104 Abs. 2 GG?".
7Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine für die Revisionsentscheidung erhebliche Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Der geltend gemachte Klärungsbedarf ist durch das Urteil des Senats vom - 3 CN 5.23 - entfallen. Der Senat hat den Antragsteller mit Schreiben vom auf die Entscheidung hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
8Mit Blick auf den Streitgegenstand erheblich ist die Frage hinsichtlich der Anordnung der Absonderung durch Verordnung, hier die Sechste Thüringer Quarantäneverordnung. Zu einer solchen Anordnung, die ihre Grundlage in § 32 Satz 1 i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG findet, hat der Senat in seinem Urteil vom erkannt, dass sie keine Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG ist. Er hat dabei zugrunde gelegt, dass eine Freiheitsentziehung als schwerste Form der Freiheitsbeschränkung erst vorliege, wenn die körperliche Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben werde, was eine besondere Eingriffsintensität voraussetze. Sie sei bei einem unmittelbar körperlich wirkenden Zwang anzunehmen. Ein allein psychisch vermittelter Zwang genüge dann, wenn die von ihm ausgehende Zwangswirkung nach Art und Ausmaß einem unmittelbar wirkenden physischen Zwang vergleichbar sei. Die angeordnete Absonderung erreiche die erforderliche Eingriffsintensität nicht. Sie erfolge - wie hier - nach Wahl des Betroffenen in der eigenen Wohnung oder einer anderen geeigneten Unterkunft. Die Verpflichtung zur mindestens fünftägigen häuslichen Absonderung sei nicht durch weitere Vorkehrungen begleitet, weshalb die von ihr ausgehende Zwangswirkung - auch wenn sie einen gewichtigen Freiheitseingriff darstelle - in Ausmaß und Wirkung nicht von einer Intensität sei, die einer Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG gleichkomme ( 3 CN 5.23 - juris Rn. 42 ff.).
9Eine bereits revisionsgerichtlich geklärte Rechtsfrage kann zwar im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wieder klärungsbedürftig werden, wenn neue Gesichtspunkte von Gewicht vorgebracht werden, die die bisherige Rechtsprechung in Frage stellen und eine erneute revisionsgerichtliche Entscheidung geboten erscheinen lassen (stRspr, vgl. 2 B 22.15 - juris Rn. 18 m. w. N.). Das ist nicht der Fall.
10Die Beschwerde verweist zur Begründung des Klärungsbedarfs auf den u. a. - BVerfGE 159, 223 (Bundesnotbremse I). Mit dieser Entscheidung setzt sich das genannte Urteil des Senats vom (3 CN 5.23) auseinander und legt sie zugrunde. Weiter verweist die Beschwerde auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die Fälle von Hausarrest als Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 5 EMRK betrachtet. Die Auslegung der im Grundgesetz verbürgten Grundrechte empfängt Direktiven von der Europäischen Menschenrechtskonvention; die Gewährleistungen der Konvention leiten die Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes an ( - BVerfGE 158, 1 Rn. 69 f.). Entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung Bundesnotbremse I auf die Konkretisierung einer Freiheitsentziehung im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Bezug genommen (a. a. O. Rn. 250), der bei der Prüfung einer Freiheitsentziehung die konkrete Situation betrachtet und dabei Art, Dauer, Auswirkungen und Durchführung der Maßnahme insgesamt und zusammengenommen untersucht und die Begleitumstände als wichtig erachtet (EGMR, Entscheidung vom - 49933/20, Terhes/Rumänien - NJW 2021, 2101 Rn. 36). Angesichts dessen ergeben sich aus der vom Antragsteller in Bezug genommenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Fällen eines Hausarrests keine neuen Gesichtspunkte, die eine erneute revisionsgerichtliche Entscheidung gebieten.
11Nichts anderes gilt für das in der Beschwerde angeführte u. a. - (BVerfGE 22, 180). Zu den erfolgreichen Normenkontrollanträgen gegen eine sozialhilferechtliche Ermächtigung, eine Person zur Besserung richterlich anzuweisen, sich in einem geeigneten Heim - einem offenen Heim oder in einer Familie - zwangsweise aufzuhalten, hat es deren Vereinbarkeit mit Art. 104 Abs. 2 GG bejaht, weil eine richterliche Entscheidung vorgesehen war. Eine weiterführende Auseinandersetzung mit der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Freiheitsentziehung anzunehmen ist, enthält die Entscheidung nicht (BVerfGE 22, 180 <218 f.>).
12b) Die Frage,
"Verletzt § 30 Abs. 1 IfSG das Zitiergebot gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG und wenn ja, wird dadurch die Rechtsgrundlage für Verordnungen beseitigt, die auf der Grundlage des § 32 IfSG i. V. m. § 30 Abs. 1 IfSG erlassen werden?",
ist durch das Urteil des Senats vom gleichfalls geklärt und zu verneinen ( 3 CN 5.23 - juris Rn. 45). § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG ermächtigt allgemein die zuständigen Behörden, notwendige Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Er verweist für die in Betracht kommenden Maßnahmen insbesondere auch auf die in § 30 geregelte Absonderung. § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG nennt das hier betroffene Freiheitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und bezieht dies auf § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG (BT-Drs. 14/2530 S. 75). Damit ist auch die Absonderung des § 30 Abs. 1 IfSG erfasst. Die Bewertung des Gesetzgebers, dass die Absonderung nach § 30 Abs. 1 IfSG auf Freiwilligkeit setze, steht im Zusammenhang mit dem Folgeabsatz zur zwangsweisen Absonderung und ändert hieran nichts. Zudem nennt § 32 Satz 3 IfSG die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) als Grundrecht, das durch eine auf Grundlage des § 32 Satz 1 i. V. m. §§ 28 bis 31 IfSG erlassene Verordnung eingeschränkt werden kann (vgl. hierzu 3 CN 5.23 - a. a. O.).
13c) Ebenfalls mit dem o. g. Urteil des Senats geklärt ist die Frage,
"Ist der Begriff des 'Ansteckungsverdächtigen' im Sinne des § 30 Abs. 1 IfSG dahin auszulegen, dass die bloße Tatsache der Einreise aus einem bestimmten ausländischen Gebiet ('Risikogebiet') dafür ausreicht oder ausreichen kann, eine Person zum 'Ansteckungsverdächtigen' im Sinne dieser Vorschrift zu machen?".
14Das Oberverwaltungsgericht hat dem Ansteckungsverdacht die Legaldefinition des § 2 Nr. 7 IfSG in der Auslegung durch den Senat zugrundegelegt ( 3 C 16.11 - BVerwGE 142, 205 Rn. 31 ff.). Es hat darauf aufbauend unter Würdigung der Risikobewertung des Robert-Koch-Instituts (RKI) angenommen, dass der Verordnungsgeber bereits eine geringe Wahrscheinlichkeit einer Infektion mit dem Coronavirus habe genügen lassen dürfen, um einen Ansteckungsverdacht anzunehmen. Dafür habe er auf die Einreise aus den durch das RKI eingestuften Risikogebieten im Sinne von § 2 Nr. 17 IfSG abstellen dürfen. Entsprechend käme als für die Revisionsentscheidung erheblich nur die Fragevariante in Betracht, ob die Einreise aus einem Risikogebiet ausreichen kann. Das hat der Senat in seinem Urteil vom - 3 CN 5.23 - bejaht (juris Rn. 32 f.) und das gegenläufige, vom Antragsteller in Bezug genommene Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom - 20 N 20.2861 - aufgehoben. Der Hinweis des Klägers auf den Parlamentsvorbehalt und seine Bewertung, das Oberverwaltungsgericht habe mit seiner Entscheidung eine geradezu unerwartete Erweiterung des Infektionsschutzes vorgenommen, begründet ebenso wenig wie sein weiteres Vorbringen zum bloßen Aufenthalt in Risikogebieten einen neuen Klärungsbedarf.
15Weiteren Klärungsbedarf begründet auch nicht die Erweiterung der Frage, ob eine Einreise aus einem Risikogebiet ausreichen kann,
"und zwar selbst dann, wenn das erkennbare allgemeine Ansteckungsrisiko im ausländischen Risikogebiet nicht höher oder sogar niedriger ist als im Inland?".
16Aus dem Begriff des Ansteckungsverdachts, wie er der Legaldefinition des § 2 Nr. 7 IfSG zugrunde liegt, folgt ohne Weiteres, dass sein Bestehen davon abhängig ist, ob die betreffende Person hinreichend wahrscheinlich infektionsrelevanten Kontakten ausgesetzt war. Auf ein Risiko, dem sie nicht ausgesetzt war - hier das allgemeine Infektionsrisiko im Inland - kommt es dafür nicht an. Zutreffend hat das Oberverwaltungsgericht insoweit darauf hingewiesen, dass sich die Frage eines Ansteckungsverdachts nicht in Abhängigkeit davon beantwortet, ob und inwieweit auch andere Personen oder Personengruppen als ansteckungsverdächtig betrachtet werden können.
17Auch die in diesem Zusammenhang mit Schriftsatz vom nachgeschobene Frage,
"ob (nur) bei Vorliegen einer 'flächendeckenden Ansteckungsverdächtigkeit' der gesamten Bevölkerung in einem ausländischen Risikogebiet angenommen werden kann, dass für Einreisende aus diesem Gebiet ein Ansteckungsverdacht besteht?",
führt nicht weiter. Das Oberverwaltungsgericht hat die Einreise aus den durch das RKI eingestuften Risikogebieten im Sinne von § 2 Nr. 17 IfSG zur Begründung eines Ansteckungsverdachts genügen lassen. Es hat dazu das Vorgehen des RKI erläutert und dessen aus einer Vielzahl epidemiologischer Kriterien abgeleitete Risikobewertung als hinreichend aussagekräftige Tatsachengrundlage gewürdigt. Damit setzt sich der Antragsteller nicht auseinander und arbeitet keine klärungsbedürftige Rechtsfrage heraus (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Soweit er sich hinsichtlich des Begriffs einer 'flächenhaften Ansteckungsverdächtigkeit' auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs bezieht, der seinerseits auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg verweist ( - juris Rn. 182), haben sich diese zu dem Begriff alleine mit der Zahl der damals erfassten Infektionen in Deutschland befasst. In der Rechtsprechung des Senats ist aber geklärt, dass für die Feststellung eines Ansteckungsverdachts verschiedene Aspekte und Erkenntnisquellen von Bedeutung sein können ( 3 C 16.11 - BVerwGE 142, 205 Rn. 33 ff. und vom - 3 CN 5.23 - juris Rn. 32).
18d) Mit den weiteren Fragen,
"Handelt es sich bei der allgemeinen Anordnung der Absonderung nach der Einreise aus einem ausländischen Risikogebiet um eine unverhältnismäßige Einschränkung der Grundrechte, insbesondere der Freiheit der Person oder der Freizügigkeit, insbesondere dann, wenn das erkennbare allgemeine Ansteckungsrisiko im Risikogebiet nicht höher oder sogar niedriger ist als im Inland?",
"Ist die Absonderungspflicht für Einreisende aus einem ausländischen Risikogebiet mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) insoweit vereinbar, als Reisende aus einem inländischen und einem ausländischen Risikogebiet ungleich behandelt werden, insbesondere dann, wenn das erkennbare allgemeine Ansteckungsrisiko im Risikogebiet nicht höher oder sogar niedriger ist als im Inland?"
und
"Ist die allgemeine Anordnung der Absonderung nach der Einreise aus einem ausländischen Risikogebiet, das in einem EU-Mitgliedstaat liegt, mit dem Recht der Europäischen Union, insbesondere dem europarechtlichen Gleichheitssatz (Art. 20 Charta der Grundrechte), der Freizügigkeit der Unionsbürger (Art. 21 AEUV) sowie der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) vereinbar, wenn das erkennbare allgemeine Ansteckungsrisiko im Risikogebiet nicht höher oder sogar niedriger ist als im Inland?",
begehrt der Antragsteller eine grundrechtliche Überprüfung der Verpflichtung zur Absonderung nach der Sechsten Thüringer Quarantäneverordnung. In dieser Gestalt betreffen die Fragen Recht des Freistaats Thüringen, das kein revisibles Recht ist (§ 137 Abs. 1 VwGO). Darzulegen wären klärungsbedürftige Rechtsfragen zur Auslegung des Grundgesetzes, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtecharta) und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und damit zu einem revisiblen Maßstab der Rechtsanwendung (stRspr, vgl. 6 B 42.97 - juris Rn. 8 m. w. N.). Derartige Fragen wirft die Beschwerde nicht auf. Auch die Verpflichtung eines nationalen Gerichts, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, Fragen über die Auslegung der Verträge oder der Grundrechtecharta (Art. 6 Abs. 1 Halbs. 2 EUV) dem Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen (Art. 267 Abs. 3 AEUV), führt deshalb nicht zur Zulassung der Revision. Zwar lässt sich nicht von vornherein ausschließen, dass sich in einem Revisionsverfahren noch klärungsbedürftige Fragen zur Auslegung von Unionsrecht ergeben könnten. Das enthebt den Antragsteller jedoch nicht davon, derartige Fragen unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO im Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision darzulegen (vgl. - juris Rn. 15 und [ECLI:EU:C:2002:329], Lyckeskog - Rn. 16 ff.).
192. Die Revision ist auch nicht gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen einer Divergenz zuzulassen.
20Eine die Revision eröffnende Divergenz ist nur dann dargetan, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz von einem in der Rechtsprechung eines der in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO genannten Gerichte aufgestellten ebensolchen, die Entscheidung tragenden Rechtssatz abgewichen ist (stRspr, vgl. 3 BN 7.22 - juris Rn. 13 f. m. w. N.).
21a) Der Antragsteller meint, der angefochtene Beschluss weiche von dem u. a. - (BVerfGE 22, 180) ab. Ihm liege - mindestens implizit - der Rechtssatz zugrunde, die bloße Anweisung an eine Person, sich in einem bestimmten Heim oder in einer Familie aufzuhalten, sei eine Freiheitsentziehung im Sinne des Art. 104 Abs. 2 GG. Ein solcher, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts tragender Rechtssatz lässt sich diesem - wie ausgeführt - jedoch nicht entnehmen. Dem Urteil liegt allenfalls zugrunde, dass im Fall einer solchen Anweisung eine Freiheitsentziehung vorliegen kann.
22b) Der angefochtene Beschluss beruht auch nicht auf einer Abweichung von dem 3 C 16.11 - (BVerwGE 142, 205). Die Aussagen des Urteils zu konkret-individuell gebotenen Ermittlungen zur Feststellung eines Ansteckungsverdächtigen bezogen sich auf eine individuelle Maßnahme nach § 28 Abs. 1 IfSG (Schulbetretungsverbot). Diese hat das Oberverwaltungsgericht auf den Erlass von Rechtsverordnungen gemäß § 32 Satz 1 IfSG und deren abstrakt-generellen Ansatz übertragen. Dem stand das Urteil schon wegen seines abweichenden Streitgegenstands nicht entgegen. Im Übrigen hat der Senat in seinem Urteil vom - 3 CN 5.23 - bestätigt, dass bei Erlass einer Rechtsverordnung eine individuelle Anamnese der Betroffenen nicht erforderlich ist (a. a. O. juris Rn. 33).
233. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts weist auch nicht den geltend gemachten Verfahrensmangel auf (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
24Der Antragsteller macht geltend, das Ermessen des Oberverwaltungsgerichts, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (§ 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO), sei durch Art. 6 Abs. 1 EMRK beschränkt gewesen, weil der Rechtsstreit einen "zivilrechtlichen" Rechtsstreit betreffe. Aufgrund der Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK sei das Oberverwaltungsgericht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung verpflichtet gewesen.
25Art. 6 Abs. 1 EMRK begründet unter anderem ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche von einem Gericht öffentlich verhandelt wird, womit sich ein Anspruch auf mündliche Verhandlung verbindet (vgl. EGMR, Urteil vom - 17895/14, Evers/Deutschland - NJW 2021, 3441 Rn. 94). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte fallen nicht nur Streitigkeiten wie etwa über die präventive Sicherungsverwahrung (EGMR, Urteil vom - 10211/12, I./Deutschland - juris Rn. 114) in den Anwendungsbereich zivilrechtlicher Ansprüche, sondern auch andere Beschränkungen der persönlichen Freiheit wie beispielsweise eine polizeiliche Sonderüberwachung mit Einschränkungen der Freiheit, den Wohnort und nachts die Wohnung zu verlassen (EGMR, Urteil vom - 43395/09, de Tommaso/Italien - NVwZ-RR 2018, 651 Rn. 143 ff.). Im Lichte dieser Rechtsprechung und mit den Ausführungen des Antragstellers ist nicht zweifelhaft, dass die vorliegende Streitigkeit über die Verpflichtung zur Absonderung in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK fällt.
26Die Beschwerde übergeht jedoch, dass die aus Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Verpflichtung zu einer mündlichen Verhandlung nicht uneingeschränkt gilt. Ausnahmen von dem Recht auf eine mündliche Verhandlung kommen u. a. in Betracht, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen, die ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung rechtfertigen. Derartige Umstände können sich unter anderem in Fällen ergeben, die rein juristische Fragestellungen oder sehr technische Fragen zum Gegenstand haben (EGMR, Urteil vom - 17895/14, Evers/Deutschland - NJW 2021, 3441 Rn. 95). Das Vorliegen rechtfertigender Umstände hängt im Wesentlichen von der Art der zu entscheidenden Fragen ab, nicht von der Häufigkeit derartiger Situationen, weshalb die Weigerung, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, nicht nur in seltenen Fällen zu rechtfertigen ist. Es kann Verfahren geben, in denen eine mündliche Verhandlung entbehrlich ist, zum Beispiel, wenn es nicht um die Glaubwürdigkeit oder um bestrittene Tatsachen geht, die eine Verhandlung erfordern, und die Gerichte fair und angemessen auf der Grundlage des Parteivortrags und anderer schriftlicher Unterlagen entscheiden können (EGMR, Urteil vom - 23621/11, Fröbrich/Deutschland - NJW 2017, 2331 Rn. 35).
27Der Rechtsstreit vor dem Oberverwaltungsgericht konzentrierte sich entsprechend dem dortigen Vortrag des Antragstellers auf Rechtsfragen, namentlich den Parlamentsvorbehalt, den Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 GG, die Frage einer diskriminierenden Beschränkung der Freizügigkeit (Art. 21 Abs. 1 AEUV) und einer willkürlichen Ungleichbehandlung. Die tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung standen nicht in Streit. Vor diesem Hintergrund vermag der Senat nicht zu erkennen, dass die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, durch Beschluss zu entscheiden, im Lichte von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu beanstanden wäre. Der Antragsteller hat insoweit auch nichts dargetan (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).
28Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2025:300625B3BN5.24.0
Fundstelle(n):
WAAAJ-97146