Bekanntgabewille des FA bei versehentlicher elektronischer
Bescheidfreigabe
Verböserung bei Einspruch gegen
Änderungsbescheid
Änderung wegen neuer Tatsachen bei endgültiger
Veranlagung trotz bekannter Unvollständigkeit der erklärten
Besteuerungsgrundlagen
Leitsatz
1. Die wirksame Bekanntgabe eines
Bescheids durch eine Finanzbehörde setzt einen durch einen zuständigen, die
Finanzbehörde repräsentierenden Bediensteten (z. B. Sachbearbeiter,
Sachgebietsleiter, Vorsteher) gebildeten Bekanntgabewillen voraus. Für die
Frage, ob ein zuständiger Bediensteter den Bekanntgabewillen gebildet hat,
kommt es nicht darauf an, ob dieser aufgrund der behördeninternen
Zuständigkeitsregelung für den betreffenden Fall zuständig war. Daher ist von
einem Bekanntgabewillen und einer wirksamen Bekanntgabe auszugehen, wenn der
Amtsvorsteher in seiner Eigenschaft als Sachgebietsleiter der
Rechtsbehelfsstelle bei der Bearbeitung eines Einspruchs für ein Vorjahr im
EDV-System des FA versehentlich infolge Fahrlässigkeit durch Klicken auf die
Schaltfläche „Schließen” nicht nur die vom Einspruch erfasste
Veranlagung des Vorjahres, sondern auch die vom Veranlagungssachbearbeiter
zwischengespeicherten, vom Einspruch nicht erfassten
Einkommensteuerveranlagungsdaten des Streitjahres freigegeben, dadurch
unabsichtlich einen bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid für das
Streitjahr erlassen und den mangelnden Bekanntgabewillen dem Empfänger auch
nicht vor Zugang des Bescheids mitgeteilt hat.
2. Hat das FA den unter 1.
versehentlich erlassenen, tatsächlich aber wirksamen Bescheid später zu Unrecht
als nichtig erklärt und gleichzeitig einen aus seiner Sicht erstmaligen
Bescheid unter Vorbehalt der Nachprüfung erlassen, so ist dieser spätere
Bescheid als Änderungsbescheid zu behandeln; im Rahmen des Einspruchsverfahrens
gegen diesen Änderungsbescheid ist das FA bei Erfüllung der Voraussetzungen
einer Änderungsvorschrift (hier: neue Tatsachen nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO) zu
einer Verböserung berechtigt.
3. War dem FA bei Erlass eines
Einkommensteuerbescheids aufgrund des Vorliegens von Veräußerungsanzeigen
bekannt, dass die Klägerin im Streitjahr ein unbebautes Grundstück erworben,
mit zwei Wohnungen bebaut und eine Wohnung im Streitjahr verkauft hat hat,
konnte das FA aufgrund dieser Angaben aber nicht feststellen, ob und in welcher
Höhe daraus steuerpflichtige Einkünfte entstanden sind und unter welche
Einkunftsart diese ggf. zu subsumieren sind, und hat es gleichwohl eine
endgültige Veranlagung ohne Ansatz von Einkünften aus dem Grundstücksgeschäft
durchgeführt, so ist das FA trotz der fahrlässig unterbliebenen weiteren
Sachverhaltsaufklärung später zu einer Änderung des bestandskräftigen Bescheids
nach § 173 Abs.1 Nr. 1 AO und der nachträglichen Besteuerung des
Grundstücksgeschäfts berechtigt, wenn die Steuerpflichtige ihrerseits hierzu in
der Steuererklärung falsche bzw. unvollständige Angaben gemacht hat und ihr
deswegen ebenfalls eine erhebliche Pflichtverletzung anzulasten ist.
Fundstelle(n): EFG 2012 S. 1711 Nr. 18 TAAAE-12827
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