BAG Urteil v. - 6 AZR 152/22 (A)

Betriebsbedingte Kündigung nach Insolvenzeröffnung - Massenentlassungsanzeige

Leitsatz

Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV um die Beantwortung der folgenden Fragen ersucht:

1. Ist der Zweck der Massenentlassungsanzeige erfüllt und somit eine Sanktion entbehrlich, wenn die nationale Arbeitsagentur eine - objektiv fehlerhafte - Massenentlassungsanzeige nicht beanstandet und sich damit als ausreichend informiert betrachtet, um ihren Aufgaben innerhalb der Fristen des Art. 4 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) nachkommen zu können?

Gilt dies jedenfalls dann, wenn die Erreichung des Zwecks von Art. 3 MERL durch eine nationale arbeitsförderungsrechtliche Vorschrift sichergestellt ist und/oder die nationale Arbeitsagentur eine Pflicht zur Amtsermittlung hat?

2. Sofern die erste Frage verneint wird: Kann der Zweck von Art. 3 MERL noch erfüllt werden, wenn eine fehlerhafte oder gänzlich fehlende Massenentlassungsanzeige nach Zugang der Kündigung korrigiert bzw. ergänzt oder nachgeholt werden kann?

3. Wenn bei einer fehlerhaften oder fehlenden Massenentlassungsanzeige die Entlassungssperre nach Art. 4 Abs. 1 MERL die Sanktion für Fehler bei der Anzeige sein sollte, welcher Anwendungsbereich verbleibt dann insoweit noch für Art. 6 MERL?

Gesetze: Art 3 EGRL 59/98, § 134 BGB, § 17 Abs 1 KSchG, § 45 Abs 3 ArbGG, Art 267 Abs 2 AEUV, Art 4 Abs 1 EGRL 59/98, Art 4 Abs 3 EGRL 59/98

Instanzenzug: Az: 10 Ca 6101/20 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Düsseldorf Az: 5 Sa 47/21 Urteil

Gründe

1Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3, Art. 4 und Art. 6 MERL.

2Das Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines Kündigungsschutzverfahrens. Gegenstand der Vorlage sind Fragen zur Auslegung der MERL. Diese Auslegung ist Voraussetzung dafür, damit im nationalen Recht eine Sanktion für Fehler im Massenentlassungsverfahren nach Art. 3 f. MERL entwickelt werden kann. Dieser Teil des vor Massenentlassungen durchzuführenden Verfahrens wird im nationalen Recht und auch im Folgenden als „Anzeigeverfahren“ bezeichnet.

3Die Klägerin war seit dem Jahr 2012 bei der Luftfahrtgesellschaft Walter mbH (im Folgenden Schuldnerin), die ca. 348 Arbeitnehmer beschäftigte, als Flugkapitänin tätig.

4Am beschloss die Schuldnerin die Einstellung des Geschäftsbetriebs mit sofortiger Wirkung. Zuvor hatte sie mit Schreiben vom das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG), der Norm, durch die Art. 2 MERL in das nationale Recht umgesetzt worden ist, mit der Personalvertretung der Flugkapitäne im Hinblick auf Entlassungen dieser Arbeitnehmer eingeleitet.

5Mit Beschluss vom eröffnete das Insolvenzgericht das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin. Der Beklagte trat als vom Gericht bestellter Insolvenzverwalter kraft Amtes in die Arbeitgeberstellung ein und übt für die Dauer des Insolvenzverfahrens die Funktion des Arbeitgebers aus.

6Mit Schreiben vom erstattete der Beklagte Massenentlassungsanzeige. Dieser war keine abschließende Stellungnahme der Arbeitnehmervertretung beigefügt. Auch die nach nationalem Recht alternativ mögliche Darlegung des Stands der Beratungen war nicht ausreichend erfolgt. Es wurde nur darauf hingewiesen, dass das Konsultationsverfahren aufgenommen worden sei und fortgesetzt werde. Angaben zum Inhalt der Gespräche fehlten.

7Den Eingang der Massenentlassungsanzeige des Beklagten bestätigte die Agentur für Arbeit mit dem Hinweis, es werde „ausschließlich“ der Empfang der Unterlagen bestätigt.

8Nachdem er bereits Anfang Juli 2020 dem Kabinen- und Bodenpersonal, für das keine Arbeitnehmervertretungen gebildet waren, gekündigt hatte, kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin und weiterer Piloten mit Schreiben vom im Massenentlassungskontext. Die Kündigungen wurden mit der Frist des im Insolvenzfall anwendbaren § 113 Insolvenzordnung (InsO) von drei Monaten zum Monatsende erklärt.

9Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) lautet auszugsweise:

10Das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) dient in seinem Dritten Abschnitt auch der Umsetzung der MERL. Diesbezüglich bestimmt es auszugsweise:

11Das Sozialgesetzbuch (SGB) lautet in seinem Dritten Buch (III) auszugsweise wie folgt:

12Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts sind die Bestimmungen von Art. 3, Art. 4 und Art. 6 MERL ausschlaggebend.

13Der Beklagte hat die Anzeige erstattet, bevor das Konsultationsverfahren beendet war. Zudem hat er der Anzeige weder eine abschließende Stellungnahme der Arbeitnehmervertretung beigefügt noch den Stand der Beratungen inhaltlich dargelegt. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt allein davon ab, ob die Kündigung wegen dieser Verstöße gegen die Pflicht zur Erstattung einer ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige nichtig ist. Andere nach nationalem Recht mögliche Unwirksamkeitsgründe liegen nach der Überzeugung des Senats nicht vor.

141. Das nationale Recht sieht keine ausdrückliche Sanktion vor, wenn ein Arbeitgeber keine oder eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige erstattet hat. Bisher hat das Bundesarbeitsgericht angenommen, dass die Rechtsfolge für solche Fehler § 134 BGB zu entnehmen ist, Kündigungen also nichtig sind. Das Arbeitsverhältnis besteht bis zu einer neuen, wirksamen Kündigung fort. Vor dieser Kündigung ist, sofern die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG überschritten sind, ein neues Konsultations- und Anzeigeverfahren durchzuführen. In der Regel ist das Arbeitsentgelt bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses weiter bzw. nachzuzahlen.

15a) An dieser Rechtsprechung will der Sechste Senat nicht festhalten. Zwar ist die Nichtigkeit der Kündigung als Rechtsfolge von Fehlern im Anzeigeverfahren eine Sanktion, die dem Grundsatz des effet utile genügt. Sie verstößt jedoch gegen den von den Mitgliedstaaten bei der Festsetzung von Sanktionen auch im Anwendungsbereich der MERL zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl.  - [Kommission/Vereinigtes Königreich] Rn. 40). Sie ist erstens als Sanktion ungeeignet, weil sie auf der individualarbeitsvertraglichen Ebene ansetzt, obwohl die Arbeitsagentur im Anzeigeverfahren die Willensbildung des Arbeitgebers, die zur Kündigung geführt hat, weder beeinflussen kann noch soll. Sie ist zweitens auch nicht angemessen, weil sie entgegen der Konzeption der MERL ( - [AGET Iraklis] Rn. 31) in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit eingreift. Dem Arbeitgeber wird dauerhaft untersagt, die beabsichtigten Kündigungen zum gewünschten Zeitpunkt umzusetzen, obwohl das gerade nicht das Ziel der ihn im Anzeigeverfahren treffenden Pflichten ist. Damit werden Fehler im Anzeigeverfahren strenger bestraft als andere Fehler im deutschen Kündigungsschutzrecht ( (B) - Rn. 29, 33, 35 ff.).

16b) Nach nationalem Recht kann der Sechste Senat diese Rechtsprechungsänderung nur vornehmen, wenn sich dem der Zweite Senat, der ebenfalls angenommen hat, Fehler bei der Anzeige oder deren unterlassene Erstattung hätten die Nichtigkeit der Kündigung zur Folge, anschließt. Das dafür maßgebliche Verfahren ist in § 45 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) geregelt:

17Dieses Verfahren hat der Sechste Senat mit seiner Anfrage vom (- 6 AZR 157/22 (B) -) eingeleitet. Der Zweite Senat hat als angefragter Senat dem Gerichtshof mit Beschluss vom (- 2 AS 22/23 (A) -, Az. beim Gerichtshof - C-134/24 -) Fragen im Zusammenhang mit der Auslegung der MERL im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vorgelegt.

182. Der Sechste Senat hält eine Vorlage an den Gerichtshof zur Beantwortung der unter C III bis V erläuterten Fragen trotz des Vorlagebeschlusses des Zweiten Senats des - 2 AS 22/23 (A) -) zu der Rechtsfolge von Fehlern im Massenentlassungsanzeigeverfahren für erforderlich.

19a) Eine Vorlage an den Gerichtshof gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV ist nach dessen ständiger Rechtsprechung nur möglich, wenn beim vorlegenden Gericht ein Rechtsstreit anhängig ist und es im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden hat, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt. Die Vorlageberechtigung ist sowohl anhand struktureller als auch anhand funktioneller Kriterien zu prüfen ( - Rn. 36 mwN). Entscheidend ist dabei die spezifische Natur der Aufgaben in dem ausgeübten konkreten normativen Kontext der Einrichtung, in dem sie sich zur Vorlage an den Gerichtshof veranlasst sieht. Ein und dieselbe Einrichtung kann daher je nachdem, ob sie im konkreten Kontext gerichtliche oder andere Funktionen, insbesondere administrativer Art, ausübt, als „Gericht“ iSv. Art. 267 AEUV qualifiziert werden oder nicht ( - [CityRail] Rn. 43 mwN). So hat der Gerichtshof die Eigenschaft als „Gericht“ beispielsweise abgelehnt im Fall eines Amtsgerichts, soweit es mit der Bestellung eines Nachlassliquidators befasst war, weil sich dabei nicht zwei Personen kontradiktorisch gegenüberstanden ( - [Amiraike Berlin] Rn. 17 ff.). Auch im Fall einer Rechtsanwaltskammer hat der Gerichtshof die Vorlageberechtigung verneint, weil diese lediglich mit einem Antrag, der auf eine Erklärung zu einer Meinungsverschiedenheit zwischen einem Rechtsanwalt und Gerichten eines anderen Mitgliedstaats gerichtet war, befasst war ( - [Borker] Rn. 4).

20b) Vor diesem Hintergrund bestehen beim vorlegenden Senat Bedenken, ob der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts in dem Verfahren nach § 45 Abs. 3 ArbGG die Eigenschaft als „Gericht“ iSv. Art. 267 Abs. 2 AEUV besitzt und damit vorlageberechtigt an den Gerichtshof ist.

21Die Bedenken folgen daraus, dass der zu entscheidende Rechtsstreit über die Wirksamkeit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses zwischen der Klägerin und dem Beklagten noch immer ausschließlich bei dem nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG anfragenden Senat - hier dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts - anhängig ist (vgl. zu diesem Erfordernis  - [Holto] Rn. 17) und nicht bei dem Zweiten Senat. Die an Letzteren gerichtete Frage ist unabhängig vom konkreten Rechtsstreit über die Kündigung zu beantworten. Der konkrete normative Kontext, auf dessen Grundlage die Vorlageberechtigung des angefragten Zweiten Senats zu beurteilen ist, ist die Beantwortung der ihm gestellten abstrakten rechtsstreitübergreifenden Frage, ob er an einer bestimmten Rechtsauffassung festhält. Deshalb stehen sich bei der Anfrage nach § 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG auch nicht zwei Parteien kontradiktorisch gegenüber. Die Parteien des beim Sechsten Senat anhängigen Rechtsstreits über die Wirksamkeit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses werden in dem Verfahren nach § 45 Abs. 3 ArbGG vom Zweiten Senat weder gehört noch findet vor diesem eine öffentliche Verhandlung statt, in der die Parteien ihre Argumente zu der Frage, ob eine bestimmte Rechtsprechung aufgegeben wird, vorbringen können (zu diesem Aspekt und C-59/13 - [Torresi] Rn. 27). Zudem können die Parteien das Verfahren nach § 45 ArbGG nicht selbst initiieren (vgl. hierzu  - [Greis Unterweger] Rn. 2, 4). Dies kann nur der für die Entscheidung des Rechtsstreits zuständige Senat, hier der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts. Es handelt sich beim Verfahren nach § 45 Abs. 3 ArbGG vielmehr um ein rein innergerichtliches Zwischen- bzw. Vorverfahren, dessen Durchführung Zulässigkeitsvoraussetzung für die Anrufung des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts ist (§ 45 Abs. 3 Satz 1 ArbGG). Die Antwort des angefragten Senats würde dann nicht in einem Verfahren ergehen, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt. Es würde an der Regelung eines streitigen Sachverhalts mit materieller Rechtskraftwirkung gegenüber den Verfahrensbeteiligten fehlen (hierzu  - [Margarit Panicello] Rn. 34) und damit an der funktionellen Eigenschaft als Gericht. Dieser Einschätzung steht auch nicht entgegen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Bestimmungen des nationalen Rechts, die zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Befassung übergeordneter Spruchkörper (zB Großer Senat) verlangen, die Befugnis des mit der Rechtssache befassten nationalen Gerichts zur Vorlage an den Gerichtshof nicht einschränken können ( - Rn. 32 ff.). Gericht in diesem Sinne wäre nach Vorstehendem der anfragende Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts, nicht dessen Zweiter Senat.

22Der Zweite Senat kann jedoch ohne Auslegung der Art. 3, Art. 4 Abs. 1 bis Abs. 3 sowie Art. 6 MERL durch den Gerichtshof die Anfrage des Sechsten Senats zu den Sanktionen für Fehler im Anzeigeverfahren nicht beantworten ( (A) - Rn. 7 f.). Darum sieht sich der Sechste Senat gehalten, seinerseits den Gerichtshof anzurufen, damit unabhängig von Fragen der von Amts wegen zu prüfenden Zulässigkeit der Vorlage an den Gerichtshof dieser die erforderliche Auslegung der MERL vornehmen kann. Anschließend können in dem von § 45 ArbGG vorgesehenen Verfahren die nach dem nationalen Recht eintretenden Folgen einer fehlerhaften Massenentlassungsanzeige für die Kündigung festgelegt werden.

23Die erste Vorlagefrage korrespondiert mit der vierten Vorlagefrage des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts im Verfahren - C-134/24 -.

241. Insoweit stellt sich die Tatsachen- und Rechtslage im nationalen Recht wie folgt dar: Die Arbeitsagentur bestätigt regelmäßig den Eingang der Massenentlassungsanzeige und verwendet dabei häufig Formulierungen wie „Ihre o. g. Anzeige ist hier am … eingegangen. Damit beginnt die in § 18 Abs. 1 KSchG festgesetzte (zum Teil wird auch formuliert: festzusetzende) Frist von einem Monat am ... und endet am …“. Es gibt aber auch, wie der vorliegende Fall zeigt, Schreiben der Arbeitsagenturen, in denen ausdrücklich nur der Eingang der Anzeige und der dieser beigefügten Unterlagen bestätigt wird. Vereinzelt trifft die Arbeitsagentur auch noch eine Entscheidung über die Dauer der Sperrfrist, erlässt also einen Sperrzeitbescheid. In der Mehrzahl der Fälle ergeht dagegen kein solcher Bescheid, der von den in § 20 Abs. 1 KSchG genannten Entscheidungsträgern und nicht von dem Sachbearbeiter, der die Eingangsbestätigung erstellt, zu erlassen ist. Die Behörde bleibt insoweit untätig. Nach der Rechtsprechung des Zweiten und des Sechsten Senats des Bundesarbeitsgerichts ist die bloße Bestätigung des Empfangs der Massenentlassungsanzeige kein Verwaltungsakt, der die Arbeitsgerichte bei der Prüfung, ob die Anzeige fehlerhaft ist, binden würde. Das gilt auch für eine ohne Prüfung des Sachverhalts in der Eingangsbestätigung „festgesetzte“ bzw. „festzusetzende“ Sperrfrist. Selbst ein Sperrzeitbescheid hindert die Arbeitsgerichte nicht daran, die Unwirksamkeit der Massenentlassungsanzeige zu prüfen und Fehler der Anzeige zu sanktionieren. Ein solcher Bescheid bindet die Gerichte nur hinsichtlich des Endes der Entlassungssperre (st. Rspr.,  - Rn. 111, BAGE 169, 362; - 2 AZR 276/16 - Rn. 33, BAGE 157, 1; - 6 AZR 780/10 - Rn. 65 ff., BAGE 142, 202). Gegen einen solchen Bescheid können weder die Arbeitnehmer ( - BSGE 11, 14; - B 11 AL 64/12 B -) noch der Betriebsrat ( -;  -) klagen. Sie sind an dem Verfahren nach §§ 18, 20 KSchG nicht beteiligt. Dieses betrifft nur das Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitsagentur ( -).

252. In der weit überwiegenden Zahl der Massenentlassungen gibt es nach der vorstehend geschilderten Rechtslage keine behördlichen Feststellungen zum Ende der Entlassungssperre, die die Arbeitsgerichte binden. Eine Bindung bezüglich der Ansicht der Arbeitsagentur, die Anzeige sei ordnungsgemäß erfolgt, besteht in keinem Fall. Für den Sechsten Senat stellt sich aber die Frage, ob der Zweck des Anzeigeverfahrens erreicht ist, wenn die Arbeitsagentur die Massenentlassungsanzeige prüft, nicht beanstandet und so zu erkennen gibt, dass sie sich für ausreichend informiert hält, um ihrer aktive Rolle im Anzeigeverfahren zu genügen (dazu  - [G GmbH] Rn. 34 ff.). Dann bedürfte es im nationalen Recht keiner Sanktion, so dass sich auch die in Rn. 21 des Vorlagebeschlusses im Verfahren - C-134/24 - aufgeworfene Folgefrage nach dem Erfordernis eines effektiven und wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes (Art. 6 MERL, Art. 47 GRC) vor Fehlern im Anzeigeverfahren nicht stellen würde.

26Für die Beantwortung der Frage könnte auch von Bedeutung sein, ob die Erreichung des mit Art. 3 und Art. 4 MERL verfolgten Zwecks durch nationale arbeitsförderungsrechtliche Vorschriften sichergestellt werden kann, die eine Mitwirkung des Arbeitgebers zur Vermeidung oder Verkürzung der Arbeitslosigkeit vorsehen, auch wenn sie außerhalb des formal durch §§ 17 ff. KSchG umgesetzten Massenentlassungsverfahrens geregelt sind. Eine solche Vorschrift stellt im deutschen Recht die Regelung des § 2 SGB III dar. Diese Norm bezweckt eine Verbesserung des Zusammenwirkens von Arbeitgeber, Arbeitnehmer und den Agenturen für Arbeit. Der Arbeitgeber wird zur frühzeitigen Mitwirkung veranlasst, um so im Sinne der Solidargemeinschaft den Eintritt von Arbeitslosigkeit möglichst zu vermeiden und die Dauer eingetretener Arbeitslosigkeit möglichst zu begrenzen ( - zu II 1 b bb (3) der Gründe, BAGE 116, 78). Zudem wird die Arbeitsagentur auch durch die in § 38 Abs. 1 SGB III geregelte Verpflichtung des Arbeitnehmers, sich deutlich vor Ablauf der Kündigungsfrist arbeitsuchend zu melden, an die sich nach § 38 Abs. 1a SGB III unverzüglich eine erste Beratung anschließen soll, frühzeitig über die auf den Arbeitsmarkt gelangenden Arbeitnehmer informiert. Von Bedeutung könnte ferner sein, dass die Arbeitsagentur im Massenentlassungsverfahren zur Amtsermittlung verpflichtet ist ( (A) - Rn. 12).

271. Die zweite Vorlagefrage korrespondiert mit der ersten bis dritten Frage im Verfahren - C-134/24 -.

28a) Läuft die Entlassungssperre erst nach einer ordnungsgemäßen Massenentlassungsanzeige an ( (A) - Rn. 16), dann könnte diese Sperre bezüglich einer erklärten Kündigung bei fehlender oder fehlerhafter Anzeige nur überwunden werden, wenn eine Nachholung der Anzeige möglich ist. Anderenfalls müsste stets eine neue Kündigung erklärt werden.

29b) Der Sechste Senat zweifelt anders als der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts daran, dass der von Art. 3 MERL verfolgte Zweck, Massenentlassungen die Unterrichtung der zuständigen Behörde vorangehen zu lassen ( - [AGET Iraklis] Rn. 28 mwN), noch erfüllt werden kann, wenn diese bei einer fehlerhaften oder fehlenden Massenentlassungsanzeige nach Zugang der Kündigung nachgeholt wird.

30Zum Ersten muss nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ( - [Junk] Rn. 54) die Anzeige (ordnungsgemäß) vor Zugang der Kündigung erfolgt sein, damit die Arbeitsagentur auf der Grundlage aller ihr vom Arbeitgeber übermittelten Informationen ergründen kann, welche Möglichkeiten bestehen, die negativen Folgen der Entlassungen zu begrenzen ( - [G GmbH] Rn. 35). Dann erscheint eine Nachbesserung der Anzeige nach bereits erfolgtem Zugang der Kündigung nicht mehr möglich zu sein.

31Zum Zweiten muss eine Nachholung der Anzeige mit den Angaben, die bereits der ursprünglichen Anzeige zugrunde gelegen haben bzw. - bei Fehlen einer Anzeige - dieser hätten zugrunde liegen müssen, erfolgen. Der Sache nach geht es um eine Korrektur fehlerhafter oder die Ergänzung fehlender Angaben nach der Entscheidung des Arbeitsgebers zur Kündigung. Anderenfalls liegt keine Nachholung, sondern die Erstattung einer neuen Anzeige unter neuen Parametern vor. In dem Zeitpunkt, in dem die Anzeige nachgeholt wird, haben sich aber in der Regel die tatsächlichen Verhältnisse gegenüber den Verhältnissen, die der ursprünglich erstatteten oder zu erstattenden Anzeige zugrunde lagen, geändert. Die Arbeitnehmer, deren beabsichtigte Massenentlassung nicht oder fehlerhaft angezeigt worden ist, sind zwischenzeitlich seit längerer Zeit gekündigt und in dieser Zeit häufig bereits vermittelt worden oder haben Arbeit gefunden. Die örtliche Lage auf dem Arbeitsmarkt kann sich verändert haben, zB durch weitere Massenentlassungen anderer Arbeitgeber. Der Zeitablauf beeinflusst also die sozioökonomischen Auswirkungen der Massenentlassung und die darauf erforderliche Reaktion der Arbeitsagentur. Eine nachgeholte Anzeige mit den ursprünglichen Angaben ermöglicht es daher häufig der Arbeitsagentur nicht, sinnvoll nach einer Lösung für die durch die Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen, was ihre Aufgabe ist ( - [G GmbH] Rn. 35).

32c) Läuft die Entlassungssperre des Art. 4 MERL erst an, wenn die Anzeige der Vorgabe des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 MERL genügt, dann wäre die Dauer der Entlassungssperre und damit das „Hinausschieben“ der Beendigungswirkung selbst dann unabsehbar, wenn ungeachtet vorstehender Bedenken eine Nachholung der Anzeige im Sinne einer Korrektur oder Ergänzung möglich wäre. Fehler der Anzeige würden regelmäßig in einem Gerichtsverfahren erst nach erheblicher Zeit festgestellt werden. Häufig könnte die Entlassungssperre dann schneller durch eine neue Kündigung, bei der wegen geänderter Verhältnisse keine Massenentlassung mehr vorliegt, überwunden werden.

33d) Eine zeitlich unbegrenzte oder unbestimmt lang dauernde Entlassungssperre griffe aus Sicht des Sechsten Senats in die unternehmerische Entscheidungsfreiheit ein. Diese Freiheit wird aber durch die MERL nicht eingeschränkt (vgl. hierzu  - [AGET Iraklis] Rn. 30 f.). Die Entlassungssperre berührt die Auflösungsbefugnis des Arbeitgebers nicht (Schlussanträge des Generalanwalts Tizzano vom - C-188/03 - [Junk] Rn. 64 f.). Eine solche Wirkung der Entlassungssperre wäre daher aus Sicht des Sechsten Senats des Bundesarbeitsgerichts aus denselben Gründen unverhältnismäßig wie die Nichtigkeit der Kündigung (dazu Rn. 15) und könnte daher im nationalen Recht nicht als Sanktion festgesetzt werden.

342. Zudem gibt es für eine Aussetzung der Wirkung der Kündigung durch die Entlassungssperre des Art. 4 MERL ( (A) - Rn. 14) aus Sicht des Sechsten Senats keine Rechtsgrundlage im Unionsrecht. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs fallen die materiell-rechtlichen Voraussetzungen, unter denen der Arbeitgeber Massenentlassungen vornehmen kann, ebenso wenig wie die Modalitäten des Schutzes vor ungerechtfertigter Massenentlassung in den Anwendungsbereich der MERL, sondern sind im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten verblieben ( - [Consulmarketing] Rn. 42; - C-201/15 - [AGET Iraklis] Rn. 33). Dann bestimmt sich auch allein nach nationalem Recht, ob und wann eine Kündigung wirksam wird.

35Die dritte Vorlagefrage zielt auf das Verhältnis der Regelungen von Art. 4 und Art. 6 MERL ab.

361. Der Sechste Senat geht davon aus, dass Art. 4 Abs. 1 MERL keine Sanktion für Fehler im Anzeigeverfahren entnommen werden kann. Die Entlassungssperre verfolgt einen arbeitsmarktpolitischen Zweck ( - [Junk] Rn. 47 f.; für das nationale Recht  - Rn. 24, BAGE 157, 1). Wirksamkeit und Gestaltungswirkung einer Kündigung können dadurch nicht beeinflusst werden. Es wird lediglich ein Beschäftigungsanspruch bis zum Ablauf der Sperrfrist nach Art. 4 Abs. 1 Halbsatz 1 bzw. Abs. 3 MERL geschaffen. Die Regelung des Art. 4 MERL scheint dem Sechsten Senat damit lediglich ein Mittel zur Umsetzung des Zwecks zu sein, jedoch nicht die Sanktion. Anderenfalls erschiene fraglich, welche eigenständige Bedeutung dann Art. 6 MERL im Anzeigeverfahren noch haben könnte.

372. Klarstellend weist der Sechste Senat darauf hin, dass er der Auffassung ist, die Sanktion für Fehler im Anzeigeverfahren müsse vom Gesetzgeber im Arbeitsförderungsrecht gesetzt werden ( (B) - Rn. 7, 22). Daraus folgt jedoch nicht, dass bis zur Schaffung einer gesetzlichen Sanktion derartige Fehler gänzlich folgenlos bleiben müssten. Man könnte Art. 6 MERL dahin verstehen, dass bis zum Handeln des Gesetzgebers eine Sanktion von der Rechtsprechung gefunden werden müsste. Dabei ist den Arbeitsgerichten das Setzen einer Sanktion im Arbeitsförderungsrecht verwehrt. Die Sanktion müsste daher dem Kündigungsrecht entnommen werden. Da die Entlassungssperre und jede andere Sanktion, die die Wirksamkeit der Kündigung in Frage stellt, nach Auffassung des Sechsten Senats aus den genannten Gründen ausscheiden, bliebe als Anknüpfungspunkt für eine Sanktion nur die Kündigungsfrist. Ausgehend vom Grundgedanken des Massenentlassungsschutzes könnte als geeignete und ausreichende Sanktion für Fehler im Anzeigeverfahren bis zu einem Tätigwerden des Gesetzgebers die Hemmung der Kündigungsfrist anzusehen sein. Nach diesem Grundgedanken sollen durch die vorübergehende Entlassungssperre Massenentlassungen zeitlich hinausgeschoben werden. Arbeitgeber sollen in dieser Zeit Möglichkeiten für die Beschäftigung der Arbeitnehmer suchen. Zudem soll die Arbeitsagentur Zeit für die Vermittlung der zu Entlassenden gewinnen. In der Zusammenschau soll Arbeitslosigkeit im Allgemeininteresse vermieden werden. Wenn wegen fehlender oder fehlerhafter Massenentlassungsanzeige die Arbeitsagentur ihre Aufgabe nicht oder nur eingeschränkt verrichten kann, könnte als Sanktion entsprechend dem Grundgedanken des Massenentlassungsschutzes zumindest eine Verlängerung des Bestands des Arbeitsverhältnisses in Betracht kommen. Dann würde der Arbeitsagentur einerseits mehr Zeit für die Vermittlung der betroffenen Arbeitnehmer zur Verfügung stehen und andererseits der Arbeitgeber länger zur Beschäftigung dieser Arbeitnehmer verpflichtet sein.

38Die Hemmung der Kündigungsfrist müsste dann allerdings zeitlich begrenzt werden, um die unternehmerische Entscheidungsfreiheit unangetastet zu lassen und keinen mittelbaren Druck auszuüben, neue Kündigungen zu erklären. Da der Arbeitsagentur nach Art. 4 MERL nur eine Frist von 30 Tagen für ihre Aufgaben zur Verfügung steht, die auf höchstens 60 Tage verlängert werden kann, wovon im nationalen Recht durch § 18 Abs. 2 KSchG Gebrauch gemacht worden ist, müsste die Hemmung entsprechend zeitlich begrenzt werden. Im Regelfall wäre dann nach nationalem Recht die Kündigungsfrist bei fehlerhaften Anzeigen ein Monat und bei fehlenden Anzeigen zwei Monate gehemmt. Eine solche Sanktion würde sich an der Höchstdauer der Verlängerung der Beschäftigung bei ordnungsgemäßer Anzeige orientieren. Der Arbeitnehmer könnte die Wirksamkeit der Anzeige im Kündigungsschutzprozess gerichtlich überprüfen lassen, so dass auch den Geboten der Art. 6 MERL, Art. 47 GRC genügt wäre.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2024:230524.B.6AZR152.22A.0

Fundstelle(n):
VAAAJ-68309