BVerfG Urteil v. - 1 BvR 1949/24

Erfolgreicher Eilantrag im Verfassungsbeschwerdeverfahren bzgl der Veröffentlichung von Informationen über Verstöße gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften nach § 40 Abs 1a S 1 Nr 3 LFBG - Folgenabwägung: Geringeres Gewicht des Informationsanspruchs der Öffentlichkeit bei länger zurückliegendem Verstoß (hier: eineinhalb Jahre)

Gesetze: § 32 Abs 1 BVerfGG, Art 12 Abs 1 GG, § 40 Abs 1a S 1 Nr 3 LFGB, § 123 Abs 1 VwGO

Instanzenzug: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Az: 8 B 676/23 Beschlussvorgehend VG Frankfurt Az: 5 L 1045/23.F Beschluss

Gründe

1 Verfassungsbeschwerde und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffen Entscheidungen über die Veröffentlichung von Informationen über Verstöße gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften nach § 40 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuchs (Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch – LFGB).

I.

2 Die Beschwerdeführerin betreibt einen Event-, Catering- und Partyservice. Bei der Untersuchung einer ihrer Betriebsstätten am stellte das Ordnungsamt der Stadt (…) Verstöße gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften fest, hörte die Beschwerdeführerin hierzu an und teilte zugleich mit, Informationen über das Ergebnis der Kontrolle veröffentlichen zu wollen. Den hiergegen angestrengten Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom ab. Die hiergegen erhobene Beschwerde wies der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom zurück.

II.

3 Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.

4 1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Maßnahmen vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache zu entscheidende Verfassungsbeschwerde erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 140, 99 <106 Rn. 11>; 143, 65 <87 Rn. 35>; stRspr).

5 Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 <111>; stRspr).

6 2. Bei Anlegen dieser Maßstäbe ist der Erlass der einstweiligen Anordnung geboten. Der Antrag ist zulässig und begründet.

7 a) Die Verfassungsbeschwerde erscheint nach gegenwärtigem Verfahrensstand, jedenfalls soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG rügt, weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Insbesondere wahrt sie den Grundsatz der Subsidiarität (vgl. § 90 Abs. 2 BVerfGG). Die Beschwerdeführerin hat vor den Fachgerichten erfolglos und erschöpfend um einstweiligen Rechtsschutz ersucht. Auf die vorherige Durchführung eines Verfahrens in der Hauptsache kann sie hingegen nicht verwiesen werden. Allein wegen dessen voraussichtlicher Dauer könnte damit effektiver Rechtsschutz nicht erlangt werden. So hat bereits die Durchführung des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens 15 Monate in Anspruch genommen. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Stadt bei Erhebung der Hauptsacheklage mit einer Veröffentlichung weiter zuwartete.

8 b) Die gebotene Folgenabwägung führt unter Berücksichtigung der von der Beschwerdeführerin dargelegten Nachteile im Falle einer Veröffentlichung der Ergebnisse der lebensmittelrechtlichen Kontrolle zum Erlass der einstweiligen Anordnung.

9 aa) Erginge die begehrte einstweilige Anordnung nicht und hätte die Verfassungsbeschwerde später gleichwohl Erfolg, träten durch die absehbare Veröffentlichung der Informationen über das Ergebnis der Kontrolle irreversible Schäden ein, denn der mit der Veröffentlichung einhergehende mögliche Ansehensverlust der Beschwerdeführerin könnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Infolgedessen kann es zu Umsatzeinbußen bis hin zu einer Existenzvernichtung kommen (vgl. dazu BVerfGE 148, 40 <53 Rn. 34>). Dies gilt auch unter Berücksichtigung, dass die Veröffentlichung einen zeitlich schon weiter zurückliegenden Verstoß beträfe und die Behörde für den Fall, dass die festgestellten Mängel im Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits vollständig beseitigt sein sollten, angekündigt hat, dies entsprechend zu erwähnen. Denn es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Einträge über alte Verstöße von Verbraucherinnen und Verbrauchern durchgehend als solche erkannt werden (vgl. – für alte, also bereits vor längerer Zeit veröffentlichte Beiträge – BVerfGE 148, 40 <61 Rn. 58>).

10 bb) Erginge die einstweilige Anordnung und wäre die Verfassungsbeschwerde nachfolgend erfolglos, müsste die Stadt mit einer Veröffentlichung von Informationen über die festgestellten Mängel weiter zuwarten. Dies ginge zu Lasten der Informationsinteressen von Verbraucherinnen und Verbrauchern, widerspräche aber auch der allgemeinen Zielsetzung des Lebensmittelrechts, Konsumenten durch Vorbeugung gegen eine oder Abwehr einer Gefahr für die menschliche Gesundheit zu schützen.

11 cc) In der Abwägung dieser Folgen überwiegen die auf Seiten der Beschwerdeführerin zu berücksichtigenden Nachteile, die im Falle der Erfolglosigkeit des Antrags auf einstweilige Anordnung einträten, im Vergleich mit den negativen Folgen, die bei Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung entstünden. Einerseits griffe eine Veröffentlichung tief in die Berufsfreiheit der Beschwerdeführerin ein. Auf der anderen Seite käme der veröffentlichten Information jedenfalls aktuell, mithin eineinhalb Jahre nach der Feststellung des Verstoßes, nur noch ein geringer Wert für Konsumentscheidungen und den Gesundheitsschutz zu. Eine weitere Verzögerung der Veröffentlichung fiele demgegenüber nicht mehr ausschlaggebend ins Gewicht.

12 Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2024:rk20240905.1bvr194924

Fundstelle(n):
KAAAJ-75364