Sachverhaltsaufklärung zum fristgerechten Eingang eines Rechtsmittelschriftsatzes durch Einwurf in Nachtbriefkasten
Leitsatz
1. Der Partei, welche den rechtzeitigen Eingang ihres Rechtsmittels beweisen muss, steht gegen den durch den Eingangsstempel als öffentliche Urkunde im Sinne des § 418 Abs. 1 ZPO erbrachten Beweis für einen Eingang des Schriftsatzes erst an dem im Stempel angegebenen Tag gemäß § 418 Abs. 2 ZPO der im Wege des Freibeweises zu führende Gegenbeweis zu, welcher die volle Überzeugung des Gerichts (§ 286 Abs. 1 ZPO) von dem rechtzeitigen Eingang des Schriftsatzes erfordert (im Anschluss an , NJW 2000, 1872 unter II 1a; vom - III ZR 10/06, NJW 2007, 603 Rn. 5 und vom - VIII ZR 224/16, NJW 2017, 2285 Rn. 18; jeweils mwN).
2. Zur Pflicht des Rechtsmittelgerichts, insoweit auch Zeugenbeweis - vorliegend durch den die Rechtsmittelschrift in den Nachtbriefkasten einwerfenden Prozessbevollmächtigten der Partei - zu erheben.
Gesetze: § 233 ZPO, § 286 Abs 1 ZPO, § 418 Abs 1 ZPO, § 418 Abs 2 ZPO, § 517 ZPO
Instanzenzug: LG Bamberg Az: 3 S 15/19vorgehend AG Bamberg Az: 102 C 1109/18
Gründe
I.
1Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Herausgabe einer Mietwohnung in Anspruch. Die Klage hat vor dem Amtsgericht Erfolg gehabt.
2Gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am zugestellte Urteil des Amtsgerichts hat der Beklagte mit Schriftsatz vom Berufung eingelegt. Dieser Schriftsatz trägt den Eingangsstempel "Nachtbriefkasten" und das Datum "".
3Nach Mitteilung des Eingangsdatums hat der Beklagtenvertreter vorgetragen, er habe die Rechtsmittelschrift am gegen 20.05 Uhr persönlich in den Nachtbriefkasten des Landgerichts eingeworfen, und um entsprechende Korrektur des Eingangsdatums gebeten.
4Das Berufungsgericht hat daraufhin eine Stellungnahme von zwei Mitarbeitern der Posteingangsstelle eingeholt. Diese haben angegeben, am Tag der Leerung des Nachtbriefkastens - - habe sich nur im Fach "Vortag" ein Briefeingang befunden, der dementsprechend mit dem Nachtbriefkastenstempel sowie dem Datumsstempel versehen worden sei. Sie haben weiter Angaben zur Funktionsfähigkeit des Nachtbriefkastens gemacht.
5Auf den Hinweis des Berufungsgerichts, wonach die Berufung mangels fristgerechten Eingangs unzulässig sei, hat der Beklagte unter Beifügung einer eidesstattlichen Versicherung seines Prozessbevollmächtigten beantragt, ihm für eine etwaige Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
6Nach Einholung einer ergänzenden Stellungnahme der beiden Mitarbeiter der Posteingangsstelle zur Stempelung der Eingangspost sowie zu den Leerungen des Nachtbriefkastens am 19. und hat das Berufungsgericht mit Beschluss vom die Berufung des Beklagten sowie dessen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in die Berufungsfrist verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
7Die Berufung sei unzulässig. Der Nachweis fristgerechten Eingangs der Berufungsschrift bis zum sei nicht erbracht, was sich zum Nachteil des beweisbelasteten Beklagten auswirke. Eine Glaubhaftmachung fristgerechten Eingangs genüge nicht. Wäre der Berufungsschriftsatz, wie der Beklagtenvertreter angegeben habe, bereits am eingegangen, wäre er bereits bei der Posteingangskontrolle am Morgen des erfasst worden. Erfassungsfehler könnten ausgeschlossen werden. Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit der Stellungnahme beider Wachtmeister bestünden nicht. Andererseits habe die Kammer auch keine durchgreifenden Anhaltspunkte an der anwaltlich versicherten Darstellung des Beklagtenvertreters, er habe die Berufungsschrift bereits am Abend des in den Nachtbriefkasten eingeworfen, zu zweifeln. Nach freibeweislicher Aufklärung bleibe daher offen, ob die Berufungsfrist gewahrt worden sei, was sich zum Nachteil der Beklagtenseite auswirke.
8Der Wiedereinsetzungsantrag sei unzulässig, jedenfalls aber unbegründet. Der Beklagte habe schon keinen Wiedereinsetzungsgrund dargetan, da er auch zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags an seiner Darstellung festhalte, die Berufungsschrift sei vor Fristablauf in den Nachtbriefkasten eingeworfen worden. Der Antrag sei auch unbegründet, da durchgreifende Gründe für ein schuldloses Versäumen der Berufungsfrist weder dargelegt noch glaubhaft gemacht seien.
9Dagegen wendet sich der Beklagte mit seiner Rechtsbeschwerde.
II.
10Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
111. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte sowie den Form- und Fristerfordernissen genügende Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Die angefochtene Entscheidung verletzt das Verfahrensgrundrecht des Beklagten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip). Dieses verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (st. Rspr.; vgl. nur BVerfGE 74, 228, 234; BVerfG, NJW 2012, 2869 Rn. 8; NZA 2016, 122 Rn. 10; Senatsbeschlüsse vom - VIII ZB 55/15, WuM 2016, 632 Rn. 1; vom - VIII ZB 69/16, NJW 2017, 2041 Rn. 9; vom - VIII ZB 70/17, NJW-RR 2018, 1325 Rn. 9). Indem das Berufungsgericht die Berufung ohne eine ausreichende Prüfung der Rechtzeitigkeit des Eingangs der Rechtsmittelschrift verworfen hat, hat es dem Beklagten den Zugang zur Berufungsinstanz unzulässig verwehrt.
122. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Mit der gegebenen Begründung hätte das Berufungsgericht nicht von einer Versäumung der Berufungsfrist (§ 517 ZPO) ausgehen dürfen. Es hat fehlerhaft den Nachweis des rechtzeitigen Eingangs der Berufung als nicht geführt angesehen, ohne zuvor die gebotenen weiteren Maßnahmen zur Aufklärung ergriffen zu haben.
13a) Im Rahmen der von Amts wegen vorzunehmenden Prüfung der Zulässigkeit der Berufung (§ 522 Abs. 1 ZPO) hat das Berufungsgericht im Ausgangspunkt zutreffend angenommen, dass der Beklagte als Berufungsführer den rechtzeitigen Eingang der Berufungsschrift zu beweisen hat (vgl. Senatsurteil vom - VIII ZR 153/93, NJW 1995, 665 unter II 3; Senatsbeschluss vom - VIII ZB 13/13, NJW-RR 2014, 179 Rn. 10; jeweils mwN). Dabei erbringt gemäß § 418 Abs. 1 ZPO der gerichtliche Eingangsstempel den vollen Beweis für einen erst an diesem Tag erfolgten - und damit vorliegend verspäteten - Eingang der Berufungsschrift.
14Dieser Beweis kann jedoch gemäß § 418 Abs. 2 ZPO durch Gegenbeweis entkräftet werden. Dabei genügt die bloße Glaubhaftmachung im Sinne des § 294 Abs. 1 ZPO nicht. Obgleich wegen der Beweisnot des Beklagten hinsichtlich gerichtsinterner Vorgänge die Anforderungen an diesen Gegenbeweis nicht überspannt werden dürfen, erfordert er die volle Überzeugung des Gerichts (§ 286 Abs. 1 ZPO) vom rechtzeitigen Eingang (vgl. , NJW 2000, 1872 unter II 1 a). Da der Außenstehende in der Regel keinen Einblick in die Funktionsweise des gerichtlichen Nachtbriefkastens sowie in das Verfahren bei dessen Leerung und damit keinen Anhaltspunkt für etwaige Fehlerquellen hat, ist es zunächst Sache des Gerichts, die insoweit zur Aufklärung nötigen Maßnahmen zu ergreifen (vgl. , aaO unter II 1 b; vom - III ZR 10/06, NJW 2007, 603 Rn. 5; vom - VIII ZR 224/16, NJW 2017, 2285 Rn. 20; Beschluss vom - XII ZB 177/96, NJW 1997, 1312 unter II 1).
15b) Dieser Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung ist das Berufungsgericht zwar insofern nachgekommen, als es zwei Stellungnahmen der mit der Bearbeitung des Posteingangs bei Gericht betrauten Bediensteten eingeholt hat, welche - was vorliegend angesichts des konkreten Beklagtenvortrags geboten war - detailliert (vgl. hierzu Senatsurteil vom - VIII ZR 224/16, aaO Rn. 21 ff.) die Bearbeitung geschildert haben.
16c) Es hat jedoch verfahrensfehlerhaft unterlassen, den Sachverhalt durch Vernehmung des Prozessbevollmächtigten des Beklagten als Zeugen weiter aufzuklären.
17Das Berufungsgericht hat zwar auch die eidesstattlich versicherte Darstellung des Beklagtenvertreters, wonach er die Berufungsschrift bereits am Abend des in den Nachtbriefkasten eingeworfen habe, berücksichtigt und an deren Richtigkeit nicht gezweifelt. Es hätte jedoch die Wahrung der Berufungsfrist nicht als "offen" ansehen und sich damit zum Nachteil des (beweisbelasteten) Beklagten auswirkend behandeln dürfen, ohne den (angebotenen) Zeugenbeweis zu erheben.
18aa) Kommt das Berufungsgericht - wie vorliegend - zu dem Ergebnis, dass die vorgelegte eidesstattliche Versicherung als bloßes Mittel der Glaubhaftmachung einen vollen Beweis für die fristgerechte Einreichung der Berufungsbegründung nicht erbringt, muss es die Parteien darauf hinweisen und ihnen Gelegenheit geben, Zeugenbeweis anzutreten oder auf andere Beweismittel zurückzugreifen. Sodann hat es - auf Antrag der Partei oder von Amts wegen - über die behaupteten Umstände Beweis zu erheben (vgl. BGH, Beschlüsse vom - VIII ZB 75/06, NJW 2007, 1457 Rn. 11; vom - VI ZB 10/05, juris Rn. 9; vgl. zur entsprechenden Pflicht, wenn das Gericht einer eidesstattlichen Versicherung im Verfahren der Wiedereinsetzung keinen Glauben schenken will: BGH, Beschlüsse vom - III ZB 43/16, juris Rn. 13; vom - XII ZB 129/09, FamRZ 2010, 726 Rn. 10 f.).
19bb) Der Beklagte hat vorliegend zum Beweis seiner detaillierten Behauptung, die Berufungsschrift sei durch seinen Prozessbevollmächtigten bereits am und somit fristwahrend in den Nachtbriefkasten des Gerichts eingeworfen worden, neben der Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung - in welcher ohnehin regelmäßig der Antrag zu sehen ist, denjenigen, der die eidesstattliche Versicherung abgegeben hat, als Zeugen zu vernehmen (vgl. BGH, Beschlüsse vom - VIII ZB 45/10, WuM 2011, 176 Rn. 9; vom - VII ZB 67/15, FamRZ 2018, 281 Rn. 18) - ausdrücklich die Vernehmung seines Prozessbevollmächtigten als Zeugen beantragt. Diesen Beweis musste das Berufungsgericht erheben, da die Annahme, der Nachweis des rechtzeitigen Eingangs der Berufung sei nicht geführt, ohne vorherige Vernehmung des Zeugen auf eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung hinausläuft (vgl. , aaO, mwN).
III.
20Die Entscheidung des Berufungsgerichts kann nach alledem keinen Bestand haben; sie ist daher aufzuheben. Da es noch weiterer tatsächlicher Aufklärung bedarf, ist die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO).
21Falls das Berufungsgericht nach Durchführung der Beweisaufnahme nach wie vor nicht die volle richterliche Überzeugung zu gewinnen vermag, dass die Berufung entgegen dem Eingangsstempel rechtzeitig beim Berufungsgericht eingegangen ist, wird es den (hilfsweise gestellten) Wiedereinsetzungsantrag des Beklagten zu prüfen haben.
221. Dieser ist - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts - zulässig. Insbesondere hat der Beklagte einen Wiedereinsetzungsgrund dargetan (§ 236 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 ZPO).
23Es ist dabei, worauf die Rechtsbeschwerde zutreffend verweist, unschädlich, dass der Beklagte in erster Linie die Einhaltung der Berufungsfrist behauptet und zur Begründung seines Wiedereinsetzungsgesuchs folgerichtig an seiner Darstellung festhält, die Berufungsschrift rechtzeitig in den Nachtbriefkasten eingeworfen und damit die Frist gewahrt zu haben. Denn es entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass eine Partei die Rechtzeitigkeit ihrer Prozesshandlung behaupten und zugleich für den Fall, dass sie zur Beweisführung nicht in der Lage ist, Wiedereinsetzung beantragen kann (vgl. , aaO Rn. 6; Beschlüsse vom - XII ZB 177/96, aaO unter II 2 a; vom - VII ZB 36/99, NJW 2000, 2280 unter II 2).
242. Das Berufungsgericht wird daher - wenn es den Gegenbeweis nach § 418 Abs. 2 ZPO nicht als geführt ansieht - im Rahmen der Begründetheit des Wiedereinsetzungsantrags zu beurteilen haben, ob nicht wenigstens eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der Prozessbevollmächtigte des Beklagten die Berufung noch am in den Nachtbriefkasten eingeworfen hat und damit ein fehlendes Verschulden an der Fristversäumnis glaubhaft gemacht worden ist (vgl. Senatsurteil vom - VIII ZR 224/16, aaO Rn. 32 mwN). Hierbei wird es die insoweit eingeschränkten Möglichkeiten der Partei zur Glaubhaftmachung in Fällen wie dem vorliegenden, bei welchem der Einwurf in den Nachtbriefkasten den letzten, noch ihrer Wahrnehmung zugänglichen Übermittlungsakt darstellt, zu beachten haben (vgl. , NJW-RR 2005, 75 unter II 4; Senatsbeschluss vom - VIII ZB 20/17, juris Rn. 11 mwN [zum Postversand]).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2020:280120BVIIIZB39.19.0
Fundstelle(n):
NJW-RR 2020 S. 499 Nr. 8
SAAAH-42872