Festsetzungsfrist und Feststellungsfrist keine wiedereinsetzungsfähige Fristen gemäß § 110 AO; § 181 Abs. 5 Satz 1 AO keine eigenständige Änderungsvorschrift; Verletzung des rechtlichen Gehörs wegen nicht gewährter Akteneinsicht
Gesetze: AO § 110, AO § 169, AO § 181 Abs. 1, AO § 181 Abs. 5, EStG § 10d Abs. 3, FGO § 76, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 2, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, FGO § 116 Abs. 6
Instanzenzug:
Gründe
1 Die Beschwerde ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht —FG— (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Der vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) geltend gemachte Verfahrensmangel einer übergangenen Beweiserhebung liegt vor.
2 1. a) Zwar hat die (zumindest konkludent) aufgeworfene Rechtsfrage nach der Wiedereinsetzungsfähigkeit von Feststellungsfristen i.S. von § 169 i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) keine grundsätzliche Bedeutung i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO; denn sie ist durch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) geklärt. Danach gehört die (gesetzliche) Festsetzungsfrist i.S. des § 169 AO nicht zu den wiedereinsetzungsfähigen Fristen gemäß § 110 AO (vgl. , nicht veröffentlicht, juris; , BFH/NV 2009, 1602, unter II. 2., m.w.N.; a.A. ohne Begründung: Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 171 AO Rz 19; Hartmann in Beermann/Gosch, AO § 171 Rz 17); Gleiches gilt für die (gesetzliche) Feststellungsfrist (s.a. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO).
3 b) Auch ist eine Entscheidung des BFH zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO) nicht erforderlich. Denn im Streitfall ist die gerügte Divergenz nicht gegeben. Vielmehr hat das FG auf der Basis der auch vom Kläger zitierten BFH-Rechtsprechung entschieden, dass § 181 Abs. 5 Satz 1 AO keine eigenständige Änderungsvorschrift, sondern nur anwendbar ist, wenn zusätzlich die Voraussetzungen einer Änderungsvorschrift erfüllt sind (vgl. , BFHE 193, 392, BStBl II 2001, 156). Zwar reicht eine nur mittelbare Bedeutung des Feststellungsbescheids für spätere Veranlagungen und Feststellungen aus (vgl. , BFHE 198, 395, BStBl II 2002, 681; vom XI R 65/05, BFHE 214, 492, BStBl II 2007, 921; zuletzt , juris); indes liegen die Voraussetzungen einer Änderungsnorm, insbesondere des § 10d Abs. 3 Satz 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG), im Streitfall nicht vor. Denn nach den tatsächlichen Feststellungen des FG (vgl. § 118 Abs. 2 FGO) haben sich die zu berücksichtigenden Beträge i.S. von § 10d Abs. 3 Satz 4 EStG mangels Verwirklichung eines Auflösungsverlustes nicht geändert. Auch hinsichtlich des Zeitpunkts der Verlustrealisierung ist keine Abweichung gegeben, zumal weder eine Divergenz in der Würdigung von Tatsachen noch die (angeblich) fehlerhafte Umsetzung von Rechtsprechungsgrundsätzen auf die Besonderheiten des Einzelfalls noch schlichte Subsumtionsfehler des FG ausreichen (vgl. BFH-Beschlüsse vom VIII B 70/07, BFH/NV 2008, 380; vom VIII B 160/05, BFH/NV 2006, 1477, m.w.N.). Denn das FG ist vorliegend unter Beachtung der einschlägigen BFH-Rechtsprechung zu dem Ergebnis gelangt, dass der geltend gemachte Auflösungsverlust jedenfalls „nicht im (Streit-)Jahr 1997” entstanden ist; dies wäre auch revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
4 c) Auch der gerügte Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) der Verletzung des rechtlichen Gehörs in Gestalt der Ablehnung eines Vertagungsantrags zur Gewährung von Akteneinsicht ist nicht gegeben. Das FG hat zutreffend erkannt, dass ein erheblicher Grund i.S. von § 227 Abs. 1 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 FGO nicht vorlag. Durch eine nicht gewährte Akteneinsicht wird das rechtliche Gehör nur verletzt, wenn die Akteneinsicht ausdrücklich verweigert worden ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom I B 233/04, BFH/NV 2005, 2216; vom II B 100/05, BFH/NV 2007, 79). Das FG hat die besagte Akteneinsicht nicht verwehrt; vielmehr wäre die Akteneinsicht dem Kläger vor der mündlichen Verhandlung wie auch im Wege ihrer —vom FG ausdrücklich angebotenen— Unterbrechung möglich gewesen.
5 2. Das FG hat aber die ihm obliegende Pflicht zur Sachaufklärung dadurch verletzt, dass es den angebotenen Zeugenbeweis nicht erhoben hat.
6 Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Es ist dabei zwar an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 76 Abs. 1 Satz 5 FGO). Von den Verfahrensbeteiligten angebotene Beweise muss das FG aber grundsätzlich erheben, will es einen Verfahrensmangel vermeiden. Auf die beantragte Beweiserhebung kann es im Regelfall nur verzichten, wenn es auf das Beweismittel für die Entscheidung nicht ankommt oder das Gericht die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsachen zugunsten der betreffenden Partei unterstellt oder das Beweismittel nicht erreichbar ist (vgl. , BFH/NV 2007, 1089; Urteil vom II R 39/94, BFH/NV 1996, 757, m.w.N.).
7 Im Streitfall hat das FG den angebotenen Beweis weder erhoben noch sich mit ihm in seinem Urteil beschäftigt und ihn dadurch übergangen. Dabei ist unerheblich, ob der in der mündlichen Verhandlung gestellte (und protokollierte) Beweisantrag zur Vernehmung einer Zeugin im Hinblick auf den Nachweis des Zugangs der fraglichen Schreiben beim Beklagten und Beschwerdegegner (zur Feststellungslast s. BFH-Beschlüsse vom X R 17/00, BFH/NV 2001, 611; vom IX B 79/07, BFH/NV 2008, 22) hinreichend zielführend für den Zugang der Schreiben beim Beklagten ist.
8 3. Aufgrund des vorliegenden Verfahrensmangels wird das FG-Urteil ohne (weitere) sachliche Nachprüfung aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen (§ 116 Abs. 6 FGO). Das FG wird die unterlassene Vernehmung der benannten Zeugin nachzuholen oder aber hinreichend zu erklären haben, warum es der Beweiserhebung nicht bedarf, z.B. weil das Beweismittel für die Entscheidung unerheblich ist oder die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann (ständige Rechtsprechung, vgl. , BFH/NV 2007, 956; , BFH/NV 2004, 46). Sollte das FG den gestellten Beweisantrag für nicht hinreichend spezifiziert ansehen, wäre auf eine entsprechende Konkretisierung hinzuwirken.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2012 S. 176 Nr. 2
SAAAD-99024