Steuerlicher Billigkeitserlass zur Aufrechterhaltung der Verfassungsmäßigkeit bei Definitivverlusten
Instanzenzug:
Gründe
1. Die Beschwerde ist begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das Finanzgericht (FG) hat seine Pflicht zur Sachaufklärung (§ 76 Abs. 1 FGO) verletzt, indem es nicht aufgeklärt hat, ob die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) bereits in den Streitjahren aus finanziellen Gründen nicht mehr in der Lage waren, die in den Streitjahren in Erfüllung der Verpflichtungen aus Stillhaltergeschäften erwirtschafteten Verluste aus der Veräußerung von Aktien durch Gewinne aus der Veräußerung von Aktien in der Zukunft (bzw. im Übergangszeitraum bis 2013) auszugleichen und ob sich daraus ein Definitiveffekt ergab, der im Rahmen der streitgegenständlichen Billigkeitsentscheidung hätte Berücksichtigung finden müssen.
a) Das FG hat im angefochtenen Urteil zur Frage der Definitiveffekte argumentiert, die Gefahr des Definitivwerdens von Verlusten begründe noch keinen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz. Diese Gefahr sei dem Gesetzgeber bewusst gewesen und er habe sie in Kauf genommen, indem er keine Ausnahme dafür vorgesehen habe. Eine sachliche Unbilligkeit könne deshalb nicht mit der Gefahr von Definitiveffekten begründet werden, weil dies einer strukturellen Gesetzeskorrektur entspräche, die im Billigkeitsverfahren ausgeschlossen sei. Über die Frage, ob und ggf. unter welchen weiteren Voraussetzungen Billigkeitsmaßnahmen im Veranlagungsjahr des Definitivwerdens von Verlusten gerechtfertigt sein könnten, habe der Senat nicht zu befinden.
b) Mit dem letzten Satz hat das FG in tatsächlicher, aber auch in rechtlicher Hinsicht offengelassen, ob Billigkeitsmaßnahmen bei Definitiveffekten aus sachlichen Gründen in Betracht kommen. Es hat solche Maßnahmen aber auch nicht ausgeschlossen. Da es für die Prüfung von Verfahrensmängeln auf die materiell-rechtliche Auffassung des FG ankommt, ist davon auszugehen, dass das FG Billigkeitsmaßnahmen bei Definitiveffekten in rechtlicher Hinsicht zumindest für möglich hält. Dann hätte das FG aber auch von Amts wegen der klägerischen Behauptung nachgehen müssen, wonach der Definitiveffekt bereits in den Streitjahren eingetreten war. Dies umso mehr, als dieselben Beteiligten im Parallelverfahren (2 K 1159/21) wegen Einkommensteuer 2006 und 2007 zu Protokoll der mündlichen Verhandlung am selben Tag erklärt haben, es sei unstreitig, dass die Kläger in den Jahren 2008 bis 2013 nicht über die finanziellen Mittel verfügten, ohne Verwertung des Grundvermögens Veräußerungsgewinne durch Aktienverkäufe im Umfang der streitgegenständlichen Verluste zu erzielen und solche Aktienverkäufe auch nicht getätigt haben. An die übereinstimmende Erklärung der Beteiligten ist das FG nicht gebunden. Im finanzgerichtlichen Verfahren verfügen die Beteiligten nicht über den streitigen Sachverhalt. Die Erklärung enthebt das FG deshalb auch nicht der Verpflichtung zu weiterer Sachaufklärung. Zwar schließt die Erklärung die Streitjahre 2006 und 2007 nicht ausdrücklich ein, lässt aber doch klar erkennen, dass die Kläger, die diese Klarstellung erwirkt haben, vom Definitivwerden der Verluste bereits in den Streitjahren ausgingen. Angesichts dessen musste sich dem FG eine weitere Sachaufklärung von Amts wegen aufdrängen. Einer Rüge bedurfte es insofern nicht.
c) Der Verfahrensmangel führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO).
2. Da die Beschwerde wie dargelegt begründet ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob auch die anderen Verfahrensmängel und der gerügte qualifizierte Rechtsfehler vorliegen.
3. Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass bei der Entscheidung über Billigkeitsmaßnahmen Elemente der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit (im Sinne des objektiven und nicht nur des subjektiven Nettoprinzips) nicht von vornherein unbeachtlich sind (vgl. nur Urteile des Bundesfinanzhofs , BFHE 176, 3, BStBl II 1995, 297, und , BFHE 180, 61, BStBl II 1996, 289). Die sachliche Unbilligkeit der Besteuerung kann sich auch daraus ergeben, dass der Steuerlast ein entsprechender Zuwachs an finanzieller Leistungsfähigkeit nicht gegenübersteht, sofern dies nicht zu einer strukturellen Gesetzeskorrektur führt. Zweifellos kann deshalb eine sachliche Unbilligkeit nicht schon deshalb bejaht werden, weil § 23 Abs. 3 Satz 8 des Einkommensteuergesetzes a. F. (EStG a. F.) den Ausgleich von Verlusten aus Veräußerungsgeschäften mit Aktien mit Stillhalterprämien ausschließt, auch wenn die verlustträchtigen Aktiengeschäfte durch die Verpflichtung zur Erfüllung der Stillhaltergeschäfte ausgelöst worden sind. Die getrennte Besteuerung der auch zivilrechtlich zu trennenden Geschäfte entsprach dem Willen des Gesetzgebers und kann nicht im Billigkeitswege korrigiert werden. Entsprechendes gilt nach Auffassung des beschließenden Senats, soweit es im Rahmen der getrennten Besteuerung dazu kommen kann, dass sich die Verluste aus den Veräußerungsgeschäften endgültig nicht auswirken. Auch dadurch wird die gesetzliche Regelung noch nicht verfassungswidrig. Gleichfalls ist eine verfassungskonforme Einschränkung der Norm aus diesem Grund nicht geboten (vgl. die Ausführungen in der Parallelentscheidung IX B 32/22 vom heutigen Tag).
Allerdings hat der Senat wiederholt --so auch in der Parallelentscheidung-- darauf hingewiesen, dass unbillige Härten, die sich aus dieser Gesetzeslage im Einzelfall ergeben können, ausgeglichen werden müssen (z. B. , BFH/NV 2016, 1691, Rz 36, m. w. N.). Diese Möglichkeit trägt nach der Auffassung des Senats im Sinne einer flankierenden Regelung zur Vereinbarkeit der Vorschrift (§ 23 Abs. 3 Satz 8 EStG a. F.) mit dem Grundgesetz bei (vgl. auch , BFHE 238, 429, BStBl II 2013, 498). Sie darf deshalb auch nicht leerlaufen. Danach erscheint es zumindest zweifelhaft, wenn das FG bei der Beurteilung der sachlichen Unbilligkeit von vornherein allein darauf abstellt, ob dem Steuerpflichtigen im Streitjahr das steuerliche Existenzminimum verbleibt.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2023:B:180423.IXB33.22.0
Fundstelle(n):
WAAAJ-55625