BSG Beschluss v. - B 4 AS 44/23 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Beschwerdefrist - Monatsfrist ab Zustellung der Berufungsentscheidung - Verfahrensfehler - Zurückverweisung

Leitsatz

Für die Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision gilt die Monatsfrist ab Zustellung der Berufungsentscheidung unabhängig davon, wie viel Zeit zwischen deren Verkündung und deren Zustellung vergangen ist.

Gesetze: § 134 Abs 2 S 1 SGG, § 136 Abs 1 Nr 6 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 1 S 2 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 202 SGG, § 544 Abs 3 S 1 Halbs 2 ZPO, § 547 Nr 6 ZPO, § 563 Abs 1 S 2 ZPO

Instanzenzug: SG Dresden Az: S 51 AS 3564/19vorgehend Sächsisches Landessozialgericht Az: L 10 AS 566/20 Urteil

Gründe

1Die Beschwerde des Beklagten ist zulässig. Sie ist insbesondere - entgegen der Auffassung des Klägers - fristgemäß eingelegt worden. Die Monatsfrist beginnt nach § 160a Abs 1 Satz 2 SGG ausdrücklich "nach Zustellung des Urteils" und nicht nach dessen Verkündung. § 160a Abs 1 Satz 2 SGG ist lex specialis, so dass ein Rückgriff auf § 544 Abs 3 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO, wonach die Nichtzulassungsbeschwerde spätestens bis zum Ablauf von sechs Monaten nach der Verkündung des Urteils bei dem Revisionsgericht einzulegen ist, nicht möglich ist (vgl Söhngen in Hennig, SGG, § 202 RdNr 49, Stand Februar 2016). Die Nichtzulassungsbeschwerde und damit auch die heute in § 544 Abs 3 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO enthaltene Regelung (zwischen dem und dem : § 544 Abs 1 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO) ist im zivilgerichtlichen Verfahren erst mit Wirkung zum eingeführt worden (durch Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom , BGBl I 1887). Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass durch die Einfügung dieser Regelung in die ZPO zugleich die bereits seit dem geltende Regelung des § 160a Abs 1 Satz 2 SGG modifiziert werden sollte. Im Gegenteil: Obwohl der Gesetzgeber zeitgleich § 160a SGG geändert hat (durch das Sechste Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom , BGBl I 2144), hat er die Fristenregelung des § 544 ZPO nicht in das SGG übernommen. Die durch die Zustellung des Urteils des LSG an den Beklagten am beginnende Frist endete damit gemäß § 64 Abs 2 Satz 1, Abs 3 SGG am (Dienstag); diese Frist ist durch die Beschwerdeschrift, die beim BSG am als elektronisches Dokument eingegangen ist, gewahrt.

2Die Beschwerde ist auch begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung an das LSG. Der vom Beklagten in der Beschwerdebegründung (§ 160a Abs 2 SGG) ausreichend bezeichnete Verfahrensmangel - Verletzung des § 136 Abs 1 Nr 6 SGG - liegt vor. Obwohl das Berufungsurteil Entscheidungsgründe enthält, ist es nicht iS des § 547 Nr 6 ZPO, der im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwenden ist (§ 202 Satz 1 SGG), mit Gründen versehen.

3Denn dem Fehlen von Gründen wird nach der Rechtsprechung die verspätete Absetzung und Zustellung eines Urteils gleichgesetzt. Nach § 134 Abs 2 Satz 1 SGG soll das Urteil bereits vor Ablauf eines Monats, vom Tag der Verkündung an gerechnet, vollständig abgefasst der Geschäftsstelle übergeben werden. Hierbei handelt es sich jedoch um eine sogenannte Soll-Vorschrift; ein Verstoß gegen diese Regel ist grundsätzlich unschädlich ( - BSGE 91, 283 = SozR 4-1500 § 120 Nr 1, RdNr 4). Dagegen ist ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefasstes Urteil nicht mit Gründen versehen, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind ( GmS-OGB 1/92 - SozR 3-1750 § 551 ZPO Nr 4 S 8 f = juris RdNr 8; - BSGE 91, 283 = SozR 4-1500 § 120 Nr 1, RdNr 4 mwN; - juris RdNr 4).

4Vorliegend ist das Urteil des LSG im Anschluss an die mündliche Verhandlung am verkündet worden. Aus den Vermerken und Verfügungen in der Akte des LSG ergibt sich, dass das Berufungsgericht seine Akte anschließend zunächst der Staatsanwaltschaft Dresden vorgelegt hat, weil sich im Nachgang zur mündlichen Verhandlung der Verdacht zweier falscher uneidlicher Aussagen und eines (versuchten) Prozessbetrugs ergeben habe. Die Akten gingen im Oktober 2022 wieder beim LSG ein. Das von den Berufsrichtern unterschriebene Urteil ist sodann auf der Geschäftsstelle des LSG erst am eingegangen und wurde den Beteiligten am selben Tag zugestellt. Damit ist die Fünf-Monats-Frist eindeutig überschritten worden; maßgeblich ist insofern der Eingang des unterschriebenen Urteils auf der Geschäftsstelle (vgl - juris RdNr 6).

5Das Fehlen der Entscheidungsgründe iS des § 547 Nr 6 ZPO führt als unbedingter (absoluter) Revisionsgrund grundsätzlich immer zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung. Ob im Revisionsverfahren etwas anderes gelten würde, wenn die Klage unter keinem denkbaren Gesichtspunkt begründet wäre (vgl zu dieser Diskussion - BSGE 91, 283 = SozR 4-1500 § 120 Nr 1, RdNr 10 f), kann hier schon deswegen dahinstehen, weil es mangels rechtlich verwertbarer Entscheidungsgründe an Tatsachenfeststellungen fehlt, die dem Senat eine abschließende Entscheidung ermöglichen würden. Der Ausgang des Verfahrens hängt vielmehr unter anderem von einer Beweiswürdigung ab, die dem LSG obliegt. Der Senat macht daher von der Möglichkeit des § 160a Abs 5 SGG Gebrauch, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Dabei übt er das ihm nach § 202 Satz 1 SGG iVm § 563 Abs 1 Satz 2 ZPO zustehende Ermessen (vgl - SozR 4-1100 Art 101 Nr 3 RdNr 14; Voelzke in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 160a RdNr 230) aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falls dahingehend aus, die Sache an einen anderen Senat des LSG zurückzuverweisen.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:200923BB4AS4423B0

Fundstelle(n):
HAAAJ-50306