Kindergeld: Fahrtaufwendungen im Rahmen eines Ausbildungsdienstverhältnisses; Ausbildungsbetrieb als regelmäßige Arbeitsstätte
Leitsatz
1. Ist ein Auszubildender im Rahmen eines Ausbildungsdienstverhältnisses, aus dem er Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit erzielt, dem Ausbildungsbetrieb zugeordnet und sucht er diesen fortdauernd auf, um dort seine für den Ausbildungszweck zentralen Tätigkeiten zu erbringen, so ist der Ausbildungsbetrieb regelmäßige Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 1 EStG in der bis Ende 2013 geltenden Fassung.
2. Allein der Umstand, dass ein Ausbildungsdienstverhältnis regelmäßig zeitlich befristet ist, reicht nicht aus, um dem Ausbildungsbetrieb die Qualifikation als regelmäßige Arbeitsstätte zu versagen.
3. Fahrtkosten von Auszubildenden zu einem derartigen Ausbildungsbetrieb sind daher nur mit der Entfernungspauschale des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 2 EStG in der bis Ende 2013 geltenden Fassung als Werbungskosten zu berücksichtigen.
Gesetze: EStG § 32 Abs. 4 Satz 2 (in der bis Ende 2011 geltenden Fassung)EStG § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1EStG § 9 Abs. 1 Satz 1, Satz 3 Nr. 4 (in der bis Ende 2013 geltenden Fassung)
Instanzenzug: (EFG 2014, 53) (Verfahrensverlauf),
Gründe
I.
1 Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Vater eines im Juli 1990 geborenen Sohnes (S). S absolvierte im Jahr 2011 eine betriebliche Ausbildung. Hieraus erzielte er Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit, die sich nach Abzug der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung auf 9.563,89 € beliefen. Im Streitzeitraum Januar 2011 bis Dezember 2011 fuhr S an 169 Tagen zum Ausbildungsbetrieb (einfache Entfernung 12 km) und an 51 Tagen zur Berufsschule (einfache Entfernung 22 km). Ferner leistete er einen Gewerkschaftsbeitrag in Höhe von 100,68 €.
2 Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) hob die zu Gunsten des Klägers erfolgte Kindergeldfestsetzung für S mit Bescheid vom von Januar bis Dezember 2011 auf und forderte das bereits ausgezahlte Kindergeld in Höhe von 2.280 € vom Kläger zurück. Den dagegen gerichteten Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom als unbegründet zurück. Dabei ging die Familienkasse davon aus, dass die Einkünfte des S den Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG) überschritten hätten. Insofern setzte sie die Fahrten zum Ausbildungsbetrieb mit der Entfernungspauschale (169 Tage x 12 km x 0,30 € = 608,40 €) und die Fahrten zur Berufsschule nach Dienstreisegrundsätzen (51 Tage x 44 km x 0,30 € = 673,20 €) an.
3 Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2014, 53 veröffentlichten Gründen statt.
4 Mit der hiergegen gerichteten Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.
5 Die Familienkasse beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
6 Der Kläger beantragt sinngemäß, die Revision zurückzuweisen.
7 Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
II.
8 Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Ausbildungsbetrieb des S nicht als regelmäßige Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 1 EStG anzusehen ist.
9 Für ein Kind, das das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat und sich in Ausbildung befindet, besteht nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ein Anspruch auf Kindergeld nur, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 8.004 € im Kalenderjahr hat. Der Begriff der Einkünfte entspricht dem in § 2 Abs. 2 EStG gesetzlich definierten Begriff und ist je nach Einkunftsart als Gewinn oder als Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten zu verstehen. Erzielt das Kind Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, sind daher von den Bruttoeinnahmen die Werbungskosten abzuziehen (ständige Rechtsprechung, z.B. , BFH/NV 2010, 200, und vom III R 33/12, BFHE 240, 107, BStBl II 2013, 1035).
10 a) Zu Recht ist das FG davon ausgegangen, dass S im Streitzeitraum Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG) bezog. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) stellen sowohl Vergütungen aus einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis, welches der Ausbildung des betreffenden Leistungsempfängers dient, als auch Ausbildungsvergütungen aus einem privatrechtlichen Ausbildungsdienstverhältnis steuerrechtlich Arbeitslohn dar (s. im Einzelnen , BFHE 144, 237, BStBl II 1985, 644, m.w.N.). S befand sich in einem privatrechtlichen Ausbildungsdienstverhältnis.
11 b) aa) Werbungskosten i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG sind Aufwendungen, die objektiv durch die berufliche Tätigkeit veranlasst sind und die subjektiv zur Förderung des Berufs getätigt werden. Diese Voraussetzungen können auch bei berufsbezogenen Bildungsmaßnahmen erfüllt sein (, BFHE 235, 444, BStBl II 2012, 825). Zu den Werbungskosten können auch Fahrtkosten gehören. Sie sind grundsätzlich in tatsächlicher Höhe zu berücksichtigen, soweit der Arbeitnehmer nicht von der in H 9.5 des Amtlichen Lohnsteuerhandbuchs 2011 vorgesehenen Pauschale (0,30 € je Fahrtkilometer) Gebrauch macht. Fahrtkosten sind jedoch nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG nur nach den Regeln über die Entfernungspauschale zu berücksichtigen, soweit es sich um Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte handelt. In diesem Fall sind pro Entfernungskilometer zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte grundsätzlich 0,30 € anzusetzen (z.B. , BFHE 236, 431, BStBl II 2013, 234, und vom VI R 65/11, BFH/NV 2013, 517).
12 bb) Regelmäßige Arbeitsstätte im Sinne dieser Vorschrift ist (nur) der (ortsgebundene) Mittelpunkt der dauerhaft angelegten beruflichen Tätigkeit des Arbeitnehmers und damit der Ort, an dem der Arbeitnehmer seine aufgrund des Dienstverhältnisses geschuldete Leistung zu erbringen hat (, BFHE 234, 164, BStBl II 2012, 38, m.w.N.). Dies ist im Regelfall der Betrieb oder eine Betriebsstätte des Arbeitgebers, der der Arbeitnehmer zugeordnet ist und die er nicht nur gelegentlich, sondern mit einer gewissen Nachhaltigkeit, also fortdauernd und immer wieder aufsucht (BFH-Urteil in BFHE 234, 164, BStBl II 2012, 38, m.w.N). Eine vom Arbeitnehmer besuchte arbeitgeberfremde Bildungseinrichtung stellt keine regelmäßige Arbeitsstätte in diesem Sinne dar (BFH-Urteile in BFHE 236, 431, BStBl II 2013, 234; vom VI R 42/11, BFHE 236, 439, BStBl II 2013, 236; Senatsurteil vom III R 64/11, BFHE 239, 355, BStBl II 2013, 914). Entsprechend kann auch eine Ausbildungsstätte im Rahmen eines Dienstverhältnisses bei beruflichen Lehrgängen, Ausbildungsverhältnissen, Abordnungen oder Fortbildungsmaßnahmen den Charakter einer regelmäßigen Arbeitsstätte haben, wenn es sich um eine betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers handelt und der Arbeitnehmer diese dauerhaft, d.h. über einen längeren Zeitraum, aufsucht (Bergkemper in Herrmann/ Heuer/Raupach —HHR—, § 9 EStG Rz 453). Eine andere Beurteilung kommt nur in Betracht, wenn eine beruflich veranlasste Bildungsmaßnahme außerhalb eines Dienstverhältnisses durchgeführt wird (HHR/Bergkemper, § 9 EStG Rz 453).
13 c) aa) Im Streitfall ist das FG hinsichtlich der Fahrten zwischen der Wohnung des S und dem Ausbildungsbetrieb zu Unrecht davon ausgegangen, dass hierfür die tatsächlichen Kosten oder mangels Einzelnachweis die Pauschale von 0,30 € pro gefahrenem Kilometer anzusetzen seien. Denn der Ausbildungsbetrieb stellte eine betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers dar, der S durch seinen Ausbildungsvertrag zugeordnet war und in der er über einen längeren Zeitraum —jedenfalls die gesamte Dauer seines Ausbildungsverhältnisses— fortdauernd und immer wieder seine durch den Ausbildungscharakter geprägte berufliche Leistung gegenüber seinem Arbeitgeber zu erbringen hatte (vgl. BFH-Urteil in BFHE 234, 164, BStBl II 2012, 38, m.w.N.). Die Ausbildung im Ausbildungsbetrieb bildete auch den Kern des gesamten Ausbildungsverhältnisses, so dass sich der Ausbildungsbetrieb als ortsgebundener Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit des S darstellte (s. hierzu BFH-Urteil in BFHE 234, 164, BStBl II 2012, 38, m.w.N.).
14 bb) Entgegen der Auffassung des FG ergibt sich nichts anderes aus den Urteilen des VI. Senats des (BFHE 240, 125, BStBl II 2013, 449) und in BFHE 236, 431, BStBl II 2013, 234. Diesen Urteilen lagen Sachverhalte zugrunde, die mit der vorliegend zu entscheidenden Fallkonstellation nicht vergleichbar sind.
15 Die erstgenannte Entscheidung behandelte Fahrtaufwendungen eines Studenten, der ein Fachstudium durchführte, welches zwei praktische Studiensemester in einem Betrieb umfasste. Hier kam der BFH zu dem Ergebnis, dass die Fahrten zum Betrieb keine solchen zu einer regelmäßigen Arbeitsstätte darstellen, weil die Hochschule während der praktischen Studiensemester wegen des fortbestehenden Studentenstatus Mittelpunkt der Tätigkeit bleibt. Ausdrücklich wies der BFH darauf hin, dass sich das streitgegenständliche Hochschulstudium von einem herkömmlichen Ausbildungsverhältnis, in dessen Rahmen der Steuerpflichtige bereits Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit erzielt, unterscheidet.
16 In dem zweiten Fall war die Frage zu entscheiden, ob eine Steuerpflichtige, die bereits ein Studium abgeschlossen hatte, Fahrtkosten zur Hochschule, die im Rahmen eines später begonnenen weiteren Studiums angefallen waren, als vorab entstandene Werbungskosten aus nichtselbständiger Arbeit geltend machen konnte. Insoweit stellte der BFH zum einen darauf ab, dass solche außerhalb eines Arbeitsverhältnisses stattfindende Bildungsmaßnahmen regelmäßig vorübergehend und nicht auf Dauer angelegt sind und der Arbeitnehmer typischerweise nicht die Möglichkeit hat, durch die Bildung von Fahrgemeinschaften, die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln und ggf. durch eine entsprechende Wohnsitznahme seine Wegekosten gering zu halten. Zum anderen wies er darauf hin, dass eine regelmäßige Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG nur im Rahmen bezahlter Arbeit in Betracht kommt.
17 Demgegenüber fand im Streitfall die Ausbildung in einem herkömmlichen Ausbildungsdienstverhältnis statt, in dessen Rahmen S bereits Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit erzielte. Zudem ist ein der betrieblichen Ausbildung dienendes Arbeitsverhältnis —wie das, in dem sich S befand— auch nicht typischerweise vorübergehend, weil es sich häufig nach Ausbildungsende in einem regulären Arbeitsverhältnis im selben Betrieb fortsetzt.
18 cc) Im Übrigen hat der VI. Senat dem zeitlichen Umfang einer Tätigkeit und dem Umstand, dass es sich um eine befristete Tätigkeit handelt, dann maßgebliche Bedeutung beigemessen, wenn eine Abgrenzung zwischen einer Tätigkeit am bisherigen Tätigkeitsmittelpunkt und einer —insbesondere nach einer Versetzung oder Abordnung stattfindenden— Tätigkeit an einem neuen Tätigkeitsort vorzunehmen war (, BFH/NV 2014, 308; VI R 72/12, BFHE 242, 358, BStBl II 2014, 68, und VI R 59/12, BFHE 242, 354, BStBl 2014, 66). Diese Abgrenzung lässt sich hingegen nicht auf die sich hiervon unterscheidende Frage übertragen, ob ein Ausbildungsdienstverhältnis allein deshalb als nicht dauerhaft anzusehen ist, weil es üblicherweise auf zwei bis vier Jahre befristet ist. Der erkennende Senat kann § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG keinen Anhaltspunkt dafür entnehmen, dass ein Auszubildender im Ausbildungsbetrieb nicht seine regelmäßige Arbeitsstätte hat, obwohl er diesem Ausbildungsbetrieb für die gesamte Ausbildungszeit zugewiesen ist, dort für mehrere Jahre immer wieder tätig wird und seine für das Ausbildungsverhältnis zentralen Leistungen erbringt. Auch nach neuem Recht (§ 9 Abs. 4 Satz 3 EStG i.d.F. des Gesetzes zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts vom , BGBl I 2013, 285) ist von einer dauerhaften Zuordnung zu einer Tätigkeitsstätte u.a. dann auszugehen, wenn der Arbeitnehmer „für die Dauer des Dienstverhältnisses” an dieser Tätigkeitsstätte tätig werden soll.
19 d) Die von der Familienkasse durchgeführte Berechnung, wonach die Fahrten des S zum Ausbildungsbetrieb nur mit der Entfernungspauschale anzusetzen sind, ist daher nicht zu beanstanden. Ein Kindergeldanspruch des Klägers für S wird folglich im Streitzeitraum durch § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ausgeschlossen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BStBl 2015 II Seite 27
BB 2014 S. 1237 Nr. 21
BFH/NV 2014 S. 1140 Nr. 7
BFH/PR 2014 S. 260 Nr. 8
BStBl II 2015 S. 27 Nr. 1
DB 2014 S. 1122 Nr. 20
DB 2014 S. 6 Nr. 20
DStR 2014 S. 1052 Nr. 21
DStR 2014 S. 8 Nr. 20
DStRE 2014 S. 825 Nr. 13
EStB 2014 S. 203 Nr. 6
FR 2015 S. 98 Nr. 2
GStB 2014 S. 34 Nr. 9
HFR 2014 S. 621 Nr. 7
KÖSDI 2014 S. 18878 Nr. 6
NJW 2014 S. 10 Nr. 22
NWB-Eilnachricht Nr. 21/2014 S. 1552
StB 2014 S. 174 Nr. 6
StBW 2014 S. 403 Nr. 11
StBW 2014 S. 453 Nr. 12
AAAAE-64190