BSG Beschluss v. - B 8 SO 71/18 B

Instanzenzug: SG Magdeburg Az: S 16 SO 172/11vorgehend Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Az: L 8 SO 33/14 Urteil

Gründe

I

1Im Streit ist die Erstattung von Leistungen der stationären Eingliederungshilfe in Höhe von 121 727,18 Euro, die die Klägerin für die Zeit vom bis zum zu Gunsten des Leistungsberechtigten J.-L. S. (im Folgenden S) erbracht hat.

2Zugunsten des 2001 geborenen S, bei dem eine wesentliche geistige Behinderung besteht, bewilligte das Jugendamt der Klägerin ua im streitigen Zeitraum stationäre Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 34 Sozialgesetzbuch Achtes Buch - Kinder- und Jugendhilfe - (SGB VIII), weil seine Erziehung zu Hause nicht mehr in einer seinem Wohl entsprechenden Weise erfolgen konnte. Die gegen den überörtlichen Träger der Sozialhilfe als zuständigen Träger von Leistungen der stationären Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) gerichtete Klage auf Erstattung von (zuletzt) 121 727,18 Euro hat keinen Erfolg gehabt (Urteil des Sozialgerichts <SG> Magdeburg vom ; Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Sachsen-Anhalt vom ). Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, dem Grunde nach habe die Klägerin zwar einen Anspruch auf Grundlage von § 104 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) iVm § 14 Abs 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX), da sie als erstangegangener Rehabilitationsträger nach den Vorschriften des SGB VIII geleistet habe, zugleich aber ein nach § 10 Abs 4 Satz 2 SGB VIII vorrangiger Anspruch des S auf Eingliederungshilfe nach dem SGB XII gegen den Beklagten bestanden habe. Wegen der Höhe des Erstattungsanspruchs sei aber nicht feststellbar, ob und in ggf in welcher Höhe S und seine Eltern durch einen Kostenbeitrag nach § 92 Abs 1 iVm § 19 Abs 3, Abs 1 SGB XII heranzuziehen gewesen wären. Die Klägerin habe selbst angegeben, eine entsprechende Berechnung nicht durchführen zu können. Der Senat verfüge aber nicht über die erforderlichen Unterlagen; die Eltern treffe insoweit keine Mitwirkungspflicht mehr.

3Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem bezeichneten Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde und macht eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sowie Verfahrensmängel geltend.

II

4Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der Revisionszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung und des Verfahrensmangels.

5Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung - ggf sogar des Schrifttums - angeben, welche Rechtsfrage sich stellt, dass diese noch nicht geklärt ist, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfrage aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt ( 12/11 BA 116/75 - SozR 1500 § 160 Nr 17 und - SozR 1500 § 160a Nr 7, vom - 11 BA 8/75 - SozR 1500 § 160a Nr 11, vom - 12 BJ 94/75 - SozR 1500 § 160a Nr 13, vom - 8/3 RK 28/77 - SozR 1500 § 160a Nr 31, vom - 7 BAr 69/80 - SozR 1500 § 160a Nr 39, vom - 5b BJ 174/86 - SozR 1500 § 160a Nr 59 und vom - 7 BAr 104/87 - SozR 1500 § 160a Nr 65). Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer eine konkrete Frage formulieren, deren (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit und (konkrete) Klärungsfähigkeit (= Entscheidungserheblichkeit) sowie deren über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung (Breitenwirkung) darlegen (vgl nur - SozR 3-1500 § 160a Nr 34 S 70 mwN). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.

6Die Klägerin formuliert schon keine Rechtsfrage, über die hier zu entscheiden wäre. Aber auch aus ihren Ausführungen im Übrigen lässt sich eine Rechtsfrage nicht entnehmen. Sie führt nur aus, die Beteiligten seien davon ausgegangen, dass sich das zu erwartende Urteil ausschließlich auf die Rechtsfrage der Abgrenzung von Leistungen nach dem SGB VIII und dem SGB XII stützen werde. Abgesehen davon, dass damit eine Rechtsfrage nicht ausreichend aufgezeigt wird, hat das LSG diese Frage auch im Sinne der Klägerin beantwortet. Die behauptete Unrichtigkeit der Vorgehensweise des LSG im Übrigen (dazu sogleich) und die vermeintliche Breitenwirkung vermögen die Revisionszulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung nicht zu begründen.

7Auch ein Verfahrensmangel ist nicht hinreichend bezeichnet. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 S 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB - SozR 1500 § 160a Nr 14, vom - 9 BV 214/75 - SozR 1500 § 160a Nr 24 und vom - 10 BV 109/79 - SozR 1500 160a Nr 36). Hieran fehlt es. Die Klägerin legt den von ihr geltend gemachten Gehörsverstoß durch Erlass einer Überraschungsentscheidung nicht hinreichend dar.

8Nach § 128 Abs 2 SGG darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten haben äußern können. Die Regelung erfasst einen Teilbereich des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 Grundgesetz <GG>, Art 47 Abs 2 Charta der Grundrechte der EU, Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention <EMRK>; vgl - BSGE 117, 192 = SozR 4-1500 § 163 Nr 7, RdNr 23). Die Vorschrift soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten. Ein Urteil darf nicht auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, die bisher nicht erörtert worden sind, wenn dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (vgl BVerfG <Kammer> vom - 1 BvR 2285/02 - NJW 2003, 2524; - juris RdNr 7 mwN). Das Gericht muss die Beteiligten über die für seine Entscheidung maßgebenden Tatsachen und Beweisergebnisse vorher unterrichten, ihnen insbesondere auch Gelegenheit geben, sich zu äußern (vgl - SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19). Wer die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß § 128 Abs 2 SGG rügt, muss hierzu ausführen, zu welchen vom Gericht zugrunde gelegten Tatsachen und Beweisergebnissen sich der Rechtsuchende nicht hat äußern können, welches Vorbringen des Rechtsuchenden dadurch verhindert worden ist und inwiefern das Urteil auf diesem Sachverhalt beruht (vgl allgemein zu den Anforderungen an die Darlegung eines Gehörsverstoßes zB - SozR 1500 § 160a Nr 36; - juris RdNr 13). Die Klägerin genügt diesen Anforderungen nicht, indem sie ausführt, zwar habe das LSG die Parteien vor dem Termin wechselseitig aufgefordert, die dem Kostenerstattungsantrag zugrundeliegenden Kosten sowohl nach dem SGB VIII als auch nach dem SGB XII zu berechnen, jedoch keinen Hinweis gegeben, dass unter Umständen die Kosten der Höhe nach in Gänze zurückgewiesen werden könnten und weshalb. Sie legt nämlich - was erforderlich gewesen wäre - nicht dar, dass das LSG ihr unbekannte Tatsachen oder neue rechtliche Gesichtspunkte in seine Entscheidung eingeführt hat. Sie verkennt dabei, dass eine Verletzung der Hinweispflicht gemäß § 106 Abs 1, Abs 2 iVm Abs 3 Nr 3 SGG sich nur auf entscheidungserhebliche Tatsachen, die dem Betroffenen bislang unbekannt waren, und auf neue rechtliche Gesichtspunkte ( - juris RdNr 6) bezieht, es aber keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz gibt, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe hinzuweisen (vgl nur - SozR 3-1500 § 153 Nr 1 S 3).

9Mit der Rüge, die Entscheidung des LSG sei "nicht nachvollziehbar" und erscheine nicht nur unbillig, sondern auch formell rechtswidrig, macht die Klägerin schließlich keinen Verfahrensfehler geltend, sondern wendet sich nur gegen die Richtigkeit der Entscheidung, die allein die Zulassung der Revision nicht rechtfertigt. Die Auffassung, das LSG habe ein Zwischenurteil aussprechen müssen, wird nicht ansatzweise erläutert. Eine Begründung dafür, weshalb das in § 130 Abs 2 SGG eingeräumte Ermessen auf Null reduziert sein soll, fehlt gänzlich. Soweit darauf verwiesen wird, dass sich Jugendamt und Sozialamt wegen der unterschiedlichen Berechnungsarten der Kostenbeiträge in der Praxis nicht selten einvernehmlich einigten und sie dieser Möglichkeit beraubt worden seien, wird die (materiell-rechtliche) Relevanz (Entscheidungserheblichkeit) dieses Vortrags nicht deutlich.

10Die Bitte der Klägern in der Beschwerdebegründung um einen richterlichen Hinweis bzw Verlängerung der Begründungsfrist, falls vom Gericht weiterer Vortrag "gewünscht" sei, führt nicht dazu, dass eine Entscheidung über die unzureichend begründete Beschwerde zurückzustellen wäre. Der Senat ist nicht verpflichtet, einen sachkundig vertretenen Beteiligten vor einer Entscheidung auf Mängel der Beschwerdebegründung hinzuweisen. Die Bestimmung des § 106 Abs 1 SGG gilt insoweit nicht. Das Gesetz unterstellt, dass ein beim BSG postulationsfähiger Vertreter auch ohne Hilfe des Gerichts in der Lage ist, eine Nichtzulassungsbeschwerde formgerecht zu begründen (ua ; ; - juris RdNr 7). Gerade dies ist ein Grund für den Vertretungszwang des § 73 Abs 4 SGG (; - juris RdNr 16).

11Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 197a SGG iVm § 154 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 63 Abs 2 Satz 1, 47 Abs 1 und 3, 52 Abs 3 Gerichtskostengesetz (GKG).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2019:170719BB8SO7118B0

Fundstelle(n):
EAAAH-28771