BGH Urteil v. - I ZR 1/19

Vorlage an den EuGH zur Auslegung der Verordnung über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster: Entstehung eines nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters an einzelnen Teilen eines Erzeugnisses; rechtlicher Maßstab im Rahmen der Prüfung der Eigenart bei Ermittlung des Gesamteindrucks im Falle eines Bauelements - Front kit

Leitsatz

Front kit

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Auslegung des Art. 11 Abs. 1 und 2 Satz 1 sowie der Art. 4 Abs. 2 Buchst. b, Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. L 3 vom ) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Können durch die Offenbarung einer Gesamtabbildung eines Erzeugnisses gemäß Art. 11 Abs. 1 und 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 nicht eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster an einzelnen Teilen des Erzeugnisses entstehen?

2. Für den Fall, dass die Frage 1 bejaht wird:

Welcher rechtliche Maßstab ist im Rahmen der Prüfung der Eigenart nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. b, Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 bei der Ermittlung des Gesamteindrucks im Falle eines Bauelements anzulegen, das - wie etwa ein Teil einer Fahrzeugkarosserie - in ein komplexes Erzeugnis eingefügt wird? Darf insbesondere darauf abgestellt werden, ob die Erscheinungsform des Bauelements in der Wahrnehmung des informierten Benutzers nicht vollständig in der Erscheinungsform des komplexen Erzeugnisses untergeht, sondern eine gewisse Eigenständigkeit und Geschlossenheit der Form aufweist, die es ermöglicht, einen von der Gesamtform unabhängigen ästhetischen Gesamteindruck festzustellen?

Gesetze: Art 4 Abs 2 Buchst b EGV 6/2002, Art 6 Abs 1 Buchst a EGV 6/2002, Art 11 Abs 1 EGV 6/2002, Art 11 Abs 2 S 1 EGV 6/2002, Art 267 AEUV

Instanzenzug: Az: I-20 U 124/17 Urteilvorgehend Az: 14c O 137/16anhängig EuGH Az: C-123/20nachgehend Az: I ZR 1/19 Urteilnachgehend Az: I-20 U 124/17 Urteil

Gründe

1A. Die in Italien ansässige Klägerin stellt Renn- und Sportwagen her. Ihr aktuelles Spitzenmodell ist der Ferrari FXX K, der nur in sehr geringer Stückzahl hergestellt wurde und nur für das Fahren auf Rennstrecken vorgesehen ist; er hat keine Straßenzulassung. Der Öffentlichkeit wurde der Ferrari FXX K erstmals in einer Pressemitteilung der Klägerin am mit folgenden Abbildungen vorgestellt, die eine Seitenansicht und eine Frontansicht des Fahrzeugs zeigen.

2Die limitierte Auflage zu einem Stückpreis von 2,2 Mio. € war binnen weniger Tage ausverkauft. Die Fahrzeuge gibt es in zwei Modellvarianten, die sich optisch lediglich insofern unterscheiden, als bei der einen Variante die nach vorne unten gezogene Spitze des sich auf der Fronthaube befindlichen "V" in der Grundfarbe des Fahrzeugs lackiert ist, während der Rest des "V" schwarz lackiert ist, wie aus den folgenden Abbildungen ersichtlich:

3In der anderen Variante ist, wie nachfolgend abgebildet, auch die Spitze des "V" vollständig schwarz lackiert:

4Die Beklagte zu 1, deren Geschäftsführer der Beklagte zu 2 ist, stellt Anbauteile für Fahrzeuge der Klägerin her. Seit 2016 vertreibt sie Bauteile im Rahmen von Tuning-Bausätzen ("Body-Kits") für den Ferrari 488 GTB unter der Bezeichnung "4XX". Mit den Tuning-Bausätzen lässt sich das seit 2015 zu einem Nettolistenpreis von 172.607 € erhältliche, in der Stückzahl nicht limitierte Straßenmodell Ferrari 488 GTB verändern. Folgende Bausätze oder Anbauteile, die einzeln angeboten und vertrieben werden, stehen zur Verfügung: "Front kit", "Rear kit", "Side set", "Roof cover" und "Rear wing". Das "Front kit" vertreibt die Beklagte zu 1 in zwei verschiedenen Versionen, einmal mit einheitlich dunklem "V" auf der Fronthaube und zum anderen mit einem nur teilweise ausgefüllten "V". Bei einem vollständigen Umbau, der ca. 143.000 € kostet, wird ein Großteil der sichtbaren Karosserieverkleidung ausgetauscht. Die Beklagte zu 1 stellte einen solchen, aus der nachfolgenden Abbildung ersichtlichen Umbau unter der Bezeichnung "Mansory Siracusa 4XX" im März 2016 auf dem Genfer Autosalon vor.

5Die Klägerin ist der Ansicht, die Beklagten verletzten mit ihrem Angebot von Bauteilen ein zu ihren Gunsten bestehendes nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster. Dieses bestehe an dem Teilbereich des Fahrzeugs, der aus dem nach vorne unten gekrümmten v-förmigen Element der Fronthaube des Ferrari FXX K, dem mittig aus diesem Element herausragenden, in Längsrichtung angeordneten, flossenartigen Element ("Strake"), dem in die Stoßstange integrierten, zweischichtigen Frontspoiler und dem mittigen vertikalen Verbindungssteg, der den Frontspoiler mit der Fronthaube verbindet (Klagemuster 1). Dieser Bereich werde als Einheit verstanden, die die individuellen Gesichtszüge des Ferrari FXX K bestimme und gleichzeitig die Assoziation mit einem Flugzeug oder einem Formel-1-Wagen wecke. Das Klagegeschmacksmuster 1 sei mit Veröffentlichung der Pressemitteilung vom entstanden.

6Die Klägerin ist weiter der Ansicht, ihr stehe - hilfsweise - ein durch die Pressemitteilung vom , spätestens aber durch die Veröffentlichung eines Films mit dem Titel "Ferrari FXX K - The Making Of" am entstandenes nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster an dem zweischichtigen Frontspoiler zu (Klagemuster 2), das ebenfalls verletzt sei.

7Die Klägerin stützt ihre Klage - weiter hilfsweise - auf ein nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster (Klagemuster 3) im Hinblick auf eine weitere in der Pressemitteilung vom enthaltene, nachfolgend gezeigte Abbildung des Fahrzeugs in einer Schrägansicht, das sich auf die daraus ersichtliche Gestaltung des Ferrari FXX K erstrecke.

8An vierter Stelle hat die Klägerin Ansprüche aus lauterkeitsrechtlichem Nachahmungsschutz geltend gemacht. Dem Ferrari FXX K komme hinsichtlich der drei prägenden Merkmale im Frontbereich wettbewerbliche Eigenart zu.

9Die Klägerin hat erstinstanzlich unionsweite Unterlassung der Herstellung, des Anbietens, des Inverkehrbringens, des Ein- und Ausführens, der Benutzung oder des Besitzes der Anbauteile sowie Annexanträge (Rechnungslegung, Rückruf, Vernichtung, Schadensersatzfeststellung) geltend gemacht. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.

10In der Berufungsinstanz hat die Klägerin mit Blick auf das Ablaufen der geltend gemachten Schutzrechte am den Rechtsstreit in der Hauptsache teilweise für erledigt erklärt und zwar zum einen hinsichtlich des Unterlassungsantrags, soweit dieser auf Gemeinschaftsgeschmacksmusterrechte gestützt war, und zum anderen hinsichtlich der Annexanträge auf Rückruf und Vernichtung. Die Beklagten haben sich der Teilerledigungserklärung angeschlossen.

11In der Berufungsinstanz hat die Klägerin - soweit für die Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union von Bedeutung - Abänderung des erstinstanzlichen Urteils mit den Anträgen begehrt,

festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr allen Schaden zu ersetzen, der ihr dadurch entstanden ist und noch entstehen wird, dass die Beklagte bis zum

"Front kits" als Anbauteile für Automobile im Gebiet der Europäischen Union hergestellt, angeboten, in den Verkehr gebracht, eingeführt, ausgeführt, benutzt oder zu den genannten Zwecken besessen hat, die - unabhängig von der Farbe - im mittleren Bereich wie in den nachfolgenden Abbildungen rot gestrichelt hervorgehoben gestaltet sind:

mit folgenden Gestaltungsmerkmalen:

1 ein V-förmiges Element, das sich mittig entlang der gesamten Fronthaube erstreckt und welches somit das Cockpit optisch so nach vorne verlängert, dass der Eindruck eines Greifvogelkopfes entsteht, wobei das V-förmige Element einem gekrümmten Schnabel entspricht und zumindest im oberen Bereich dunkel ausgestaltet ist;

2 ein mittig aus diesem Element herausragendes, in Längsrichtung angeordnetes flossenartiges Element;

3 ein zweischichtiger Frontspoiler,

3.1 dessen obere Schicht in der Grundfarbe der Karosserie lackiert ist, sich etwa über die halbe Fahrzeugbreite erstreckt und über einen mittigen vertikalen Verbindungssteg mit der Fronthaube verbunden ist,

3.2 dessen untere Schicht in einer Kontrastfarbe lackiert ist und die breiter ist als die obere Schicht,

3.3 wobei sich zwischen der oberen Schicht und der unteren Schicht ein horizontaler Schlitz befindet,

3.4 wobei die obere Schicht in die untere Schicht eingebettet ist, indem beide Schichten eine durchgehende Oberfläche bilden;

hilfsweise,

"Front kits", "Rear wings", "Side sets" und "Roof cover" als Anbauteile für Sportwagen zusammen mit einer zweistelligen auf der Tür des Sportwagens angebrachten Zahl im Gebiet der Europäischen Union in ihrer Gesamtheit benutzt hat, die - unabhängig von der Farbe - so gestaltet sind, dass das Automobil nach dem Umbau wie nachfolgend abgebildet gestaltet ist:

mit den folgenden Gestaltungsmerkmalen:

1 bis 3.4 [wie im Hauptantrag]

4 eine Sportwagen-Grundform mit flacher Nase und höherliegendem Heck, deren oberer Umriss einem sanft geschwungenen Bogen mit einer annähernd durchgängigen Linienführung über die gesamte Länge des Fahrzeugs gleicht;

5 ein dunkel abgesetztes Cockpit mit einem linsenförmigen Seitenfenster;

6 Frontscheinwerfer seitlich auf der Oberseite des Frontbereichs, die optisch nach hinten bis auf den Kotflügel verlängert sind;

7 ein großer Lufteinlass im hinteren Türbereich;

8 eine große Lackierung in Form einer Zahl in serifenloser, kursiver Schriftart auf der Tür;

9 ein nach unten geschwungener Bogen an der Fahrzeugseite, der hinter dem Vorderrad beginnt, von dort in einem 45°-Winkel abfällt und dann dünn bis ins obere Drittel des Hinterrades hochgezogen ist;

10 an jeder oberen Ecke des Hecks eine Finne mit einem kurzen, stummelartigen, von der Finne aus zur Seite ragenden Spoiler.

12Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg (OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2019, 231). Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Klageanträge weiter. Die Beklagten beantragen, die Revision zurückzuweisen.

13B. Der Erfolg der Revision hinsichtlich der auf eine Verletzung von nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmustern gestützten Anträge hängt von der Auslegung des Art. 11 Abs. 1 und 2 Satz 1 sowie der Art. 4 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (GGV) ab. Vor einer Entscheidung über das Rechtsmittel ist deshalb das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.

14I. Das Berufungsgericht hat die geltend gemachten geschmacksmusterrechtlichen Ansprüche für nicht begründet erachtet und hierzu ausgeführt:

15Das Klagemuster 1 sei nicht entstanden, weil die Klägerin die Mindestvoraussetzung einer gewissen Eigenständigkeit und Geschlossenheit der Form nicht schlüssig dargelegt habe. Sie beziehe sich lediglich auf einen willkürlich festgelegten Teilbereich. Selbst wenn man annehme, die Front werde als "Gesicht" wahrgenommen, würden hierbei auch die von der Klägerin nicht einbezogenen Bestandteile "Augen" (Scheinwerfer) und "Kiefer" (seitliche Enden des Spoilers) einbezogen. Das Klagemuster 2 bestehe mangels einer Geschlossenheit der Form ebenfalls nicht. Das Klagemuster 3 sei zwar als entstanden zu unterstellen, weise aber keinen hinreichend weiten Schutzbereich auf, um die Annahme einer Verletzung zu rechtfertigen. Die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers des Ferrari FXX K sei aufgrund der Musterdichte so beschränkt gewesen, dass von einem nur durchschnittlichen Schutzbereich ausgegangen werden könne. Gemessen hieran fehle es an einer hinreichenden Übereinstimmung im Gesamteindruck.

16II. Der Erfolg der Revision hängt hinsichtlich der auf eine Verletzung von nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmustern gestützten Anträge von der klärungsbedürftigen Auslegung des Art. 11 sowie der Art. 4 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 1 GGV mit Blick auf die Frage ab, ob und unter welchen Voraussetzungen ein nicht eingetragenes Geschmacksmuster an Bauelementen eines komplexen Erzeugnisses bestehen kann.

171. Die von der Klägerin als Geschmacksmuster in Anspruch genommenen Teilbereiche des Fahrzeugs Ferrari FXX K (Klagemuster 1 und 2) stellen Bauelemente eines komplexen Erzeugnisses im Sinne des Art. 4 Abs. 2 GGV dar.

18a) Nach Art. 3 Buchst. b GGV ist ein Erzeugnis jeder industrielle oder handwerkliche Gegenstand, einschließlich - unter anderem - der Einzelteile, die zu einem komplexen Erzeugnis zusammengebaut werden sollen, Verpackung, Ausstattung, graphischen Symbolen und typographischen Schriftbildern, nicht jedoch ein Computerprogramm. Ein komplexes Erzeugnis ist nach Art. 3 Buchst. c GGV ein Erzeugnis aus mehreren Bauelementen, die sich ersetzen lassen, so dass das Erzeugnis auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann. Der Begriff des Bauelements ist mangels einer Definition in der Gemeinschaftsgeschmacksmusterverordnung nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch zu bestimmen ( und C-435/16, GRUR 2018, 284 Rn. 64 = WRP 2018, 308 - Acacia und Pneusgarda/Audi sowie Acacia und D’Amato/Porsche [Acacia/Porsche]). Mit dem Ausdruck Bauelemente eines komplexen Erzeugnisses bezeichnet die Gemeinschaftsgeschmacksmusterverordnung danach die verschiedenen Einzelteile, die zu einem komplexen industriellen oder handwerklichen Gegenstand zusammengebaut werden sollen und sich ersetzen lassen, so dass ein solcher Gegenstand auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann, und deren Fehlen dazu führen würde, dass das komplexe Erzeugnis nicht bestimmungsgemäß verwendet werden kann (vgl. EuGH, GRUR 2018, 284 Rn. 65 - Acacia und Pneusgarda/Audi sowie Acacia und D’Amato/Porsche [Acacia/Porsche]).

19b) Danach stellt der von der Klägerin als Klagemuster 1 in Anspruch genommene Teilbereich des Fahrzeugs Ferrari FXX K, bestehend aus dem nach vorne unten gekrümmten v-förmigen Element der Fronthaube, dem mittig aus diesem Element herausragenden, in Längsrichtung angeordneten, flossenartigen Element ("Strake"), dem in die Stoßstange integrierten, zweischichtigen Frontspoiler und dem mittigen vertikalen Verbindungssteg, der den Frontspoiler mit der Fronthaube verbindet, ein Bauelement eines komplexen Erzeugnisses dar. Dieser Teilbereich besteht aus Einzelteilen, die zu einem industriell gefertigten Fahrzeug zusammengebaut werden sollen und sich ersetzen lassen, so dass das Fahrzeug auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann, und deren Fehlen dazu führen würde, dass das Fahrzeug nicht bestimmungsgemäß verwendet werden kann. Dies gilt ebenso für die von der Klägerin als Klagemuster 2 in Anspruch genommenen Teile (zweischichtiger Frontspoiler des Ferrari FXX K).

202. Klärungsbedürftig ist im Streitfall, ob und unter welchen Voraussetzungen dem Teil einer Fahrzeugkarosserie als Bauelement eines komplexen Erzeugnisses Schutz als nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster zukommen kann.

21a) Klärungsbedürftig ist zunächst, ob durch die Veröffentlichung der Gesamtabbildung eines Erzeugnisses ein nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster an einzelnen Teilen des Erzeugnisses entstehen kann (Vorlagefrage 1).

22aa) Nach Art. 11 Abs. 1 GGV wird ein Geschmacksmuster, das die im 1. Abschnitt der GGV genannten Voraussetzungen erfüllt, als nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster für eine Frist von drei Jahren geschützt, beginnend mit dem Tag, an dem es der Öffentlichkeit innerhalb der Gemeinschaft erstmals zugänglich gemacht wurde. Nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 GGV gilt ein Geschmacksmuster als der Öffentlichkeit innerhalb der Gemeinschaft zugänglich gemacht, wenn es in solcher Weise bekannt gemacht, ausgestellt, im Verkehr verwendet oder auf sonstige Weise offenbart wurde, dass dies den in der Gemeinschaft tätigen Fachkreisen des betreffenden Wirtschaftszweigs im normalen Geschäftsverlauf bekannt sein konnte. Nach Art. 3 Buchst. a GGV bedeutet Geschmacksmuster im Sinne dieser Verordnung die Erscheinungsform eines Erzeugnisses oder eines Teils davon, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur und/oder der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst und/oder seiner Verzierung ergibt.

23bb) Der Senat hat zum eingetragenen Geschmacksmuster entschieden, dass unter Geltung des durch die Gemeinschaftsgeschmacksmusterverordnung und die Richtlinie 98/71/EG unionsrechtlich harmonisierten Geschmacksmusterrechts aus einem als Gesamterzeugnis angemeldeten Geschmacksmuster kein Schutz für Teile oder Elemente des Gesamterzeugnisses besteht. Weder dem Wortlaut der Geschmacksmusterverordnung noch der Richtlinie 98/71/EG lässt sich ein Anhaltspunkt dafür entnehmen, dass für Teile oder Elemente eines eingetragenen Musters für sich genommen Schutz beansprucht werden kann. Es besteht auch kein Bedürfnis für einen Schutz von Teilen oder Elementen eines Geschmacksmusters, weil es nach der Definition des Art. 3 Buchst. a GGV möglich ist, auch für die Erscheinungsform von Teilen oder Elementen eines Erzeugnisses den Schutz als Geschmacksmuster zu erlangen (vgl. , GRUR 2012, 1139 Rn. 37 bis 39 = WRP 2012, 1540 - Weinkaraffe; Eichmann/Jestaedt in Eichmann/Jestaedt/Fink/Meiser, Designgesetz, GGV, 6. Aufl., § 38 DesignG Rn. 61; Ruhl in Ruhl/Tolkmitt, Gemeinschaftsgeschmacksmuster, 3. Aufl., Art. 10 Rn. 51; Jestaedt, GRUR 2008, 19, 22 f.). Die Rechtssicherheit erfordert es, allein solche Erscheinungsformen von Teilen eines Erzeugnisses als eingetragene Geschmacksmuster zu schützen, die als Erscheinungsformen von Teilen eines Erzeugnisses angemeldet und eingetragen sind. Nur unter dieser Voraussetzung können die interessierten Verkehrskreise aufgrund einer Geschmacksmusterrecherche zuverlässig feststellen, was Gegenstand des Geschmacksmusterschutzes ist. Könnten auch Teile eingetragener Muster als Geschmacksmuster geschützt sein, wäre dagegen oft unklar, ob und inwieweit Teile eines eingetragenen Musters einen solchen Schutz genießen. Dem Anmelder ist es möglich und zumutbar klarzustellen, ob er Schutz für die Erscheinungsform eines (ganzen) Erzeugnisses oder des Teils eines Erzeugnisses begehrt (vgl. BGH, GRUR 2012, 1139 Rn. 40 - Weinkaraffe).

24cc) Nach Art. 3 Buchst. a GGV steht außer Frage, dass ein nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster auch an einem Teil eines Erzeugnisses bestehen kann. Wird allerdings nicht die Abbildung des Teils eines Erzeugnisses, sondern lediglich eines Gesamtprodukts im Sinne des Art. 11 Abs. 1 GGV öffentlich zugänglich gemacht, stellt sich in ähnlicher Weise wie im Falle des eingetragenen Geschmacksmusters die Frage, ob eine solche Offenbarung für Teile des abgebildeten Gesamtprodukts ein nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster begründen kann. Der Senat neigt zu der Auffassung, dass durch die Offenbarung der Abbildung eines Gesamtprodukts nur für dieses ein nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster entstehen kann, nicht aber für dessen Teile. Diese Sichtweise fördert die Rechtssicherheit, weil sie klarstellt, dass die Beanspruchung des Schutzes für Erzeugnisteile eine gesonderte Offenbarung - etwa durch die Abbildung des jeweiligen Teils oder durch seine Kennzeichnung im Rahmen der Gesamtabbildung - erfordert (vgl. Eichmann/Jestaedt in Eichmann/Jestaedt/Fink/Meiser aaO Art. 11 GGV Rn. 25; Hartwig, GRUR-RR 2019, 204, 206 f.). Nach anderer Auffassung kann in der Offenbarung eines Gesamtprodukts auch die schutzbegründende Offenbarung seiner Bestandteile liegen, sofern diese für die Fachkreise erkennbar schutzbegründend ist (so Ruhl in Ruhl/Tolkmitt aaO Art. 11 Rn. 32; Hasselblatt/Spintig, Community Design Regulation, 2. Aufl., Art. 19 Rn. 23). Die Prüfung der Erkennbarkeit einer schutzbegründenden Wirkung - etwa mit Blick darauf, ob Teile auch in anderen Erzeugnissen Verwendung finden können (für ein solches Kriterium Ruhl in Ruhl/Tolkmitt aaO Art. 11 Rn. 32) - ist jedoch mit erheblichen Unsicherheiten behaftet.

25Aus dem in einem Verfahren auf Nichtigerklärung eines eingetragenen Geschmacksmusters ergangenen Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom (C-361/15 Y und C-405/15 Y, GRUR 2017, 1244 Rn. 96 - Easy Sanitary Solutions und Group Nivelles) ergibt sich keine hinreichende Klärung der Vorlagefrage 1.

26b) Sofern die Offenbarung einer Abbildung eines Gesamterzeugnisses auch für Erzeugnisteile schutzbegründende Wirkung haben kann, ist weiter klärungsbedürftig, unter welchen Voraussetzungen ein nicht eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster an Erzeugnisteilen entstehen kann (Vorlagefrage 2).

27aa) Nach Art. 4 Abs. 1 GGV wird ein Geschmacksmuster durch ein Gemeinschaftsgeschmacksmuster geschützt, soweit es neu ist und Eigenart hat. Nach Art. 4 Abs. 2 GGV gilt ein Geschmacksmuster, das in einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, nur dann als neu und hat nur dann Eigenart, wenn das Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt (Buchst. a) und soweit diese sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen (Buchst. b). Bestimmungsgemäße Verwendung bedeutet nach Art. 4 Abs. 3 GGV Verwendung durch den Endbenutzer, ausgenommen Instandhaltungs-, Wartungs- oder Reparaturarbeiten. Nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. a GGV hat ein nicht eingetragenes Geschmacksmuster Eigenart, wenn sich der Gesamteindruck, den es beim informierten Benutzer hervorruft, von dem Gesamteindruck unterscheidet, den ein anderes Geschmacksmuster bei diesem Benutzer hervorruft, das der Öffentlichkeit vor dem Tag, an dem das Geschmacksmuster, das geschützt werden soll, erstmals zugänglich gemacht wird.

28bb) Die von der Klägerin als nicht eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster in Anspruch genommenen Karosserieteile sind nach Einfügung in die von der Klägerin hergestellten Fahrzeuge bei bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar, so dass die Voraussetzung des Art. 4 Abs. 2 Buchst. a GGV erfüllt ist.

29cc) Im Falle eines Bauelements, das - wie die im Streitfall zu beurteilenden Teile einer Fahrzeugkarosserie - in ein komplexes Erzeugnis eingefügt wird, stellt sich die Frage, welcher rechtliche Maßstab für die Ermittlung des Gesamteindrucks bei der Prüfung der Eigenart nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. b, Art. 6 Abs. 1 Buchst. a GGV anzulegen ist.

30Eigenart liegt vor, wenn der informierte Benutzer bezogen auf das Bauelement einen Gesamteindruck wahrnimmt, der sich vom Gesamteindruck eines anderen Bauelements unterscheidet. Ein Geschmacksmuster, das in einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, hat Eigenart, wenn das Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt (was hier der Fall ist) und soweit diese sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Eigenart erfüllen. Das setzt voraus, dass sich der Gesamteindruck, den diese sichtbaren Merkmale des Bauelements beim informierten Benutzer hervorrufen, von dem Gesamteindruck unterscheidet, den die sichtbaren Merkmale eines anderen Bauelements bei diesem Benutzer hervorrufen. Nach der Rechtsprechung des Senats besteht die Funktion des Geschmacksmusters oder Designs darin, in seiner Wirkung auf den Formen- (und Farben-)sinn das durch Anschauen des Erzeugnisses vermittelte ästhetische Gefühl anzuregen. Die Übereinstimmung des Gesamteindrucks kann daher nicht unabhängig davon beurteilt werden, in welcher Weise das Erzeugnis bei seiner bestimmungsgemäßen Verwendung wahrgenommen wird (vgl. Begründung des Regierungsentwurfs zu § 4 des Geschmacksmusterreformgesetzes, BT-Drucks. 15/1075, S. 35; , GRUR 1961, 640, 642 = WRP 1961, 352 - Straßenleuchte; Urteil vom - I ZR 40/14, GRUR 2016, 803 Rn. 42 = WRP 2016, 1135 - Armbanduhr).

31Zum eingetragenen Geschmacksmuster nach § 1 Abs. 1 GeschmMG aF hat der Senat entschieden, dass ein Teil eines hinterlegten Geschmacksmusters selbständig am Musterschutz teilnehmen konnte, sofern er für sich allein den Erfordernissen der Neuheit und Eigentümlichkeit genügte und eine gewisse Eigenständigkeit und Geschlossenheit der Form aufwies, die es überhaupt möglich machte, einen von der Gesamtform unabhängigen ästhetischen Gesamteindruck der Unterkombination festzustellen (vgl. , GRUR 1977, 602, 605 - Trockenrasierer, mwN; Urteil vom - I ZR 117/77, GRUR 1979, 705, 706 = WRP 1979, 646 - Notizklötze; Urteil vom - I ZR 134/95, GRUR 1998, 379, 381 = WRP 1998, 406 - Lunette, mwN). Unter Geltung des durch die Gemeinschaftsgeschmacksmusterverordnung und die Richtlinie 98/71/EG unionsrechtlich harmonisierten Geschmacksmusterrechts können diese Kriterien auf das eingetragene Geschmacksmuster allerdings nicht mehr angewendet werden, weil es danach keinen aus einem eingetragenen Geschmacksmuster abgeleiteten Teileschutz gibt (dazu bereits II 2 a bb).

32Nach Auffassung des Senats dürfte auch im Falle des nicht eingetragenen Geschmacksmusters an einem Bauelement eines komplexen Erzeugnisses das Bauelement nur dann eigenartig sein, wenn die Erscheinungsform des Bauelements in der Wahrnehmung des informierten Benutzers nicht vollständig in der Erscheinungsform des komplexen Erzeugnisses untergeht, sondern eine gewisse Eigenständigkeit und Geschlossenheit der Form aufweist, die es ermöglicht, einen von der Gesamtform unabhängigen ästhetischen Gesamteindruck festzustellen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2020:300120BIZR1.19.0

Fundstelle(n):
XAAAH-43517