Voraussetzungen für die Abzweigung des Kindergeldes an den Sozialleistungsträger bei vollstationärer Unterbringung eines behinderten, volljährigen Kindes
Leitsatz
1. Entstehen dem Kindergeldberechtigten für sein behindertes volljähriges Kind, das überwiegend auf Kosten des Sozialleistungsträgers vollstationär in einer Pflegeeinrichtung untergebracht ist, Aufwendungen mindestens in Höhe des Kindergeldes, ist das Ermessen der Familienkasse, ob und in welcher Höhe das Kindergeld an den Sozialleistungsträger abzuzweigen ist, eingeschränkt; ermessensgerecht ist allein die Auszahlung des vollen Kindergeldes an den Kindergeldberechtigten (Fortführung des Senatsurteils v. - III R 65/04, BStBl 2008 II S. 753).
2. Bei der Prüfung, ob Aufwendungen in Höhe des Kindergeldes entstanden sind, dürfen keine fiktiven Kosten für die Betreuung des Kindes, sondern nur tatsächlich entstandene Aufwendungen für das Kind berücksichtigt werden.
Vergleichbar .
Gesetze: EStG § 74 Abs. 1, FGO § 102
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Der im Jahr 1981 geborene, behinderte Sohn (S) der Beigeladenen war von Juli 2005 bis Mai 2006 vollstationär untergebracht und lebte seit Juni 2006 in einer therapeutischen Wohngemeinschaft. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) gewährte S seit Juli 2005 Eingliederungshilfe nach den §§ 53 ff. des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII). Die Beigeladene wurde seitdem zu einem Kostenbeitrag von monatlich 46 € (§ 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII) herangezogen.
Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) gewährte der Beigeladenen Kindergeld. Den Antrag des Klägers, das Kindergeld ab August 2005 an ihn abzuzweigen, lehnte die Familienkasse mit Bescheid vom ab. Eine Abzweigung sei nicht möglich, weil die Beigeladene in Höhe des monatlichen Kostenbeitrags Barunterhalt geleistet und deshalb ihre Unterhaltspflicht nicht verletzt habe. Der Einspruch des Klägers war erfolglos. In der Einspruchsentscheidung führte die Familienkasse aus, die Beigeladene habe S regelmäßig betreut und deshalb ihre Unterhaltspflicht nicht verletzt.
Im finanzgerichtlichen Verfahren trug die Familienkasse vor, die Ablehnung der beantragten Abzweigung sei ermessensgerecht, weil der Beigeladenen für Besuche bei S, gemeinsam verbrachte Urlaube und die Anschaffung von Gegenständen des täglichen Gebrauchs das Kindergeld übersteigende Aufwendungen entstanden seien. Die Aufwendungen hätten nach den Angaben der Beigeladenen im Zeitraum vom bis 1 995 € betragen.
Der Kläger beantragte vor dem Finanzgericht (FG), die Familienkasse zu verpflichten, das Kindergeld abzüglich des Kostenbeitrags ab August 2005 an ihn abzuzweigen. Das FG wies die Klage ab. Es führte im Wesentlichen aus, da die Beigeladene nicht für die laufenden Kosten der Unterbringung aufgekommen sei, habe sie ihre Unterhaltspflicht verletzt, so dass die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für eine Abzweigung dem Grunde nach erfüllt seien. Der die Abzweigung ablehnende Bescheid der Familienkasse sei zwar mangels Ermessensausübung rechtswidrig. Gleichwohl sei er nicht aufzuheben, weil aufgrund des Umfangs der von der Beigeladenen getragenen Aufwendungen allein die Ablehnung der Abzweigung ermessensfehlerfrei sei. Dabei könne dahinstehen, ob der Betreuungsaufwand gemäß der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes 63.3.6.3.2 Abs. 3 mit einem Stundensatz von 8 € zu bewerten sei. Denn auf eine genaue Berechnung komme es für die Ermessensausübung nicht zwingend an. Bei der Ermessensausübung könnten Betreuungsleistungen pauschal berücksichtigt werden und ein zeitlich geringer bis mittlerer Aufwand „mit der von der Abzweigung zu verschonenden Hälfte des Kindergeldes” bewertet werden. Da die Beigeladene S seit August 2005 an 7 Tagen betreut und an 8 weiteren Tagen mit einem Fahrtkostenaufwand von 50 bis 60 € besucht habe und außerdem für Freizeitaktivitäten, Lebensmittel, Renovierung, Kleidung und andere Gebrauchsgegenstände nachvollziehbar nicht weniger als 50 € im Durchschnitt monatlich für S ausgegeben habe, könne auch ohne genaue Ermittlung der gesamten Belastung ausgeschlossen werden, dass noch ein Rest von Kindergeld für eine Abzweigung verbleibe.
Mit seiner Revision trägt der Kläger im Wesentlichen vor, der Ablehnungsbescheid und die Einspruchsentscheidung seien mangels Ermessensausübung rechtswidrig. Entgegen der Auffassung des FG sei die volle Auszahlung des Kindergeldes an die Beigeladene nicht die allein ermessensgerechte Entscheidung. Die zusätzlichen Betreuungsaufwendungen gehörten zwar zum Mehrbedarf des vollstationär untergebrachten S, müssten jedoch bei der Ermittlung, welche Aufwendungen zur Deckung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs notwendig seien, außer Betracht bleiben. Der Kindergeldberechtigte leiste den erforderlichen Unterhalt durch den gesetzlich vorgesehenen Kostenbeitrag. Übernehme der Sozialleistungsträger mehr als die Hälfte der Kosten für die Pflegeeinrichtung, sei es ermessensgerecht, das Kindergeld abzüglich des Kostenbeitrags an den Sozialleistungsträger abzuzweigen. Der Klage sei daher unter Änderung des angefochtenen Urteils stattzugeben.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des FG sowie den Ablehnungsbescheid vom in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, das Kindergeld für S ab August 2005 in Höhe von 108 € an ihn abzuzweigen.
Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet und wird zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
Das FG hat die —die Abzweigung ablehnende— Entscheidung der Familienkasse im Ergebnis zu Recht bestätigt.
1. Nach zutreffender Entscheidung des FG liegen die Voraussetzungen für eine Abzweigung des Kindergeldes dem Grunde nach vor.
a) Nach § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 4 EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld nach § 66 Abs. 1 EStG auch an die Person oder Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der Kindergeldberechtigte seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt.
Die Beigeladene ist nach den §§ 1601 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) zur Gewährung von Unterhalt verpflichtet, da S sich nicht selbst unterhalten kann. Der Unterhaltsanspruch umfasst nach § 1610 Abs. 2 BGB den gesamten Lebensbedarf. Dazu gehört auch der krankheits- und behinderungsbedingte Mehrbedarf eines behinderten und dauernd pflegebedürftigen Kindes. Die Eingliederungshilfe mindert nicht die Bedürftigkeit des Kindes, da sie subsidiär ist und den Unterhaltspflichtigen nicht von seiner Verpflichtung befreien soll (Senatsurteil vom III R 65/04, BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753, m.w.N.). Der Unterhaltsanspruch des Kindes, für das Sozialleistungen gewährt werden, geht grundsätzlich nach § 94 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Höhe der geleisteten Aufwendungen auf den Sozialleistungsträger über.
Die Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung bleibt auch insoweit bestehen, als der Unterhaltsanspruch eines volljährigen behinderten oder pflegebedürftigen Kindes nach § 94 Abs. 2 Satz 1 SGB XII nur in Höhe eines Betrages von 46 € monatlich auf den Sozialleistungsträger übergeht. Denn diese Regelung hat nur zur Folge, dass der gesetzliche Übergang des Unterhaltsanspruchs auf den Sozialleistungsträger, soweit er den Betrag von 46 € monatlich überschreitet, ausgeschlossen ist, setzt also voraus, dass überhaupt ein Unterhaltsanspruch besteht (vgl. Senatsurteil in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753, m.w.N.).
b) Die Beigeladene ist ihrer gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht i.S. des § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG nachgekommen, da sie die laufenden Kosten für die vollstationäre Unterbringung von S —mit Ausnahme des Kostenbeitrags— nicht übernommen hat. Auf die Gründe der Nichterfüllung der Unterhaltspflicht kommt es nicht an (Senatsurteil in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753, m.w.N.).
2. Zu Recht ist das FG davon ausgegangen, dass die Familienkasse rechtsfehlerhaft keine Ermessensentscheidung getroffen hat.
Ob und in welcher Höhe das Kindergeld an eine andere Person oder Stelle abgezweigt wird, steht nach § 74 Abs. 1 EStG im Ermessen der Familienkasse („kann”). Die Familienkasse hat aber kein Ermessen ausgeübt, weil nach ihrer Auffassung die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 EStG für eine Abzweigung mangels Verletzung der Unterhaltspflicht nicht gegeben waren (sog. Ermessensnichtgebrauch).
3. Im Ergebnis zutreffend hat das FG auch angenommen, dass der Ablehnungsbescheid und die Einspruchsentscheidung trotz der Rechtswidrigkeit nicht aufzuheben sind, weil die Ablehnung der Abzweigung die einzig ermessensgerechte Entscheidung ist.
a) Ermessensentscheidungen der Familienkasse darf das FG nur auf Ermessensfehler überprüfen (§ 102 FGO). Stellt es einen Ermessensfehler fest, kann es deshalb nicht selbst Ermessen ausüben, sondern ist darauf beschränkt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben. Lediglich dann, wenn nur eine Entscheidung ermessensgerecht erscheint (sog. Ermessensreduzierung auf Null), ist das FG befugt, seine Entscheidung an die Stelle der Ermessensentscheidung der Familienkasse zu setzen (, BFHE 196, 572, BStBl II 2002, 201).
b) Bei der Ausübung des Ermessens ist der Zweck des Kindergeldes zu berücksichtigen (§ 5 der Abgabenordnung). Das Kindergeld dient der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums eines Kindes und, soweit es dafür nicht erforderlich ist, der Förderung der Familie (§ 31 Sätze 1 und 2 EStG).
Kein Kindergeld wird deshalb gewährt, wenn die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes den —am steuerlich zu belassenden Existenzminimum eines Erwachsenen orientierten— Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG übersteigen. In einem solchen Fall sind die Eltern in der Regel wirtschaftlich nicht mehr in einer Weise belastet, die eine Entlastung im Wege des Familienleistungsausgleichs erfordert (BTDrucks 13/1558, 164; vgl. auch , BFHE 192, 316, BStBl II 2000, 566, unter II. 1. c aa). Bei Einkünften und Bezügen des Kindes bis zur Höhe des Jahresgrenzbetrages wird dagegen typisierend eine Belastung der Eltern mit Unterhaltsaufwendungen unterstellt und daher unter den weiteren Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 EStG Kindergeld gewährt.
Hiervon abweichend hängt der Anspruch auf Kindergeld für ein volljähriges behindertes Kind davon ab, dass das Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG). Es wird typisierend davon ausgegangen, dass den Eltern Unterhaltsaufwendungen für das Kind entstehen, wenn dessen eigene finanzielle Mittel nicht seinen gesamten Lebensbedarf abdecken. Der Lebensbedarf eines behinderten Kindes besteht aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) in Höhe des Existenzminimums eines Erwachsenen, zu dem z.B. auch Kontakte zur Familie, Teilnahme am kulturellen Leben und Erholung gehören, und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf, der auch ergänzende persönliche Betreuungsleistungen der Eltern und Fahrtkosten umfasst (vgl. , BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75, unter II. 1. c d).
Da das Kindergeld die finanzielle Belastung der Eltern durch den Unterhalt für das Kind ausgleichen soll, hängt die Entscheidung über die Abzweigung davon ab, ob und in welcher Höhe ihnen —den Grund- und den behinderungsbedingten Mehrbedarf betreffende— Aufwendungen für das Kind entstanden sind. Dabei sind auch im Verhältnis zu den Kosten des Sozialleistungsträgers geringe Aufwendungen für das Kind miteinzubeziehen, nicht aber —wie das FG meint— fiktive Kosten für die Betreuung des Kindes. Zu berücksichtigen sind nur die den Eltern im Zusammenhang mit der Betreuung und dem Umgang mit dem Kind tatsächlich entstandenen und glaubhaft gemachten Aufwendungen.
c) Entstehen dem Kindergeldberechtigten Aufwendungen für das volljährige behinderte Kind mindestens in Höhe des Kindergeldes, kommt eine Abzweigung an den Sozialleistungsträger nicht in Betracht. Dies folgt mittelbar aus § 74 Abs. 1 Satz 3 Altern. 2 EStG. Danach kann Kindergeld auch abgezweigt werden, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht oder nur in Höhe eines unter dem Kindergeld liegenden Betrages unterhaltspflichtig ist. Hieraus schließt der Senat, dass eine Abzweigung ermessensfehlerhaft ist, wenn der Kindergeldberechtigte Unterhalt in Höhe des Kindergeldes oder darüber hinaus leistet (Senatsurteil in BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753, m.w.N.).
d) Nach den Feststellungen des FG entstanden der Beigeladenen Aufwendungen für S in Höhe von 50 bis 60 € monatlich für Fahrten, um S in der therapeutischen Einrichtung zu besuchen, sowie für Freizeitaktivitäten, Lebensmittel, Renovierung, Kleidung und andere Gebrauchsgegenstände in Höhe von nicht weniger als durchschnittlich 50 € im Monat. Diese Aufwendungen entsprachen zusammen mit dem Kostenbeitrag von 46 € betragsmäßig dem Kindergeld. Auch ohne Einbeziehung von fiktiven Kosten für die Betreuung des S ist daher die Ablehnung der Abzweigung die einzig ermessensgerechte Entscheidung.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1 i.V.m. § 135 Abs. 2 FGO. Für eine Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen i.S. von § 139 Abs. 4 FGO besteht kein Anlass. Die Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten und es ist auch nicht erkennbar, dass ihr besondere außergerichtliche Kosten entstanden sind (vgl. , BFH/NV 2002, 788, m.w.N).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2009 S. 1107 Nr. 7
LAAAD-22087