Vorlage zur Vorabentscheidung – Staatliche Beihilfen – Art. 107 Abs. 1 AEUV – Von der Europäischen Kommission genehmigte Beihilferegelung – Stützung der Wirtschaft im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie – Versagung einer Beihilfe durch die zuständige Behörde – Klage, mit der beantragt wird, dass das angerufene Gericht den Erlass eines begünstigenden Verwaltungsakts ex nunc anordnet – Ablauf der Frist für die Gewährung der Beihilfe während des Gerichtsverfahrens – Zeitpunkt, zu dem die Beihilfe als gewährt gilt – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf – Verordnung (EU) 2015/1589 – Art. 1 – Bestehende Beihilfe
Leitsatz
Art. 107 Abs. 1 AEUV und Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
sind dahin auszulegen, dass
sie der Auslegung einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der eine Einzelbeihilfe, die unter eine von der Europäischen Kommission genehmigte nationale Beihilferegelung fällt, nicht zu dem Zeitpunkt als im Sinne dieser Bestimmung des AEU‑Vertrags „gewährt“ angesehen werden kann, zu dem die zuständige nationale Behörde einem Einzelnen die Beihilfe, die dieser innerhalb der Frist für ihre Gewährung beantragt hat, zu Unrecht versagt hat, wenn nach Ablauf dieser Frist durch gerichtliche Entscheidung die Rechtswidrigkeit der Versagung festgestellt wird.
Art. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 [AEUV]
ist dahin auszulegen, dass
eine Einzelbeihilfe, die zu dem Zeitpunkt als gewährt gilt, zu dem die zuständige Behörde sie einem Einzelnen, der sie innerhalb der Frist für ihre Gewährung beantragt hat, zu Unrecht versagt hat, die aber in Vollzug eines begünstigenden Verwaltungsakts, der aufgrund einer gerichtlichen Anordnung erlassen wurde, mit der die Rechtswidrigkeit der Versagung festgestellt worden war, nach Ablauf der genannten Frist an den Einzelnen ausgezahlt wird, als „bestehende Beihilfe“ im Sinne dieser Bestimmung einzustufen ist.
Gesetze: AEUV Art. 107 Abs. 1, AEUV Art. 108, EUGrdRCh Art. 47, VO (EU) 2015/1589 Art. 1 Buchst. b Ziff. ii
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 107 Abs. 1 AEUV und von Art. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 [AEUV] (ABl. 2015, L 248, S. 9).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „TOODE“ SIA und dem Valsts ieņēmumu dienests (nationale Steuerverwaltung, Lettland) (im Folgenden: Steuerverwaltung) wegen eines Bescheids, mit dem die Steuerverwaltung TOODE eine Beihilfe zur Sicherstellung der Betriebsmittelflüsse von Unternehmen, die von der Covid-19-Krise betroffen sind, versagt hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung 2015/1589
3 Art. 1 der Verordnung 2015/1589 bestimmt:
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
…
‚bestehende Beihilfen‘
...
genehmigte Beihilfen, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die von der [Europäischen] Kommission oder vom Rat [der Europäischen Union] genehmigt wurden;
...
‚neue Beihilfen‘ alle Beihilfen, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die keine bestehenden Beihilfen sind, einschließlich Änderungen bestehender Beihilfen;
...
Mitteilung über den Befristeten Rahmen
4 Die Mitteilung der Kommission über den Befristeten Rahmen für staatliche Beihilfen zur Stützung der Wirtschaft angesichts des derzeitigen Ausbruchs von Covid-19 (2020/C 91 1/01, ABl. 2020, C 91 I, S. 1) wurde am im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht und danach siebenmal geändert. In den Rn. 21 und 22 in Abschnitt 3.1 („Begrenzte Beihilfebeträge“) dieser Mitteilung in der Fassung der Mitteilung der Kommission vom (2021/C 473/01, ABl. 2021, C 473, S. 1) (im Folgenden: Mitteilung über den Befristeten Rahmen) hieß es:
Über die bestehenden Möglichkeiten auf der Grundlage des Artikels 107 Absatz 3 Buchstabe c AEUV hinaus kann unter den gegenwärtigen Umständen die vorübergehende Gewährung begrenzter Beihilfebeträge an Unternehmen, die sich einem plötzlichen Liquiditätsengpass oder der gänzlichen Nichtverfügbarkeit von Liquidität gegenübersehen, eine geeignete, erforderliche und gezielte Lösung darstellen.
Die Kommission wird solche staatlichen Beihilfen als nach Artikel 107 Absatz 3 Buchstabe b AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar ansehen, sofern sämtliche folgenden Voraussetzungen erfüllt sind …:
…
die Beihilfe wird spätestens am gewährt …;
…“
Lettisches Recht
5 Art. 250 Abs. 2 des Administratīvā procesa likums (Verwaltungsgerichtsordnung) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung bestimmt:
„Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts berücksichtigen die Gerichte in ihrer Entscheidung ausschließlich die Gründe, die die Behörde in ihren Verwaltungsakt aufgenommen hat. Die genannte Einschränkung gilt nicht in Fällen, in denen der Erlass eines begünstigenden Verwaltungsakts begehrt wird.“
6 Art. 254 Abs. 1 dieses Gesetzes lautet:
„Hält ein Gericht den Antrag auf Erlass eines Verwaltungsakts für begründet, weist es die Behörde an, den entsprechenden Verwaltungsakt zu erlassen.“
7 Am erließen die lettischen Behörden die Ministru kabineta noteikumi Nr. 676 „Noteikumi par atbalstu Covid-19 krīzes skartajiem uzņēmumiem apgrozāmo līdzekļu plūsmas nodrošināšanai“ (Verordnung Nr. 676 des Ministerkabinetts über die Regelung von Beihilfen zur Sicherstellung der Betriebsmittelflüsse von Unternehmen, die von der Covid-19-Krise betroffen sind) (Latvijas Vēstnesis, 2020, Nr. 222A, im Folgenden: lettische Beihilfevorschriften). Die mit den am in Kraft getretenen lettischen Beihilfevorschriften eingeführte Beihilferegelung wurde im Einklang mit den Anforderungen in Abschnitt 3.1 der Mitteilung über den Befristeten Rahmen errichtet. Mit dem Beschluss SA.59592 (2020/N) vom erklärte die Kommission diese Regelung u.a. mit der Maßgabe als mit dem Binnenmarkt vereinbar, dass die betreffenden Beihilfen spätestens am gewährt würden, wobei dieser Zeitpunkt später durch den Beschluss SA.100596 (2021/N) der Kommission vom bis zum verlängert wurde.
8 Art. 23 der lettischen Beihilfevorschriften in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung sah vor:
„Die Beihilfe gilt als an dem Tag gewährt, an dem die [Steuerverwaltung] beschlossen hat, sie zu gewähren.“
9 Art. 24 dieser Vorschriften lautete:
„Die Entscheidung wird in Einklang mit [der Mitteilung über den] Befristeten Rahmen bis zum erlassen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
10 Am 25. März und am beantragte TOODE bei der Steuerverwaltung, ihr die nationale Beihilfe zur Sicherstellung der Betriebsmittelflüsse von Unternehmen, die von der Covid-19-Krise betroffen sind, zu gewähren. Mit zwei ursprünglichen Bescheiden vom 23. April und sowie zwei endgültigen Bescheiden vom 9. Juni und versagte die Steuerverwaltung die beantragte Beihilfe mit der Begründung, dass TOODE eine der in den lettischen Beihilfevorschriften vorgesehenen Bedingungen hinsichtlich des Umsatzrückgangs nicht erfülle.
11 Nachdem TOODE erfolglos Klage bei einem erstinstanzlichen Gericht erhoben hatte, legte sie am bei der Administratīvā apgabaltiesa (Regionalverwaltungsgericht, Lettland), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein. Mit dieser Berufung begehrt TOODE gemäß Art. 254 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung, dass das vorlegende Gericht die Steuerverwaltung anweist, einen begünstigenden Verwaltungsakt zu erlassen, mit dem die beantragte Beihilfe gewährt wird.
12 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die oben genannte nationale Beihilferegelung – wie sich aus Rn. 7 des vorliegenden Urteils ergibt – von der Kommission u.a. mit der Maßgabe für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt worden ist, dass die betreffenden Beihilfen gemäß Art. 24 der lettischen Beihilfevorschriften und Rn. 22 Buchst. d der Mitteilung über den Befristeten Rahmen spätestens am gewährt werden. Diese Frist sei während des bei ihm anhängigen Verfahrens abgelaufen.
13 Das vorlegende Gericht führt aus, dass es im Rahmen der auf Erlass eines begünstigenden Verwaltungsakts gerichteten Berufung von TOODE prüfen müsse, ob dieses Unternehmen die beantragte Beihilfe noch in Anspruch nehmen könne. Insoweit müsse es den Zeitpunkt bestimmen, zu dem diese Beihilfe als „gewährt“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV gelte, da es sich dabei um einen wesentlichen Gesichtspunkt für die Feststellung handele, ob diese Beihilfe eine „bestehende“ oder eine „neue“ staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 1 der Verordnung 2015/1589 darstelle. Nach lettischem Recht könnten die nationalen Gerichte den Erlass von begünstigenden Verwaltungsakten jedoch nur für die Zukunft (ex nunc) anordnen.
14 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass eine Beihilfe zu dem Zeitpunkt als gewährt gelte, zu dem dem Begünstigten nach nationalem Recht ein sicherer und unbedingter Rechtsanspruch auf die Beihilfe zugesprochen werde. In Anbetracht dessen, dass die Steuerverwaltung TOODE nie einen Anspruch auf die beantragte Beihilfe zuerkannt habe, könne ein solcher sicherer und unbedingter Rechtsanspruch für einen Einzelnen wie TOODE grundsätzlich erst im Anschluss an eine gerichtliche Entscheidung entstehen, wenn das Gericht nach einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle gemäß Art. 250 Abs. 2 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung feststelle, dass dieser Einzelne alle im nationalen Recht vorgesehenen Bedingungen für den Erhalt der fraglichen Beihilfe erfülle und die zuständige Behörde auf der Grundlage von Art. 254 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung anweise, einen begünstigenden Verwaltungsakt für die Zukunft zu erlassen.
15 Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass eine Beihilfe, die die zuständige Behörde einer Person nach Ablauf einer von der Kommission genehmigten nationalen Beihilferegelung gewährt habe, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs als „neue“ Beihilfe einzustufen sei. Es möchte allerdings wissen, ob diese Rechtsprechung auf den Fall übertragbar ist, dass die zuständige Verwaltungsbehörde die Beihilfe zu Unrecht versagt hat, obwohl die Beihilferegelung noch in Kraft war, und dass diese Verwaltungsbehörde nach Ablauf der Beihilferegelung durch gerichtliche Entscheidung angewiesen wird, die Beihilfe zu gewähren und den Beihilfebetrag auszuzahlen.
16 Unter diesen Umständen hat die Administratīvā apgabaltiesa (Regionalverwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 107 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen, dass eine staatliche Beihilfe in dem Moment „gewährt“ wurde, in dem die zuständige Behörde es zu Unrecht abgelehnt hat, den Anspruch eines Einzelnen auf die Gewährung der staatlichen Beihilfe zu bejahen, sofern dies durch eine gerichtliche Entscheidung festgestellt wird, die nach Ablauf der für die Gewährung der Beihilfe festgelegten Frist ergeht?
Ist Art. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung 2015/1589 dahin auszulegen, dass eine Beihilfe eine bestehende Beihilfe darstellt, wenn sie – mangels einer von der zuständigen Behörde innerhalb der Frist für ihre Gewährung erlassenen Entscheidung, mit der der Anspruch auf Gewährung der Beihilfe anerkannt wird – einem Einzelnen nach Ablauf der in der Beihilferegelung festgelegten Frist für ihre Gewährung in Vollzug einer gerichtlichen Entscheidung gewährt wird, wonach er innerhalb der in der Beihilferegelung festgelegten Frist für die Gewährung der Beihilfe alle im nationalen Recht für ihre Inanspruchnahme vorgesehenen Voraussetzungen erfüllte und die Versagung der Beihilfe durch die zuständige Behörde rechtswidrig war?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Vorbemerkungen
17 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 107 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass eine staatliche Beihilfe, die unter eine von der Kommission genehmigte nationale Beihilferegelung fällt, zu dem Zeitpunkt im Sinne dieser Bestimmung als „gewährt“ anzusehen ist, zu dem die zuständige nationale Behörde den Anspruch eines Einzelnen auf die Beihilfe, die dieser innerhalb der Frist für ihre Gewährung beantragt hat, zu Unrecht versagt hat, wenn nach Ablauf dieser Frist durch gerichtliche Entscheidung die Rechtswidrigkeit der Versagung festgestellt wird.
18 Insoweit geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass Beihilfen zu dem Zeitpunkt als „gewährt“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV gelten, zu dem der Beihilfeempfänger nach dem geltenden nationalen Recht einen Rechtsanspruch auf die Beihilfe erwirbt. Das entscheidende Kriterium für die Bestimmung des Zeitpunkts, zu dem die Empfänger einen Rechtsanspruch auf eine staatliche Beihilfe durch eine bestimmte Maßnahme erworben haben, ist der Erwerb eines sicheren Rechtsanspruchs der Begünstigten auf diese Beihilfe und die daraus folgende entsprechende Verpflichtung des Staates zur Gewährung der Beihilfe. Zu diesem Zeitpunkt ist eine solche Maßnahme nämlich geeignet, eine Wettbewerbsverzerrung herbeizuführen, die im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Magdeburger Mühlenwerke, C‑129/12, EU:C:2013:200, Rn. 40, und vom , Kommission/European Food u.a., C‑638/19 P, EU:C:2022:50, Rn. 115 und 123).
19 Das vorlegende Gericht hat daher nach dem einschlägigen nationalen Recht und unter Beachtung des Unionsrechts den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem die im Ausgangsverfahren in Rede stehende staatliche Beihilfe als gewährt anzusehen ist. Dazu muss es sämtliche Voraussetzungen berücksichtigen, die im nationalen Recht für die Gewährung der Beihilfe vorgesehen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Magdeburger Mühlenwerke, C‑129/12, EU:C:2013:200, Rn. 41, und vom , INAIL, C‑608/19, EU:C:2020:865, Rn. 31 und 32).
20 Insbesondere hat das vorlegende Gericht zu klären, ob das nationale Recht in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Annahme zulässt, dass der sichere Rechtsanspruch auf die betreffende Beihilfe zu dem Zeitpunkt ex tunc als erworben anzusehen ist, zu dem die zuständige Behörde rechtmäßig hätte handeln müssen, d.h. zum Zeitpunkt der unrechtmäßigen Versagung durch die Behörde, oder ob das nationale Recht vielmehr nur dahin ausgelegt werden kann, dass die Versagungsentscheidung der Behörde, selbst wenn sie für rechtswidrig erklärt werden sollte, dem Antragsteller keinen sicheren Rechtsanspruch auf den Erhalt der Beihilfe verschaffen konnte.
21 In Anbetracht dessen, dass aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts hervorgeht, dass das nationale Recht offenbar nur im letztgenannten Sinne ausgelegt werden kann, ist jedoch darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zweckdienliche Antwort zu geben. Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Der Gerichtshof kann veranlasst sein, für seine sachdienliche Antwort unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Tissier, 35/85, EU:C:1986:143, Rn. 9, und vom , LatRailNet und Latvijas dzelzceļš, C‑144/20, EU:C:2021:717, Rn. 29).
22 Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Beihilferegelung im Wesentlichen die Frist für die Gewährung der Beihilfe auf der Grundlage der in der Mitteilung über den Befristeten Rahmen vorgesehenen Frist festlegte und dass diese Regelung mit Beschluss der Kommission u.a. im Hinblick darauf für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt wurde, dass diese Frist ihr einen vorübergehenden Charakter verlieh. Daraus folgt, dass die Anwendung dieser Regelung eine Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) darstellt.
23 Im Übrigen hat der Gerichtshof bereits darauf hingewiesen, dass die Anwendung der Unionsvorschriften im Bereich der staatlichen Beihilfen auf einer Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten einerseits und der Kommission und den Unionsgerichten andererseits beruht, in deren Rahmen jeder entsprechend der ihm durch den Vertrag zugewiesenen Rolle handelt (Urteil vom , Deutsche Lufthansa, C‑284/12, EU:C:2013:755, Rn. 41). Insoweit ist es mangels einer einschlägigen Unionsregelung Sache des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus der Unionsrechtsordnung erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, wobei die Mitgliedstaaten allerdings für die Wahrung des in Art. 47 Abs. 1 der Charta verbürgten Rechts auf effektiven gerichtlichen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , E.ON Földgáz Trade, C‑510/13, EU:C:2015:189, Rn. 49 und 50, sowie vom , ASG 2, C‑253/23, EU:C:2025:40, Rn. 75). Nach Art. 47 Abs. 1 der Charta hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.
24 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 107 Abs. 1 AEUV und Art. 47 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie der Auslegung einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der eine Einzelbeihilfe, die unter eine von der Kommission genehmigte Beihilferegelung fällt, nicht zu dem Zeitpunkt als im Sinne dieser Bestimmung des AEU-Vertrags „gewährt“ angesehen werden kann, zu dem die zuständige nationale Behörde einem Einzelnen die Beihilfe, die dieser innerhalb der Frist für ihre Gewährung beantragt hat, zu Unrecht versagt hat, wenn nach Ablauf dieser Frist durch gerichtliche Entscheidung die Rechtswidrigkeit der Versagung festgestellt wird.
Beantwortung der Frage
25 Da die Auslegung des lettischen Rechts, wie aus Rn. 21 des vorliegenden Urteils hervorgeht, offenbar dazu führt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Beihilfe erst zum Zeitpunkt des in Vollzug einer gerichtlichen Entscheidung erfolgenden Erlasses eines begünstigenden Verwaltungsakts als im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV „gewährt“ gelten kann, wäre der Erlass eines solchen Verwaltungsakts und damit die Vollstreckung der gerichtlichen Entscheidung nicht möglich, wenn, wie im vorliegenden Fall, die Frist für die Gewährung der Beihilfe während des gerichtlichen Verfahrens abgelaufen ist.
26 Eine Beihilfe, die zu einem Zeitpunkt gewährt wird, zu dem ihre Genehmigung durch die Kommission nicht mehr in Kraft ist, muss nämlich aufgrund dessen, dass es sich dabei um eine neue Beihilfe handelt, nach Art. 108 Abs. 3 AEUV bei der Kommission angemeldet werden und darf nicht durchgeführt werden, solange die Kommission nicht ihre Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt festgestellt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Eco Fox u.a., C‑915/19 bis C‑917/19, EU:C:2021:887, Rn. 36, und vom , Autonome Provinz Bozen, C‑102/21 und C‑103/21, EU:C:2022:272, Rn. 32, 34 und 42).
27 Daraus folgt, dass die Wirksamkeit des in Art. 47 Abs. 1 der Charta garantierten Rechts auf einen Rechtsbehelf für einen Einzelnen wie TOODE in dem in Rn. 25 des vorliegenden Urteils beschriebenen Fall nicht gewährleistet werden könnte, obwohl nach einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle durch gerichtliche Entscheidung anerkannt wäre, dass der Kläger, der die betreffende Beihilfe beantragt hat, ursprünglich alle Bedingungen erfüllte, um die Beihilfe in dem durch die betreffende Beihilferegelung festgelegten zeitlichen Rahmen in Anspruch zu nehmen.
28 Die Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung ist jedoch integraler Bestandteil des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 47 der Charta. Dieses Recht wäre nämlich illusorisch, wenn die Rechtsordnung eines Mitgliedstaats es zuließe, dass eine endgültige und bindende gerichtliche Entscheidung zulasten einer Partei wirkungslos bleibt (Urteile vom , Toma und Biroul Executorului Judecătoresc Horaţiu-Vasile Cruduleci, C‑205/15, EU:C:2016:499, Rn. 43, und vom , Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 57).
29 Folglich schreibt Art. 47 Abs. 1 der Charta als Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung in dem in Rn. 25 des vorliegenden Urteils genannten Fall vor, dass die nationalen Gerichte nationale Rechtsvorschriften unangewendet lassen müssen, die der Annahme entgegenstehen, dass die Einzelbeihilfe zum Zeitpunkt der ablehnenden Entscheidung der zuständigen Behörde gewährt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 61, und vom , Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 139 und 140 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Unter diesen Umständen muss der Zeitpunkt, zu dem diese Beihilfe als im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV „gewährt“ gilt, dem Zeitpunkt entsprechen, zu dem die zuständige Behörde dem Unternehmen zu Unrecht eine Ablehnung erteilt hat.
30 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 107 Abs. 1 AEUV und Art. 47 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie der Auslegung einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der eine Einzelbeihilfe, die unter eine von der Kommission genehmigte nationale Beihilferegelung fällt, nicht zu dem Zeitpunkt als im Sinne dieser Bestimmung des AEU-Vertrags „gewährt“ angesehen werden kann, zu dem die zuständige nationale Behörde einem Einzelnen die Beihilfe, die dieser innerhalb der Frist für ihre Gewährung beantragt hat, zu Unrecht versagt hat, wenn nach Ablauf dieser Frist durch gerichtliche Entscheidung die Rechtswidrigkeit der Versagung festgestellt wird.
Zur zweiten Frage
31 Zunächst ist in Anbetracht der Antwort auf die erste Frage festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Beihilfe zum Zeitpunkt der ablehnenden Bescheide der Steuerverwaltung, d.h. vor Ablauf der Frist für die Gewährung der Beihilfe, als gewährt anzusehen ist.
32 Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort auf die zweite Frage zu geben, ist diese Frage daher so zu verstehen, dass damit im Wesentlichen geklärt werden soll, ob Art. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung 2015/1589 dahin auszulegen ist, dass eine Einzelbeihilfe, die zu dem Zeitpunkt als gewährt gilt, zu dem die zuständige Behörde sie einem Einzelnen, der sie innerhalb der Frist für ihre Gewährung beantragt hat, zu Unrecht versagt hat, die aber in Vollzug eines begünstigenden Verwaltungsakts, der aufgrund einer gerichtlichen Anordnung erlassen wurde, mit der die Rechtswidrigkeit der Versagung festgestellt worden war, nach Ablauf der genannten Frist an den Einzelnen ausgezahlt wird, als „bestehende Beihilfe“ im Sinne dieser Bestimmung einzustufen ist.
33 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 1 Buchst. b Ziff. ii dieser Verordnung „bestehende Beihilfen“ genehmigte Beihilfen sind, was Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen umfasst, die von der Kommission oder vom Rat genehmigt wurden. Nach Art. 1 Buchst. c der Verordnung sind „neue Beihilfen“ hingegen alle Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die keine bestehenden Beihilfen sind, einschließlich Änderungen bestehender Beihilfen.
34 Der Gerichtshof hat darüber hinaus entschieden, dass eine Beihilfe ab dem Zeitpunkt, zu dem das geltende nationale Recht dem Begünstigten einen sicheren Rechtsanspruch auf eine Beihilfe verleiht, als gewährt anzusehen ist, so dass es nicht auf die tatsächliche Übertragung der fraglichen Mittel ankommt (Urteile vom , Arriva Italia u.a., C‑385/18, EU:C:2019:1121, Rn. 36, und vom , Azienda Sanitaria Provinciale di Catania, C‑128/19, EU:C:2021:401, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass eine staatliche Beihilfe wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, wenn sie als zu einem Zeitpunkt gewährt gilt, zu dem ihre Genehmigung durch die Kommission in Kraft war, als „genehmigte Beihilfe“ und damit als „bestehende Beihilfe“ im Sinne von Art. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung 2015/1589 einzustufen ist, und zwar unabhängig davon, ob sie nach Ablauf der von der Kommission genehmigten Beihilferegelung ausgezahlt wird.
36 Wie der Generalanwalt in Nr. 47 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann eine solche Auslegung den Wettbewerb auf dem Markt nicht verfälschen. In Anbetracht dessen, dass eine Maßnahme, wie sich aus der in Rn. 18 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem der sichere Rechtsanspruch auf eine staatliche Beihilfe eingeräumt wurde, geeignet ist, eine Wettbewerbsverzerrung herbeizuführen, die im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann, versetzt die Auszahlung einer Beihilfe wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nach Ablauf der betreffenden Beihilferegelung den Antragsteller nämlich in die Lage, in der er sich hätte befinden müssen, wenn die zuständige Behörde rechtmäßig gehandelt hätte, und ermöglicht damit gerade die Wiederherstellung des Wettbewerbsgleichgewichts auf dem Markt.
37 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung 2015/1589 dahin auszulegen ist, dass eine Einzelbeihilfe, die zu dem Zeitpunkt als gewährt gilt, zu dem die zuständige Behörde sie einem Einzelnen, der sie innerhalb der Frist für ihre Gewährung beantragt hat, zu Unrecht versagt hat, die aber in Vollzug eines begünstigenden Verwaltungsakts, der aufgrund einer gerichtlichen Anordnung erlassen wurde, mit der die Rechtswidrigkeit der Versagung festgestellt worden war, nach Ablauf der genannten Frist an den Einzelnen ausgezahlt wird, als „bestehende Beihilfe“ im Sinne dieser Bestimmung einzustufen ist.
Kosten
38 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Art. 107 Abs. 1 AEUV und Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
sind dahin auszulegen, dass
sie der Auslegung einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der eine Einzelbeihilfe, die unter eine von der Europäischen Kommission genehmigte nationale Beihilferegelung fällt, nicht zu dem Zeitpunkt als im Sinne dieser Bestimmung des AEU‑Vertrags „gewährt“ angesehen werden kann, zu dem die zuständige nationale Behörde einem Einzelnen die Beihilfe, die dieser innerhalb der Frist für ihre Gewährung beantragt hat, zu Unrecht versagt hat, wenn nach Ablauf dieser Frist durch gerichtliche Entscheidung die Rechtswidrigkeit der Versagung festgestellt wird.
Art. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 [AEUV]
ist dahin auszulegen, dass
eine Einzelbeihilfe, die zu dem Zeitpunkt als gewährt gilt, zu dem die zuständige Behörde sie einem Einzelnen, der sie innerhalb der Frist für ihre Gewährung beantragt hat, zu Unrecht versagt hat, die aber in Vollzug eines begünstigenden Verwaltungsakts, der aufgrund einer gerichtlichen Anordnung erlassen wurde, mit der die Rechtswidrigkeit der Versagung festgestellt worden war, nach Ablauf der genannten Frist an den Einzelnen ausgezahlt wird, als „bestehende Beihilfe“ im Sinne dieser Bestimmung einzustufen ist.
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:517
Fundstelle(n):
AAAAJ-95824