Abzug für Risikokapital – Fiktive Zinsen – Einschränkung der Abzugsmöglichkeit für Gesellschaften, die über Betriebsstätten im Ausland verfügen, die Einkünfte erzielen, die aufgrund eines Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von der Steuer befreit sind
Leitsatz
Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach bei der Berechnung des Abzugs, der einer in einem Mitgliedstaat unbeschränkt steuerpflichtigen Gesellschaft gewährt wird, der Nettowert der Aktiva einer in einem anderen Mitgliedstaat gelegenen Betriebsstätte nicht berücksichtigt wird, wenn die Gewinne dieser Betriebsstätte im ersten Mitgliedstaat gemäß einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung nicht steuerpflichtig sind, wohingegen die Aktiva, die einer in diesem ersten Mitgliedstaat gelegenen Betriebsstätte zugeordnet sind, für diesen Abzug berücksichtigt werden.
Instanzenzug:
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 49 AEUV.
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Argenta Spaarbank NV (im Folgenden: Argenta) und dem Belgischen Staat wegen der Berechnung des Abzugs für Risikokapital im Rahmen der Besteuerung für das Jahr 2008.
Rechtlicher Rahmen
Belgisches Recht
3 Der Abzug für Risikokapital wurde mit dem Gesetz vom zur Einführung eines Steuerabzugs für Risikokapital (Belgisch Staatsblad vom , S. 30077) in das Einkommensteuersystem eingeführt. Dieser Abzug ist in den Art. 205bis bis 205nonies und 236 des Wetboek van de inkomstenbelastingen (Einkommensteuergesetzbuch) 1992 (im Folgenden: WIB 1992) geregelt.
4 Der Begründung dieses Gesetzes ist zu entnehmen, dass es u. a. den Zweck verfolgt, die Unterschiede in der steuerlichen Behandlung zwischen der Finanzierung von Gesellschaften mittels Fremdkapital, dessen Vergütung steuerlich in vollem Umfang absetzbar ist, und der Finanzierung mittels Eigenkapital (Risikokapital), dessen Vergütung in vollem Umfang besteuert wird, abzuschwächen und die Liquiditätsquote der Gesellschaften zu erhöhen, wobei der Abzug für Risikokapital im Rahmen des allgemeinen Ziels eingeführt wurde, die Wettbewerbsfähigkeit der belgischen Wirtschaft zu verbessern.
5 Der Abzug für Risikokapital, auch „Abzug fiktiver Zinsen“ genannt, besteht darin, dass von der Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer ein bestimmter Prozentsatz des Eigenkapitals der betreffenden Gesellschaft abgezogen wird.
6 Nach Art 205quater Abs. 1 WIB 1992 entspricht dieser Abzug für Risikokapital dem gemäß Art. 205ter WIB 1992 bestimmten Risikokapital, multipliziert mit einem in den folgenden Absätzen des Art. 205quater bestimmten Satz.
7 Nach Art. 205ter Abs. 1 Unterabs. 1 WIB 1992 entspricht das Risikokapital, das für die Ermittlung des Abzugs für Risikokapital für einen bestimmten Besteuerungszeitraum zu berücksichtigen ist, vorbehaltlich der Bestimmungen der Abs. 2 bis 7 dem Betrag des Eigenkapitals der Gesellschaft am Ende des vorhergehenden Besteuerungszeitraums, das gemäß den Rechtsvorschriften über die Buchhaltung und den Jahresabschluss bestimmt wird, so wie es in der Bilanz erscheint. In Art. 205ter Abs. 2 bis 7 sind die Fälle genannt, in denen Berichtigungen des Eigenkapitals vorgenommen werden müssen, damit dieses als Berechnungsgrundlage für die Höhe des Abzugs für Risikokapital dienen kann.
8 Insbesondere wird nach Art. 205ter Abs. 2 WIB 1992 das Risikokapital, das nach Art. 205ter Abs. 1 WIB 1992 bestimmt wird, um den Nettowert der Aktiva der Betriebsstätten verringert, deren Einkünfte in Belgien aufgrund eines Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von der Steuer befreit sind.
9 Wird in einem Besteuerungszeitraum, für den ein Abzug für Risikokapital möglich ist, kein Gewinn erzielt, wird die Befreiung nach Art. 205quinquies WIB 1992 schrittweise auf die Gewinne der folgenden sieben Jahre übertragen.
Abkommen zwischen dem Königreich Belgien und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
10 Art. 7 Abs. 1 bis 3 des Abkommens vom zwischen dem Königreich Belgien und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Moniteur belge vom , S. 57533, im Folgenden: belgisch-niederländisches Abkommen) bestimmt:
„(1) Die Gewinne eines Unternehmens eines Vertragsstaats können nur in diesem Staat besteuert werden, es sei denn, das Unternehmen übt seine Geschäftstätigkeit im anderen Vertragsstaat durch eine dort gelegene Betriebsstätte aus. Übt das Unternehmen seine Geschäftstätigkeit auf diese Weise aus, so können seine Gewinne im anderen Staat besteuert werden, jedoch nur insoweit, als sie dieser Betriebsstätte zugerechnet werden können.
(2) Übt ein Unternehmen eines Vertragsstaats seine Geschäftstätigkeit im anderen Vertragsstaat durch eine dort gelegene Betriebsstätte aus, so werden vorbehaltlich der Bestimmungen von Abs. 3 in jedem Vertragsstaat dieser Betriebsstätte die Gewinne zugerechnet, die sie hätte erzielen können, wenn sie eine gleiche oder ähnliche Geschäftstätigkeit unter gleichen oder ähnlichen Bedingungen als selbständiges Unternehmen ausgeübt hätte und im Verkehr mit dem Unternehmen, dessen Betriebsstätte sie ist, völlig unabhängig gewesen wäre.
(3) Bei der Ermittlung der Gewinne einer Betriebsstätte werden die für diese Betriebsstätte entstandenen Aufwendungen, einschließlich der Geschäftsführungs- und allgemeinen Verwaltungskosten, zum Abzug zugelassen, gleichgültig, ob sie in dem Staat, in dem die Betriebsstätte liegt, oder anderswo entstanden sind.“
11 In Art. 23 Abs. 1 des belgisch-niederländischen Abkommens heißt es:
„In Bezug auf Belgien wird die Doppelbesteuerung wie folgt vermieden:
a) Wenn eine in Belgien ansässige Person Einkünfte bezieht – mit Ausnahme von Dividenden, Zinsen oder der in Art. 12 Abs. 5 dieses Abkommens genannten Lizenzgebühren – oder Vermögensteile besitzt und diese Einkünfte oder Vermögensteile nach dem Abkommen in den Niederlanden besteuert werden, werden diese Einkünfte oder Vermögensteile in Belgien von der Besteuerung ausgenommen; Belgien kann aber bei der Festsetzung der Steuer für das übrige Einkommen oder Vermögen den Steuersatz anwenden, der anzuwenden wäre, wenn die betreffenden Einkünfte oder Vermögensteile nicht von der Besteuerung ausgenommen wären.
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
12 Argenta ist eine Gesellschaft mit Sitz in Belgien, die in diesem Mitgliedstaat der Körperschaftsteuer unterliegt. Sie unterhält eine Betriebsstätte in den Niederlanden, deren Einkünfte gemäß dem belgisch-niederländischen Abkommen in Belgien von der Steuer befreit sind.
13 Für die Besteuerung für das Jahr 2008 beantragte Argenta nach den Art. 205bis bis 205nonies WIB 1992 einen Abzug für Risikokapital.
14 Am wurde die von Argenta zu zahlende Körperschaftsteuer für das genannte Steuerjahr festgesetzt. Im Rahmen der Berechnung dieser Steuer berücksichtigte die belgische Steuerverwaltung bei der Ermittlung des Risikokapitals, das als Grundlage für den Abzug für Risikokapital dient, unter Berufung auf Art. 205ter Abs. 2 WIB 1992 nicht den Nettowert der Aktiva der in den Niederlanden gelegenen Betriebsstätte.
15 Die von Argenta am gegen diese Steuervorschreibung eingelegte Beschwerde wurde von der belgischen Steuerverwaltung am zurückgewiesen.
16 Da Argenta der Ansicht war, dass Art. 205ter Abs. 2 WIB 1992 die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV insofern beschränke, als die Investitionen, die für eine Betriebsstätte getätigt würden, die sich in einem Mitgliedstaat befinde, mit dem das Königreich Belgien ein Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung geschlossen habe, nicht zu einem Abzug für Risikokapital berechtigten, wohingegen entsprechende Investitionen für eine in Belgien gelegene Betriebsstätte zu diesem Abzug berechtigten, erhob sie am beim vorlegenden Gericht Klage gegen diese Entscheidung.
17 Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Steht Art. 49 AEUV einer nationalen Steuerregelung entgegen, wonach eine in Belgien unbeschränkt steuerpflichtige Gesellschaft bei der Ermittlung ihres steuerbaren Gewinns keinen Abzug für Risikokapital in Höhe der positiven Differenz zwischen einerseits dem Nettobuchwert der Aktiva der Niederlassungen, die der Steuerpflichtige in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union unterhält, und andererseits der Gesamtheit der Passiva, die auf diese Niederlassungen anrechenbar sind, vornehmen kann, während sie zu einem solchen Abzug berechtigt ist, wenn diese positive Differenz einer in Belgien gelegenen Betriebsstätte zugerechnet werden kann?
Zur Vorlagefrage
18 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 49 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach bei der Berechnung des Abzugs, der einer in einem Mitgliedstaat unbeschränkt steuerpflichtigen Gesellschaft gewährt wird, der Nettowert der Aktiva einer in einem anderen Mitgliedstaat gelegenen Betriebsstätte nicht berücksichtigt wird, wenn die Gewinne dieser Betriebsstätte im ersten Mitgliedstaat gemäß einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung nicht steuerpflichtig sind, wohingegen die Aktiva, die einer in diesem ersten Mitgliedstaat gelegenen Betriebsstätte zugeordnet sind, für diesen Abzug berücksichtigt werden.
19 Nach ständiger Rechtsprechung ist mit der Niederlassungsfreiheit, die Art. 49 AEUV den Unionsbürgern zuerkennt und die für sie die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen unter den gleichen Bedingungen wie den im Mitgliedstaat der Niederlassung für dessen eigene Angehörige festgelegten umfasst, gemäß Art. 54 AEUV für die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben, das Recht verbunden, ihre Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat durch eine Tochtergesellschaft, Zweigniederlassung oder Agentur auszuüben (vgl. Urteil vom , Accor, C-310/09, Slg. 2011, I-8115, Randnr. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
20 Auch wenn die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit ihrem Wortlaut nach die Inländerbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sichern sollen, verbieten sie es doch auch, dass der Herkunftsmitgliedstaat die Niederlassung eines seiner Staatsangehörigen oder einer nach seinem Recht gegründeten Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat behindert (Urteil Accor, Randnr. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
21 Diese Erwägungen gelten auch dann, wenn eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft über eine Betriebsstätte in einem anderen Mitgliedstaat tätig ist (Urteil vom , Lidl Belgium, C-414/06, Slg. 2008, I-3601, Randnr. 20).
22 Im Ausgangsverfahren steht fest, dass die in Rede stehende Regelung die Aktiva von in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien gelegenen Betriebsstätten, deren Einkünfte in Belgien nicht steuerpflichtig sind, und die Aktiva von in Belgien gelegenen Betriebsstätten für die Berechnung des Abzugs für Risikokapital unterschiedlich behandelt.
23 Die Aktiva, die den Betriebsstätten zugeordnet werden, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien liegen und deren Einkünfte in Belgien nicht steuerpflichtig sind, werden bei der Berechnung des Risikokapitals, das als Berechnungsgrundlage für den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Abzug dient, nicht berücksichtigt, wohingegen die Aktiva, die den in Belgien gelegenen Betriebsstätten zugeordnet sind, bei dieser Berechnung berücksichtigt werden.
24 Wie der Generalanwalt in Nr. 33 seiner Schlussanträge festgestellt hat, stellt die Berücksichtigung der Aktiva einer Betriebsstätte für die Berechnung des Abzugs für Risikokapital einer Gesellschaft, die in Belgien der Körperschaftsteuer unterliegt, einen Steuervorteil dar, weil eine solche Berücksichtigung dazu beiträgt, den effektiven Satz der Körperschaftsteuer, die von einer solchen Gesellschaft in diesem Mitgliedstaat zu entrichten ist, herabzusetzen.
25 Ein solcher Steuervorteil wird aber verweigert, wenn sich die Betriebsstätte der in Belgien ansässigen Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat befindet und ihre Einkünfte gemäß einem Abkommen zwischen dem Königreich Belgien und diesem anderen Mitgliedstaat zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von der Steuer befreit sind.
26 Die belgische Regierung macht hierzu geltend, dass die sich aus der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung ergebende unterschiedliche Behandlung dennoch keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstelle, da zum einen diese unterschiedliche Behandlung für die Gesellschaft, die über eine Betriebsstätte in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien verfüge, keine nachteiligen Folgen nach sich ziehe und zum anderen, falls derartige negative Folgen festgestellt würden, diese durch die parallele Ausübung der Steuerhoheit mehrerer Mitgliedstaaten bedingt seien.
27 So könnte, selbst wenn die Aktiva der in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien gelegenen Betriebsstätte berücksichtigt würden, das Steuerergebnis des inländischen Stammhauses nicht verringert werden. Bei ausländischen Betriebsstätten, die nicht gemäß einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung befreit seien, werde nämlich der Abzug für Risikokapital getrennt im Verhältnis zu den der Betriebsstätte zugeordneten Aktiva ermittelt und vorrangig auf die Gewinne dieser Betriebsstätte angewandt. Die belgische Regierung schließt daraus im Wege der Analogie, dass der Abzug für Risikokapital, wenn die Aktiva der in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien gelegenen Betriebsstätte, deren Einkünfte gemäß einem Abkommen befreit seien, berücksichtigt würden, sich auf die dieser Betriebsstätte zugeordneten Gewinne beziehen müsste. Diese Gewinne seien aber in Belgien nicht steuerpflichtig.
28 Argenta und die Kommission lehnen diese Auslegung des belgischen Rechts ab und machen geltend, dass der Abzug für Risikokapital bei ausländischen Betriebsstätten, deren Einkünfte in Belgien nicht von der Steuer befreit seien, auf der Grundlage sämtlicher Einkünfte berechnet werde und auf die Gesamtheit der steuerpflichtigen Einkünfte der betreffenden Gesellschaft anwendbar sei.
29 Der Gerichtshof ist nach ständiger Rechtsprechung bei der Beantwortung einer Vorabentscheidungsfrage, die ihm von einem Gericht eines Mitgliedstaats gemäß Art. 267 AEUV gestellt worden ist, nicht befugt, das innerstaatliche Recht dieses Mitgliedstaats auszulegen (vgl. insbesondere Urteile vom , Vanacker und Lesage, C-37/92, Slg. 1993, I-4947, Randnr. 7, vom , Gysen, C-449/06, Slg. 2008, I-553, Randnr. 17, und vom , Zakaria, C-23/12, Randnr. 29).
30 Die belgische Regierung hat jedoch in der mündlichen Verhandlung zugegeben, dass der Abzug für Risikokapital zwar getrennt im Verhältnis zu den Aktiva der Betriebsstätte berechnet werde und vorrangig auf die Gewinne dieser Betriebsstätte angewandt werden müsse, ein etwaiger Überschuss aber von den Gewinnen des Stammhauses abgezogen werde. Daher folgt aus den Ausführungen der belgischen Regierung nicht, dass das inländische Stammhaus nicht die Möglichkeit hat, zur Verringerung seiner Steuerbemessungsgrundlage den Abzug für Risikokapital in Anspruch zu nehmen, der unter Berücksichtigung der Aktiva der in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien gelegenen Betriebsstätte berechnet wurde.
31 Wie der Generalanwalt in Nr. 40 seiner Schlussanträge festgestellt hat, hat die belgische Regierung außerdem das Vorbringen von Argenta nicht bestritten, wonach eine belgische Gesellschaft, die über Eigenkapital verfügt, in den Genuss des Abzugs für Risikokapital kommen kann, auch wenn nur ihre ausländische Betriebsstätte, die selbst über kein Eigenkapital verfügt, Gewinne erzielt, die letzten Endes nach der belgischen Regelung zur Berechnung dieses Abzugs der genannten Gesellschaft zugerechnet werden.
32 Wenn es einer Gesellschaft, die eine Betriebsstätte in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien hat, nicht möglich ist, zur Verringerung ihrer Steuerbemessungsgrundlage den Abzug für Risikokapital, der unter Berücksichtigung der Aktiva dieser Betriebsstätte berechnet wird, in Anspruch zu nehmen, ist dies folglich ein Nachteil für diese Gesellschaft.
33 Entgegen der Behauptung der belgischen Regierung ergibt sich diese nachteilige Behandlung nicht aus dem Umstand, dass der Mitgliedstaat, in dem die Betriebsstätte liegt, keinen Abzug für Risikokapital vorsieht, sondern allein aus der in der belgischen Regelung getroffenen Entscheidung, die Aktiva dieser Betriebsstätten nicht zu berücksichtigen. Diese nachteilige Behandlung kann daher nicht die Folge der parallelen Ausübung der Steuerhoheit durch mehrere Mitgliedstaaten sein.
34 Eine solche nachteilige Behandlung kann eine belgische Gesellschaft davon abhalten, ihre Tätigkeiten mittels einer in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien gelegenen Betriebsstätte auszuüben, und stellt folglich eine Beschränkung dar, die nach den Bestimmungen des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit grundsätzlich unzulässig ist.
35 Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nur statthaft, wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. In diesem Fall muss die Beschränkung aber außerdem geeignet sein, die Erreichung des in Rede stehenden Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (vgl. Urteil Lidl Belgium, Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Hierfür führt die belgische Regierung Gründe an, die sich auf die Notwendigkeit beziehen, sowohl die Kohärenz des belgischen Steuersystems als auch die ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten sicherzustellen.
37 So sei erstens das System des Abzugs für Risikokapital vollkommen ausgewogen, und es bestehe ein direkter, persönlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen dem im Verhältnis zu den Aktiva berechneten Steuervorteil und der Besteuerung der durch diese Aktiva entstehenden Einkünfte.
38 Dieser Zusammenhang sei mit jenem vergleichbar, der zwischen den abzugsfähigen Zinsen für einen Kredit, der zum Erwerb eines Vermögensgegenstands bestimmt sei, und dem durch diesen Vermögensgegenstand erzeugten Steuervorteil bestehe, da das Gesetz, das den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Abzug geschaffen habe, laut seiner Begründung zum Ziel habe, das Eigenkapital in steuerlicher Hinsicht in gleicher Weise wie die Kredite zu behandeln. Obwohl der Abzug für Risikokapital pauschal im Verhältnis zum Eigenkapital der Gesellschaft und nicht anteilig zu den steuerpflichtigen Gewinnen dieser Gesellschaft berechnet werde, solle der für den Abzug ermittelte Betrag den Zinsen entsprechen, die die Gesellschaft gezahlt hätte, wenn sie einen Kredit hätte aufnehmen müssen, um die mit Eigenkapital erworbenen Vermögenswerte zu bilden.
39 Zweitens übe das Königreich Belgien durch die Entscheidung, die Aktiva einer in einem von ihm verschiedenen Mitgliedstaat gelegenen Betriebsstätte, deren Gewinne in Belgien nicht steuerpflichtig seien, nicht zu berücksichtigen, seine Steuerhoheit unter Einhaltung des Territorialitätsprinzips und gemäß der Aufteilung der Steuerbefugnisse, entsprechend dem belgisch-niederländischen Abkommen, aus.
40 Die Möglichkeit, die buchmäßigen oder außerbuchmäßigen Aufwendungen im Zusammenhang mit den einer Betriebsstätte zugeordneten Aktiva und Passiva zu berücksichtigen und die Abzüge für diese Aktiva oder Passiva zu gewähren, sei Sache des Mitgliedstaats, dem das Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung das Recht auf Besteuerung der Gewinne der Betriebsstätte einräume. Eine derartige, durch das belgisch-niederländische Abkommen geschaffene Aufteilung entspreche im Übrigen dem von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ausgearbeiteten Musterabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen.
41 Zum ersten von der belgischen Regierung geltend gemachten Rechtfertigungsgrund ist festzustellen, dass der Gerichtshof bereits anerkannt hat, dass die Notwendigkeit, die Kohärenz eines Finanzsystems zu bewahren, eine Beschränkung der Ausübung der durch den Vertrag gewährleisteten Verkehrsfreiheiten rechtfertigen kann (Urteile vom , Bachmann, C-204/90, Slg. 1992, I-249, Randnr. 28, vom , Manninen, C-319/02, Slg. 2004, I-7477, Randnr. 42, vom , Keller Holding, C-471/04, Slg. 2006, I-2107, Randnr. 40, und vom , Papillon, C-418/07, Slg. 2008, I-8947, Randnr. 43).
42 Ein auf diesen Rechtfertigungsgrund gestütztes Argument kann jedoch nach ständiger Rechtsprechung nur Erfolg haben, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem betreffenden steuerlichen Vorteil und dessen Ausgleich durch eine bestimmte steuerliche Belastung besteht (Urteile Manninen, Randnr. 42, und Keller Holding, Randnr. 40), wobei die Unmittelbarkeit dieses Zusammenhangs im Hinblick auf das mit der fraglichen Regelung verfolgte Ziel beurteilt werden muss (Urteile Manninen, Randnr. 43, und vom Deutsche Shell, C-293/06, Slg. 2008, I-1129, Randnr. 39, und Papillon, Randnr. 44).
43 Wie in Randnr. 24 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, besteht der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Steuervorteil in der Möglichkeit, für die Berechnung des Abzugs für Risikokapital die einer Betriebsstätte zugeordneten Aktiva zu berücksichtigen.
44 Dieser Vorteil, der bewirkt, dass der tatsächliche Körperschaftsteuersatz, dem das Stammhaus unterliegt, reduziert wird, wird im Ausgangsverfahren durch keine bestimmte steuerliche Belastung ausgeglichen.
45Zwar wird dieser Vorteil nur gewährt, wenn die von der Betriebsstätte erwirtschafteten Gewinne in Belgien steuerpflichtig sind.
46 Jedoch besteht kein unmittelbarer Zusammenhang im Sinne der in Randnr. 42 des vorliegenden Urteils erwähnten Rechtsprechung zwischen dem unter Berücksichtigung der Aktiva berechneten steuerlichen Vorteil und der Besteuerung der durch diese erzielten Erträge.
47 Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung verlangt nämlich nur, dass von der genannten Betriebsstätte eventuell erzielte Einkünfte in Belgien steuerpflichtig sind, macht aber den in Rede stehenden Vorteil weder davon abhängig, dass tatsächlich Gewinne erzielt werden, noch, dass diese tatsächlich besteuert werden. Folglich erlaubt das betreffende System, dass die Aktiva einer Betriebsstätte, wenn deren Einkünfte in Belgien steuerpflichtig sind, diese Betriebsstätte aber keine Einkünfte erzielt hat, für die Berechnung des auf das Stammhaus angewandten Abzugs berücksichtigt werden.
48 Wird in einem Besteuerungszeitraum, für den ein Abzug für Risikokapital möglich ist, kein Gewinn erzielt, wird zudem die Befreiung nach Art. 205quinquies WIB 1992 schrittweise auf die Gewinne der folgenden sieben Jahre übertragen.
49 Folglich kann die Nichtberücksichtigung der Aktiva der in einem anderen Mitgliedstaat als dem Königreich Belgien gelegenen Betriebsstätten, deren Einkünfte in Belgien gemäß eines Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von der Steuer befreit sind, nicht mit der Notwendigkeit gerechtfertigt werden, die Kohärenz des nationalen Steuersystems sicherzustellen.
50 Zum zweiten von der belgischen Regierung geltend gemachten Rechtfertigungsgrund ist festzustellen, dass die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten ein vom Gerichtshof anerkanntes legitimes Ziel ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Marks & Spencer, C-446/03, Slg. 2005, I-10837, Randnr. 45, vom , N, C-470/04, Slg. 2006, I-7409, Randnr. 42, vom , Oy AA, C-231/05, Slg. 2007, I-6373, Randnr. 51, und Lidl Belgium, Randnr. 31). Zudem bleiben die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung in Ermangelung unionsrechtlicher Vereinheitlichungs- oder Harmonisierungsmaßnahmen befugt, insbesondere zur Beseitigung der Doppelbesteuerung die Kriterien für die Aufteilung ihrer Steuerhoheit vertraglich oder einseitig festzulegen (Urteile vom , Kommission/Italien, C-540/07, Slg. 2009, I-10983, Randnr. 29, und vom , National Grid Indus, C-371/10, Slg. 2011, I-12273, Randnr. 45).
51 Jedoch kann der Umstand, dass ein Mitgliedstaat in einem mit einem anderen Mitgliedstaat geschlossenen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung vereinbart hat, dass die Gewinne einer in diesem anderen Mitgliedstaat gelegenen Betriebsstätte allein in diesem anderen Mitgliedstaat steuerpflichtig sind, und folglich der erste Mitgliedstaat seine Steuerbefugnis nicht in Bezug auf die Gewinne der genannten Betriebsstätte ausüben kann, nicht systematisch jede Weigerung rechtfertigen, dem in diesem ersten Mitgliedstaat niedergelassenen Stammhaus der Betriebsstätte einen Vorteil zu gewähren.
52 Eine solche Weigerung liefe darauf hinaus, eine unterschiedliche Behandlung allein mit der Begründung zu rechtfertigen, dass eine in einem Mitgliedstaat gelegene Gesellschaft eine grenzüberschreitende wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet habe, die dem Mitgliedstaat keine Steuereinnahmen verschaffen könne (vgl. in diesem Sinne Urteile Marks & Spencer, Randnr. 40, und vom , Rewe Zentralfinanz, C-347/04, Slg. 2007, I-2647, Randnr. 43).
53 Dagegen kann nach der Rechtsprechung die Notwendigkeit der Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten insbesondere dann als Rechtfertigung anerkannt werden, wenn mit der betreffenden Regelung Verhaltensweisen verhindert werden sollen, die das Recht eines Mitgliedstaats auf Ausübung seiner Steuerhoheit für die in seinem Hoheitsgebiet durchgeführten Tätigkeiten gefährden können (vgl. Urteile Oy AA, Randnr. 54, vom , Amurta, C-379/05, Slg. 2007, I-9569, Randnr. 58, vom , Aberdeen Property Fininvest Alpha, C-303/07, Slg. 2009, I-5145, Randnr. 66, vom , Kommission/Deutschland, C-284/09, Slg. 2011, I-9879, Randnr. 77, und vom , Santander Asset Management SGIIC u. a., C-338/11 bis C-347/11, Randnr. 47).
54 So hat der Gerichtshof entschieden, dass damit insbesondere die Ausgewogenheit zwischen dem Recht der Besteuerung der Gewinne und der Möglichkeit, die Verluste einer Betriebsstätte abzuziehen, sichergestellt werden soll, da die Erlaubnis, die Verluste einer nicht gebietsansässigen Betriebsstätte von den Einkünften des Stammhauses abzuziehen, zur Folge hätte, dass das Stammhaus den Mitgliedstaat, in dem es solche Verluste geltend macht, frei wählen könnte (vgl. in diesem Sinne Urteile Oy AA, Randnr. 56, und Lidl Belgium, Randnr. 34).
55 Wie aber der Generalanwalt in Nr. 63 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, würde die Gewährung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Steuervorteils weder dem Mitgliedstaat, in dem das Stammhaus niedergelassen ist, noch dem Mitgliedstaat, in dem die Betriebsstätte liegt, das Recht auf Ausübung ihrer Besteuerungsbefugnis in Bezug auf die in ihrem Gebiet verwirklichten Tätigkeiten nehmen und würde auch keine Verlagerung von Einkünften, die normalerweise in einem dieser Mitgliedstaaten steuerpflichtig wären, in den anderen Mitgliedstaat nach sich ziehen.
56 Was schließlich das Argument der belgischen Regierung anbelangt, dass der steuerliche Abzug von Kreditzinsen, die für die Anschaffung von Aktiva einer Betriebsstätte aufgewandt worden seien, und die Berücksichtigung des einer Betriebsstätte gewährten Eigenkapitals gleich behandelt werden müssten, ist festzustellen, dass die belgische Regierung selbst den Pauschalcharakter des Abzugs für Risikokapital zugibt, der im Verhältnis zum Eigenkapital der betreffenden Gesellschaft berechnet wird und nicht anteilig zu den steuerlichen Gewinnen, die durch deren Aktiva erzielt werden.
57 Daher kann die belgische Regierung nicht behaupten, dass das belgisch-niederländische Abkommen und insbesondere dessen Bestimmungen über die Ermittlung der Gewinne einer Betriebsstätte und der diesbezüglichen Berücksichtigung von Ausgaben, die für von dieser Betriebsstätte verfolgte Ziele getätigt wurden, bei der Berechnung des Abzugs für Risikokapital der Berücksichtigung von Aktiva entgegenstehen, die einer Betriebsstätte zugeordnet sind, deren Einkünfte gemäß diesem Abkommen in Belgien nicht steuerpflichtig sind.
58 Somit kann die von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung geschaffene Beschränkung nicht mit der Notwendigkeit gerechtfertigt werden, die ausgewogene Aufteilung der Steuerbefugnisse zwischen den Mitgliedstaaten sicherzustellen.
59 Nach alledem ist die Vorlagefrage dahin zu beantworten, dass Art. 49 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach bei der Berechnung des Abzugs, der einer in einem Mitgliedstaat unbeschränkt steuerpflichtigen Gesellschaft gewährt wird, der Nettowert der Aktiva einer in einem anderen Mitgliedstaat gelegenen Betriebsstätte nicht berücksichtigt wird, wenn die Gewinne dieser Betriebsstätte im ersten Mitgliedstaat gemäß einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung nicht steuerpflichtig sind, wohingegen die Aktiva, die einer in diesem ersten Mitgliedstaat gelegenen Betriebsstätte zugeordnet sind, für diesen Abzug berücksichtigt werden.
Kosten
60 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach bei der Berechnung des Abzugs, der einer in einem Mitgliedstaat unbeschränkt steuerpflichtigen Gesellschaft gewährt wird, der Nettowert der Aktiva einer in einem anderen Mitgliedstaat gelegenen Betriebsstätte nicht berücksichtigt wird, wenn die Gewinne dieser Betriebsstätte im ersten Mitgliedstaat gemäß einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung nicht steuerpflichtig sind, wohingegen die Aktiva, die einer in diesem ersten Mitgliedstaat gelegenen Betriebsstätte zugeordnet sind, für diesen Abzug berücksichtigt werden.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2013:447
Fundstelle(n):
HAAAF-82829